Die Ziele der USA
Der frühere Gorbatschow‑Berater Prof. Dr. habil. Wjatscheslaw
Daschitschew ist den Entwicklungen seit jeher voraus. Im Juni 1988 bezeichnete
er auf einer Pressekonferenz in der Sowjetbotschaft in Bonn die Berliner Mauer
als Relikt des Kalten Krieges, das verschwinden muss. Im April 1989 leitete er
der sowjetischen Führung eine Denkschrift für die Überwindung der deutschen
Teilung zu. Daschitschew war der Leiter der Abteilung für außenpolitische
Probleme im Rahmen der Akademie der Wissenschaften und Vorsitzender des
Wissenschaftlichen Konsultativen Beirats im Außenministerium. An der Freien
Universität Berlin, an der Universität München und an der Universität Mannheim
hatte er Gastprofessuren inne. In der National‑Zeitung warnt er vor den
Folgen der amerikanischen Europapolitik.
Das 20. Jahrhundert verloren
Ich verstoße nicht gegen die
Wahrheit, wenn ich sage, dass wir Europäer das ganze 20. Jahrhundert tragisch
verloren haben. Drei Weltkriege ‑ zwei "heiße" und ein
"kalter" ‑ erschütterten unseren Kontinent von Grund auf.
Hunderte Millionen Gefallene, Verwundete, Vergiftete, Gefolterte, Vertriebene,
Witwen und verwaiste Kinder, Abertausende in Trümmer und Asche verwandelte
Städte und Dörfer, die schonungslose Zerstörung des industriellen und
wissenschaftlichen Potenzials Europas, Militarisierung des Bewusstseins und des
Lebens der Völker, Argwohn, Feindschaft, geistige und ideologische
Verwilderung, die zum Totalitarismus führte, KZs und Gulags, der Verfall von
Moral und Sittlichkeit ‑ das waren schicksalhafte Begleiterscheinungen
der Entwicklung Europas im vorigen Jahrhundert. Die Pausen zwischen den Kriegen
wurden für die Vorbereitung neuer blutiger Konfrontationen genutzt. Ihnen
gingen immer wieder die Spaltungen Europas und die Schaffung von Trennungslinien
zwischen seinen Völkern voran. Eines der größten Übel Europas im 20.
Jahrhundert war die Spaltung der deutschen Nation im Herzen Europas und die
Verwandlung beider Teile Deutschlands in Protektorate der USA und der
Sowjetunion.
Es schien, als ob die Europäer
nach der Wiedervereinigung Deutschlands verstanden, was ihnen passierte, und
aus ihrer schrecklichen Vergangenheit richtige Lehren zogen. In der Pariser Charta
verkündeten sie im November 1990 das Ende des Kalten Krieges und ihren Willen,
ein friedliches, freies, demokratisches und einheitliches Europa zu schaffen.
Aber sehr bald gerieten die guten Prinzipien dieser Charta in Vergessenheit.
Die alten bösen Geister kehrten wieder in die europäische Wirklichkeit zurück.
Schuld daran sind die USA ‑ die außereuropäische Supermacht, die es
vermochte, aus dem 20. Jahrhundert als Gewinner hervorzugehen.
Die Ziele der USA
Aus der Schutzmacht, die
Europa im Kalten Krieg vor dem Zugriff der messianischen expansiven Politik der
sowjetischen Führung gerettet hatte, verwandelten sich die USA in einen Faktor
der Herrschaft über europäische Länder. Hauptinstrument ihrer Europapolitik
blieb weiter die NATO. Bald nach der Geburt dieses Bündnisses wurden ihm die
Zielsetzungen der USA auf die Fahnen geschrieben: die Amerikaner in Europa, die
Deutschen im Zaume und die Russen außerhalb Europas zu halten. Obwohl die
"Gefahr aus dem Osten" nach dem Zerfall der UdSSR dahinschwand,
ließen die Amerikaner diese Trias von Zielen ihrer Europapolitik in Kraft.
