Stephen M. Walt und John J. Mearsheimer

 

Im März 2006 erschien eine Studie zweier angesehener amerikanischer Professoren, die der sogenannten »realistischen Schule« der US­Außenpolitik zugerechnet werden. Prof. Stephen M. Walt von der Harvard University und Prof John J. Mearsheimer von der University of Chicago erheben schwere Vorwürfe gegen den Einfluß der »Lobby« und empfehlen einen Kurswechsel der amerikanischen Außenpolitik mit Distanz zu Israel. Die Studie trägt den Titel »The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy« und wurde in Auszügen vom »Deutschland‑Brief« (Bandulet Verlag) übersetzt und veröffentlicht.

 

Vor dem Hintergrund dieser Zusammenhänge wird auch verständlich, warum sich die bundesdeutsche Kanzlerin zum Abschluß ihres zweiten USA­-Besuches ihrer Amtszeit Anfang Mai 2006 mit Nachdruck zur besonderen Verantwortung Deutschlands für Israel bekannte. Hier einige Zitate aus der deutschen Übersetzung der Studie, die dem Leser, der sonst nur die Tageszeitungen liest, die US‑Politik verständlich machen:

 

"US‑Außenpolitik im Würgegriff einer Lobby"

 

»Die US‑Außenpolitik beeinflußt in jeder Gegend der Welt Ereignisse. Und nirgendwo trifft das stärker zu als im Nahen Osten, einer Region von immer wieder auftretender Instabilität und enormer strategischer Bedeutung. Vor kurzem hat der Versuch der Bush-­Regierung, die Region zu einer Gemeinschaft von Demokratien zu machen, einen hartnäckigen Aufstand im Irak verursacht, ebenso einen starken Anstieg der weltweiten Ölpreise, terroristische Bombenanschläge in Madrid, London und Amman. Wenn so viel für so viele auf dem Spiel steht, sollten alle Länder die Kräfte verstehen, die die US‑Außenpolitik im Nahen Osten beeinflussen.

 

Die nationalen Interessen der USA sollten das primäre Ziel der amerikanischen Außenpolitik sein.

 

In den letzten Dekaden jedoch, und insbesondere seit dem Sechs‑Tage‑Krieg im Jahre 1967, ist das Verhältnis zu Israel zum zentralen Bestandteil der US­Außenpolitik im Nahen Osten geworden. Die Kombination der unerschütterlichen Unterstützung der USA für Israel mit den damit verbundenen Bemühungen, der gesamten Region Demokratie zu bringen, hat die öffentliche Meinung in der arabischen und islamischen Welt entflammt und die Sicherheit der USA in Gefahr gebracht.


 

Diese Situation hat es in der politischen Geschichte der USA noch nicht gegeben.

 

Warum diese Bereitschaft der Vereinigten Staaten, die eigene Sicherheit solchermaßen zu vernachlässigen, nur um die Interessen eines anderen Staates voranzutreiben?

 

Man könnte annehmen, daß die Verbindung zwischen den beiden Staaten auf gemeinsamen strategischen Interessen oder zwingenden moralischen Imperativen basiert. Wie wir im folgenden zeigen werden, erklärt jedoch keiner dieser Gründe den erstaunlichen Grad der materiellen und diplomatischen Unterstützung der USA für Israel.

 

Vielmehr läßt sich die gesamte Stoßrichtung der US‑Politik in der Region auf die US‑Innenpolitik zurückführen, insbesondere auf die Aktivitäten der "israelischen Lobby".

 

Andere Interessenvertretungen haben es geschafft, die US‑Außenpolitik in eine für sie opportune Richtung zu bringen, aber keine Lobby hat es geschafft, die US‑Außenpolitik so weit von dem Kurs abzubringen, der die nationalen Interessen Amerikas eigentlich ausmacht, während sie der amerikanischen Bevölkerung gleichzeitig eine grundlegende Identität von amerikanischen und israelischen Interessen vortäuscht.

 

Seit dem Oktoberkrieg von 1973 hat Washington Israel ein Maß an Unterstützung zuteil werden lassen, das alle Summen, die anderen Staaten zukamen, in den Schatten stellt.

 

Israel ist seit 1976 der größte jährliche Empfänger direkter wirtschaftlicher und militärischer Hilfe und der größte Gesamtempfänger seit dem Zweiten Weltkrieg. Die gesamte US‑Hilfe an Israel beläuft sich auf über 140 Milliarden Dollar auf der Kaufkraftbasis von 2003. Israel empfängt jährlich ca. drei Milliarden Dollar an direkten Auslandshilfen, etwa ein Fünftel des amerikanischen Entwicklungshilfebudgets. In Pro‑Kopf­-Zahlen lassen die USA pro Jahr jedem Israeli 500 Dollar an direkter Unterstützung zukommen. Diese Großzügigkeit ist besonders bemerkenswert, wenn man bedenkt, daß Israel inzwischen ein wohlhabender Industriestaat mit einem Pro‑Kopf‑Einkommen ist, das etwa dem von Südkorea oder Spanien entspricht.

