US - Klassengesellschaft

 

An den Grenzen der »wirklichen« Society beginnen die gesellschaftlichen Zwielichtzonen des Snobismus. Seine amerikanische Sonderart ist die allgemeine Suche nach dem persönlichen »Status«, der Vance Packard in »The Status Seekers« eine erste Analyse gewidmet hat. Sie hat wie eine sozialpsychologische Tiefseeforschung zu befremdlichen, wenn auch manchmal umstrittenen Entdeckungen geführt. Sie stellt den »amerikanischen Traum« in Frage, der in der Gleichheit der Chancen besteht, die die grundsätzliche Klassenlosigkeit und die unbestreitbaren Einkommensunterschiede überbrückt. Daß die Klassenlosigkeit fünfundzwanzig Jahre, nachdem C. Wright Mills seine herausfordernde Gesellschaftskritik »The Power Elite« veröffentlichte, unverändert im »Grundsätzlichen« verharrt, aber nicht Wirklichkeit ist, zeigt die neueste These über die Klassenstruktur Amerikas von Charles E. Lindblom in »Jenseits von Markt und Staat« (deutsch 1980 bei Klett‑Cotta, Stuttgart). Er muß Erfahrungen gemacht haben, wenn er sagt: »Wer in das Wespennest des Klassenbegriffs sticht, sieht sich bald inmitten wütender Kontroversen.« Man nimmt eben Störungen der Traumwelt übel. Doch Lindblom, Professor in Yale, läßt sich davon nicht abhalten: »Klassenunterschiede durchdringen die ganze amerikanische Gesellschaft. Sogar die verschiedenen protestantischen Kirchen sind klassenspezifisch differenziert. Viele Amerikaner nehmen jedoch die weitverbreiteten Klassenunterschiede im Verhalten, in der Sprache und im Denken gar nicht wahr. Denn diese Unterscheidungen sind nie ausdrücklich in Frage gestellt worden ... «

 

Für diesen Konformismus macht er den Einfluß des Gebildes verantwortlich, das vor ihm Mills die Machtelite genannt hatte: »Der privilegierten Klasse gelingt es, in beträchtlichem Maße einen Großteil der Gesamtbevölkerung mit bestimmten von ihr selbst bevorzugten Einstellungen, Überzeugungen und politischen Meinungen zu indoktrinieren.«

 

Dem ausländischen Beobachter bietet sich zunächst das amerikanische Dasein, blickt er auf seine bunte, lebenstrotzende, bewegte Oberfläche, gemessen an den alten Verkrustungen der langsam gewachsenen Gesellschaften Europas, egalitär dar. Diese Oberfläche scheint ein soziales Hochplateau zu sein, aus dem sich nur ab und zu ein Bergkegel erhebt, der dem Hochplateau nicht widerspricht, es eher deutlich macht. Jeder hat ja die Chance des Herausragens, wenn sie sich naturgemäß auch nicht in jedem verwirklichen kann. Bei einigen hat sie sich schon vor Jahrhunderten oder wenigstens Jahrzehnten verwirklicht, und sie gehören auf diese Weise zu dem Bergkegel der Society. Aber die »Feldstudien«, die Packard zusammengetragen hat, zeigen ein anderes soziales Landschaftsbild als das des flüchtigen Betrachters, mit dem aber auch die meisten Amerikaner aufwachsen. Unter der Oberfläche breitet sich eine faszinierende Vielfalt von bewußt gepflegten Gruppenunterschieden aus, nicht nur eine verblüffende Variationsbreite des Snobismus, sondern auch tieferreichende Kräfte der Absonderung gegen andere. Die horizontalen Linien der Einkommensschichtung werden geschnitten von Linien, die man vertikal nennen kann, aber auch kreisförmig, sofern sich das Abtrennungsbedürfnis in unzähligen sozial gestuften Klubs verwirklicht. Vertikale Gruppenbildungen, auf Verschiedenartigkeit beruhend, durchschneiden die horizontalen Klassenlinien, die auf Besitz und Prestige beruhen. Die vier wichtigsten vertikalen Trennungswände sind: Abstammungsgruppen, Religion, Hautfarbe, Alter der Ansässigkeit. Sie sind im amerikanischen Leben so maßgebend, weil die horizontale Prestigeordnung gegen sie ohnmächtig ist. Man kann nicht mit Geld eine andere Hautfarbe oder ältere Vorfahren kaufen. Die dauernde Wirkung der ethnischen Trennungswände führt die Schmelztiegelidee ad absurdum. Hier rebelliert offenbar ein tieferes Motiv. Zwischen den Abstammungsgruppen spielen unwägbare Gefühle der Überlegenheit und Minderwertigkeit eine Rolle. Die Egalität hat nicht ‑ und dies mag einiges über die menschliche Natur aussagen ‑ zu brüderlicher Verbundenheit geführt, sondern zu einem Prestigesystem, in dem der ausgesprochene Drang nach Unterscheidung vom Mitmenschen maßgebend ist.

 

Quelle: "Amerika - Dekadenz und Größe" von Herbert von Borch, R. Piper & Co Verlag, München / Zürich 1981, S. 236 f