Die Stationierung amerikanischer
Truppen auf deutschem Boden symbolisiert die unveränderte Präsenz der USA in
Europa. Deutschland bleibt also ein quasiokkupiertes Land. Die NATO dient auch
weiterhin als ein bequemes Instrument, die Deutschen im Zaume zu halten und sie
im Fahrwasser der amerikanischen Politik schwimmen zu lassen. Unter dem Druck
der USA musste die Regierung der Bundesrepublik ihre Verträge und das
Völkerrecht grob verletzen, indem sie die Bundeswehr im amerikanischen Krieg
gegen Jugoslawien einsetzte. Zu diesem Thema gehört auch die der Bundeswehr
gestellte Aufgabe, die nationalen Interessen der Bundesrepublik am Hindukusch
zu verteidigen (!?). Nur im Falle des Irak gelang es dem Weißen Haus nicht, der
Bundesregierung seinen Willen aufzudrängen. Zu evident war die allgemeine
Proteststimmung in Europa, insbesondere in Deutschland, gegen dieses
abenteuerliche Unternehmen der Bush-Administration. Die Absicht der
Amerikaner, die Europäer weitgehend in den Dienst ihrer Interessen zu stellen,
fand in den Plänen zur Globalisierung der NATO ihren Niederschlag.
Russland im Fadenkreuz
Zum Hauptobjekt der
amerikanischen Europapolitik nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 wurde
begreiflicherweise Russland. Mit seinem großen strategischen Nuklearpotenzial,
für das "das Fenster der Verwundbarkeit" Amerikas offen stand, mit
seinen bedeutsamen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Ressourcen war es
ein "Dorn im Auge" für die US-Administration und ein potenzielles
Hindernis für ihre globale Herrschaftspolitik. Deswegen wurde die Zielsetzung,
Russland außerhalb Europas zu halten, durch viele andere ergänzt: Russland
möglichst maximal zu schwächen, in Russland eine starke, amerikanische Lobby in
den höheren Etagen der Macht zu schaffen, die Ruinierung und die Ausplünderung
des Landes durch die Oligarchen, korrupte und kriminelle Kreise zu fördern und,
was besonders wichtig war, die russischen Bürger und den russischen Staat mit
all seinen Strukturen (Wissenschaft, die Streitkräfte, Schulwesen,
Gesundheitswesen u. a.) in den Zustand großer Armut und des Elends zu
versetzen. Diese Ziele wurden mit Hilfe der antinationalen, auf die USA orientierten
Führung von Jelzin, die in ein mafiaoligarchisches Regime entartete, erreicht.
Die entscheidende Rolle spielte dabei die von den Amerikanern erfundene und von
der Jelzin‑Mannschaft durchgeführte "Schocktherapie"' der
Wirtschaft und der Gesellschaft Russlands. Man braucht 20 bis 30 Jahre, um die
verheerenden Folgen dieser "Therapie" zu beseitigen und Russland
wieder herzustellen. Nach Schätzungen von Experten sind die Schäden dieser
"Therapie" für Russland größer als die des Zweiten Weltkrieges.
Die Unterminierung Russlands
von innen wurde durch den militärischen Druck von außen begleitet: die
Osterweiterung der NATO. Sie erfüllt viele Aufgaben gleichzeitig. Der
europäische Kontinent wird durch die Schaffung einer neuen Trennungslinie
gespalten; Russland wird von Europa isoliert; die Zusammenarbeit zwischen
Deutschland und Russland wird gravierend erschwert in Erkenntnis dessen, dass
es auf der Weit keine zwei Völker gibt, die sich besser ergänzen und
gegenseitig voranbringen können als Russen und Deutsche; die Amerikaner messen
der NATO‑Osterweiterung eine große Bedeutung bei, um damit ihre Präsenz
in Europa zu rechtfertigen und zu legitimieren.
Eine "Kubakrise" in Europa droht
Mit der Eingliederung der
osteuropäischen Länder in die NATO erhalten die USA ein weites Aufmarschgebiet
unmittelbar an der westlichen Grenze Russlands. Ein Teil der in Deutschland
stationierten Truppen wird laut dem Beschluss Bushs über die globale
Umdislozierung der amerikanischen Streitkräfte in dieses Aufmarschgebiet
transportiert. Daneben planen die Amerikaner, eine Bedrohung für Russland im
Süden zu schaffen und ihre Basen im Kaukasus, an der Küste des Schwarzen Meeres
und in Mittelasien zu errichten. Den Kaukasus haben sie zur Sphäre ihrer
nationalen Interessen erklärt. Wie kann all das in Russland im Hinblick auf die
amerikanische Doktrin des "präventiven Interventionismus"'
wahrgenommen werden? Stellen wir uns vor: Nuklearraketen, die imstande sind, in
wenigen Minuten Moskau und die russischen strategischen Waffen zu zerstören.