 

Schließlich verschaffen die USA Israel Zugang zu Geheimdienstinformationen, die sie ihren NATO‑Verbündeten verweigern und ignorieren schlichtweg Israels Erwerb von Nuklearwaffen.

 

Zusätzlich dazu gewährt Washington Israel ständige diplomatische Unterstützung.

 

Seit 1982 haben die USA gegen 32 Resolutionen des UN‑Sicherheitsrates ihr Veto eingelegt, die israelkritisch waren ‑ mehr als alle Vetos aller anderen Sicherheitsratsstaaten zusammengenommen. Sie blockieren die Bemühungen arabischer Staaten, Israels Nukleararsenal auf die Agenda der Internationalen Atomenergiebehörde zu setzen.

 

Noch wichtiger: wenn man sagt, daß Israel und die USA vereint sind durch eine gemeinsame terroristische Bedrohung, dann ist das kausal falsch.

 

Es ist eher so, daß die USA zu einem guten Teil ein terroristisches Problem haben, weil sie so eng mit Israel verbunden sind, nicht andersherum. Die US‑Unterstützung für Israel ist nicht die einzige Quelle des antiamerikanischen Terrorismus, aber es ist eine wichtige, und sie macht es umso schwerer, den Kampf gegen den Terrorismus zu gewinnen. Es steht außer Frage, daß z.B. viele Al Kaida‑Führer, Bin Laden miteingeschlossen, durch die israelische Präsenz in Jerusalem und die Misere der Palästinenser motiviert werden.

 

Ein letzter Grund, den strategischen Wert Israels in Frage zu stellen, ist die Tatsache, daß es sich nicht wie ein loyaler Verbündeter verhält.

 

Israelische Funktionäre ignorieren oft US‑amerikanische Anfragen und halten nicht Wort, wenn sie hohen US-­Führungspersonen Zusagen gemacht haben (inklusive vergangener Zusagen, den Siedlungsbau aufzuhalten und von "gezielten Ermordungen" palästinensischer Führer Abstand zu nehmen). Darüber hinaus hat Israel heikle US-­Militärtechnologie an potentielle Gegner der USA wie China weitergegeben, was der Generalinspekteur des US­Außenministeriums als "systematisches und zunehmendes Muster unautorisierter Transfers" bezeichnete. Laut dem Obersten Rechnungshof der Vereinigten Staaten führt Israel gegen die USA auch "die aggressivsten Geheimdienstoperationen aller verbündeter Staaten." Neben dem Fall von Jonathan Pollard, der in den frühen 80er Jahren große Mengen an Verschlußmaterial an Israel weitergab (die nachgewiesenermaßen Israel an die Sowjetunion weiterleitete, um mehr Ausreisevisa für sowjetische Juden zu erhalten), brach 2004 eine neue Kontroverse los, als herauskam, daß eine Schlüsselfigur im Pentagon (Larry Franklin) Geheiminformationen an einen israelischen Diplomaten weitergegeben hatte, angeblich mit Hilfe zweier Funktionäre des American‑Israel Public Affairs Committee (AIPAC).

 

Was ist "Lobby"?

 

Unsere Verwendung dieses Begriffs soll nicht suggerieren, daß "die Lobby" eine vereinte Bewegung unter zentraler Führung ist, oder daß unter den einzelnen Mitgliedern nicht auch Uneinigkeit über gewisse Themen besteht. Nicht alle jüdischstämmigen Amerikaner sind Teil der Lobby, weil für viele von ihnen Israel kein brennendes Thema ist. In einer Umfrage von 2004 sagten beispielsweise rund 36 Prozent aller jüdischstämmigen Amerikaner aus, daß sie entweder "nicht sehr" oder "überhaupt nicht" emotional an Israel gebunden seien.

 

Die Lobby verfolgt zwei breitangelegte Strategien, um US‑Unterstützung für Israel voranzutreiben. Zunächst übt sie signifikanten Einfluß in Washington aus und drängt sowohl den Kongreß als auch die Exekutive dazu, Israel zu unterstützen. Was auch immer die eigenen Ansichten einzelner Gesetzgeber oder Politiker sein mögen, die Lobby versucht, die Unterstützung Israels als kluge politische Wahl darzustellen.

 

Außerdem versucht die Lobby sicherzustellen, daß Israel im öffentlichen Diskurs positiv dargestellt wird, indem sie Mythen über Israel und seine Gründung wiederholt und den israelischen Standpunkt in der Tagespolitik propagiert. Ziel ist es, zu verhindern, daß kritische Kommentare über Israel in der politischen Arena überhaupt eine faire Anhörung bekommen. Die Kontrolle über die Debatte ist essentiell, um die US­-Unterstützung zu erhalten, weil eine offene Diskussion über die Beziehung beider Länder zu einer anderen Politik der Amerikaner führen könnte.