Russland wird der Möglichkeit eines Zweitschlages, die der Verhinderung eines
Überfalls dient, beraubt. Wird die russische Führung das hinnehmen? Dies ist
nicht möglich. Dann entsteht auf dem europäischen Territorium eine
"umgekehrte Kubakrise", eine Situation wie 1962. Oder eine andere
Option: Die USA mischen sich im Namen der NATO in die Konflikte auf dem
ehemaligen Territorium der UdSSR ein. Wird Russland beiseite stehen? Ich glaube
nicht. Man darf nicht vergessen, dass die beiden Weltkriege durch lokale
Konflikte, in die sich die Großmächte einmischten, provoziert wurden.
Im Unterschied zu der NATO‑Osterweiterung
birgt die EU‑Erweiterung keine geopolitischen und geoökonomischen
Gefahren für Russland in sich. Die Einigung Europas nach dem Prinzip
"Einheit in Vielfalt" ist ein natürlicher und unaufhaltsamer Prozess.
Ich glaube, Russland, die Ukraine, Weißrussland sowie andere europaorientierte
Republiken der ehemaligen Sowjetunion werden sich in der fernen Zukunft der
europäischen Integration anschließen, sobald sie wirtschaftlich und politisch
dazu reif sind. Bis dahin kann sich in Osteuropa eine Integrationsgruppierung
entwickeln, bestehend aus den oben genannten Ländern. Die Zusammenarbeit
zwischen zwei europäischen Integrationen wird zu ihrer Verschmelzung führen und
zur Bildung eines gesamteuropäischen Hauses und eines gesamteuropäischen
Sicherheitssystems. Das entspricht keinesfalls den Interessen der regierenden
Elite der USA. Schon jetzt macht sie alles, um die Herausbildung dieser
gigantischen wirtschaftlichen und politischen Machtballung zu vereiteln. Das
verdeutlicht unter anderem, warum die USA einen starken Druck auf die EU ausüben,
damit sie die muslimische Türkei, die den europäischen Werten fremd ist, in die
Union aufnimmt. Die Verwirklichung dieser amerikanischen Idee wird das
Funktionieren der EU lähmen.
Feuerbachs Warnung vor einförmigem Allerlei
Es gibt noch einen wichtigen
Aspekt der amerikanischen Politik, der die Interessen der europäischen Länder
angeht. Um die Durchsetzung der Ziele der globalen Herrschaftspolitik zu
erleichtern, unterzogen die politischen Strategen der USA das Völkerrecht einer
"Revision". Sie erklärten das Prinzip der Souveränität der Völker für
veraltet und überholt und usurpierten für sich das Recht, sich in die inneren
Angelegenheiten jedes Staates gewaltsam einzumischen und dessen Regierung zu
stürzen, wenn sie den Vorstellungen des Weißen Hauses und den amerikanischen
Werten nicht entspricht. Diese neue amerikanische "Erfindung" birgt
eine große Gefahr für den Weltfrieden in sich. Das Beispiel Jugoslawiens und
des Iraks verdeutlicht das zur Genüge. Schon Immanuel Kant schrieb in seinem
Traktat "Zum ewigen Frieden", dass die Nichteinhaltung des Prinzips
der Souveränität der Völker zum Chaos in den internationalen Beziehungen führt.
Ein richtiges Urteil über das Wesen der neuen Interpretation des Völkerrechts
durch die amerikanische regierende Elite kann man an Hand folgender Worte des
Rechts‑ und Staatswissenschaftlers Paul Johann Anselm Ritter von
Feuerbach fällen: "Es ist die Absicht der Natur, dass die Menschheit in
mannigfaltigen Volksgeschlechtern blühe und jedes Volk in seiner Eigentümlichkeit
und originellen Verschiedenheit sich entwickle und ausbilde. Nicht in
einförmigem Einerlei, sondern in unergründlicher Mannigfaltigkeit offenbart sich
der große Weltgeist. Selbständigkeit der Völker, souveräne Freiheiten der
Staaten, in welchen sie leben, ist das heiligste Palladium der Menschenwürde
und der Persönlichkeit eines jeden Volkes. Das Gleichmachen ist einer der
ersten Grundsätze in dem Plane eines Welteroberers."
Die Europäer dürfen das 21.
Jahrhundert nicht verlieren.
Quelle: NZ vom 1.1.1998