 

Ein Hauptpfeiler der Effizienz der Lobby ist ihr Einfluß auf den amerikanischen Kongreß, wo Israel praktisch immun gegen Kritik ist.

 

Dies allein ist schon eine bemerkenswerte Situation, weil der Kongreß sich fast nie davor scheut, strittige Themen zu behandeln. Ob Abtreibung, Minderheitenförderung, Gesundheitspolitik oder der Sozialstaat ‑ eine lebhafte Debatte auf dem Kapitolshügel ist sicher. Wenn es Israel betrifft, werden die potentiellen Kritiker jedoch still, und kaum eine Debatte kommt auf.

 

Ein Grund für den Erfolg der Lobby im Kongreß ist es, daß einige Schlüsselfiguren im Kongreß christliche Zionisten sind wie Dick Armey, der im September 2002 sagte: "Die absolute Priorität meiner Außenpolitik ist es, Israel zu beschützen". Man möchte meinen, die absolute Priorität eines Kongreßmitglieds bestünde darin, Amerika zu beschützen", aber so drückte Armey sich nicht aus. Es gibt auch jüdischstämmige Senatoren und Kongreßmitglieder, die dafür arbeiten, daß die US‑Außenpolitik israelische Interessen unterstützt.

 

Pro‑israelische Mitarbeiter der Kongreßabgeordneten sind eine weitere Quelle des Einflusses der Lobby. Wie Morris Amitay, ein früherer Chef des AIPAC, einmal zugab: "Es gibt eine Menge Leute, die auf Arbeitsebene hier oben (auf dem Kapitolshügel) ... jüdisch sind, und die bereit sind ... einige Themen aus der Sicht ihres Judentums zu betrachten ... Diese Leute sind alle in einer Position, auf diesen Gebieten die Beschlüsse für die Senatoren zu treffen ... Man erreicht eine Menge allein auf dieser Arbeitsebene."

 

Das AIPAC selbst jedoch steht im Zentrum

des Lobbyeinflusses auf den Kongreß.

 

Der Erfolg des AIPAC geht auf seine Fähigkeit zurück, Gesetzgeber und Kongreßmitglieder zu belohnen, die seine Agenda unterstützen, und jene zu bestrafen, die sie in Frage stellen. Geld spielt bei den Wahlen in den USA eine kritische Rolle (woran uns vor kurzem der Skandal um die üblen Machenschaften des Lobbyisten Jack Abramoff erinnerte), und das AIPAC stellt sicher, daß seine Freunde starken finanziellen Rückhalt durch die Myriaden von pro‑israelischen Aktionskomitees erhält. Jene, die als israelfeindlich eingestuft werden, können andererseits sicher sein, daß das AIPAC Wahlkampfspenden an ihre politischen Gegner leitet. Das AIPAC organisiert auch Briefkampagnen und ermutigt Zeitungsredakteure, proisraelische Kandidaten zu unterstützen.

 

Im Endeffekt dominiert das AIPAC, das de facto ein Organ

einer ausländischen Regierung ist, den US‑Kongreß.

 

Eine offene Debatte über die US­-Politik gegenüber Israel findet hier nicht statt, obgleich diese Politik wichtige Konsequenzen für die gesamte Welt hat. So ist einer der drei Hauptpfeiler der US‑Regierung fest entschlossen, Israel zu unterstützen. Wie der frühere Senator Ernest Hollings (D‑SC) bemerkte, als er aus dem Amt schied:

 

"Sie können hier keine andere Israelpolitik verfolgen als die, die das AIPAC einem vorgibt."

 

Auch auf die Exekutive hat die Lobby maßgeblichen Einfluß. Diese Kraft rührt zum Teil vom Einfluß her, den jüdischstämmige Wähler auf die Präsidentenwahlen haben. Trotz ihrer geringen Zahl in der Bevölkerung (weniger als 3 Prozent) leisten sie große Kampagnenspenden an die Kandidaten beider Parteien. Die Washington Post schätzte einmal, daß die Präsidentschaftskandidaten der Demokraten "zu 60 Prozent ihrer Budgets von jüdischstämmiger Unterstützung abhängen". Darüber hinaus zeigen jüdischstämmige Wähler eine hohe Wahlbeteiligung und konzentrieren sich auf Schlüsselstaaten wie Kalifornien, Florida, Illinois, New York und Pennsylvania. Weil sie in knappen Abstimmungen wichtig sind, bemühen sich Präsidentschaftskandidaten in hohem Maße, jüdische Wähler nicht gegen sich zu haben.«

 

Quelle: UNABHÄNGIGE NACHRICHTEN 6 / 2006 / 5 - 7 ("Hintergründiges zur Politik der USA - Eine aufsehenerregende Studie amerikanischer Professoren")