Global Trends 2015

 

Die nächsten Kriege des Westens

 

In dem Dossier "Global Trends 2015" beschreibt der amerikanische Geheimdienst CIA die Auseinandersetzungen von morgen

 

Wäre man vor die Aufgabe gestellt, die im Dezember 2000 von der CIA veröffentlichte Studie "Global Trends 2015" visualisieren zu müssen, läge man mit der Wahl von Dürers "Vier Apokalyptischen Reitern" nicht falsch: Terrorismus, der sich Massenvernichtungswaffen aller Art bedient, knapper werdende Ressourcen, zerfallende Staatsgebilde und internationale Migrationsströme bestimmen das Bild.

 

Es ist eine düstere Zukunft, die die CIA für große Teile der Welt ausmalt. Hier und da dürfen aber Abstriche gemacht werden. Daß der US‑Geheimdienst in dieser Studie auch bemüht ist, ihre eigene Bedeutung zu unterstreichen, um möglichen Budgetkürzungen vorzubeugen, darf getrost unterstellt werden. Daß diese Studie weiter belegen soll, wie notwendig die USA auch weiterhin als globaler "Ordnungsfaktor" bzw. "Weltpolizist" sind, schwingt in jeder Zeile mit. Nichtsdestoweniger verdient diese Studie Beachtung, weil es eben von grundsätzlicher Relevanz ist, wie sich der bedeutendste Geheimdienst der "einzigen Weltmacht" die Welt der Zukunft vorstellt und wo er künftige Konfliktfelder sieht.

 

Mit im Zentrum des von der CIA - genauer gesagt: von dem National Intelligence Council, der in der CIA angesiedelt ist ‑ prognostizierten Szenarios über die Welt der Zukunft steht das Thema "Terrorismus". Dieses Thema wird ganz offensichtlich mehr und mehr zum Alptraum amerikanischer Sicherheitsexperten. Nährboden für den Terrorismus seien in erster Linie Staaten mit einer schwachen Regierungsgewalt. Gründe dafür können ethnische, kulturelle oder religiöse Spannungen sein, aber auch eine schwach entwickelte Wirtschaft und unkontrollierte Grenzen. Derartige Staaten seien für die Entstehung terroristischer Gruppierungen geradezu prädestiniert. Diese werden mehr denn je in der Lage sein, schwache Regierungen herauszufordern. Darüber hinaus werden diese Staaten als Rückzugsgebiete für übernational operierende terroristische Netzwerke genutzt werden.

 

Aber auch aus Staaten, in denen sich ein radikaler Islamismus mit einem gewissen Wohlstand verbindet, droht Gefahr, weil diese den Terrorismus staatlich unterstützten. Welchen Staat die US-­Sicherheitsexperten vor allem im Auge haben, läßt sich unschwer erraten: den Iran.


 

Die Studie geht davon aus, daß sowohl die amerikanischen Auslandseinrichtungen als auch die USA selbst mehr und mehr Zielobjekte für terroristischen Gruppen werden. Daß diese im Besitz von nuklearen, biologischen, chemischen oder konventionellen Massenvernichtungswaffen sein werden, wird vorausgesetzt. Inwieweit der Handel mit diesen Waffen außer Kontrolle gerät, hängt nach Meinung der Autoren insbesondere von der Entwicklung in Rußland und China ab. Gerade Rußland könnte seine Arsenale bei einer weiteren wirtschaftlichen Talfahrt vollends öffnen. Wer die potentiellen Abnehmer dieser Waffen sein dürften, kann unschwer erraten werden: der Iran, der Sudan, Pakistan oder auch Lybien.

 

Das Bedrohungspotential der USA - und auch Westeuropas ‑ durch biologische und chemische Massenvernichtungswaffen wird nach Auffassung der Autoren deshalb zunehmen, weil diese Waffen leichter zu entwickeln und zu verstecken seien als Kernwaffen. Wie ernst die USA insbesondere die potentielle Bedrohung durch biologische Kampfwaffen nehmen, zeigt die große Resonanz, die Richard Prestons Buch "Cobra" ("The Cobra Event"; 10/97) in den USA ausgelöst hat. Der Wissenschaftsjournalist und promovierte Naturwissenschaftler Preston knüpft in seinem Buch an die Versuche der Amerikaner in den späten sechziger Jahren mit verschiedenen Virenarten an, die sich im menschlichen Organismus vervielfältigen und diesen vernichten.

 

Nach der aus Entsetzen über die Folgen beschlossenen und veröffentlichen Beendigung der Versuche hatten erst die Sowjets und später kleinere Staaten die Versuche unter strenger Geheimhaltung fortgesetzt. In das Bewußtsein einer größeren Öffentlichkeit gelangte das Thema "Biowaffen" insbesondere durch die Bio‑Labors im Irak. Ein Thema, das auch Preston in seinem Tatsachen‑Roman anspricht, der vorrangig in New York spielt. Dort treten plötzlich Fälle einer unmittelbar tödlich verlaufenden Krankheit mit grauenvollen Begleitumständen auf. Identität und Motivation des oder der Täter bleiben vorerst im Dunkeln. Eine spezielle Mannschaft zur Bekämpfung von Bio-Attentaten nimmt sich des Falls an. Die ziemlich klischeehaft gestaltete Erzählebene (einiges erinnert an Thomas Harris' Thriller "Das Schweigen der Lämmer") mischt sich mit fachbezogenen Exkursen zum Thema biologische Kampfwaffen, die aus diesem Buch so etwas wie eine Einführung in das Thema machen. Auf den ehemaligen US-Präsidenten Clinton soll dieses Buch einen derart starken Eindruck hinterlassen haben, daß er umgehend die Mittel zur Erforschung biologischer Kampfmittel erhöht haben soll.

 

Die Situation Rußlands bietet Grund zur Besorgnis

 

Neben den oben angesprochenen "klassischen" Massenvernichtungswaffen nimmt das Thema "elektronischer Krieg" ("Cyber‑" oder "lnfowar") in den Ausführungen der Autoren einen breiten Raum ein. Auch hier rechnen die Autoren mit verstärkten terroristischen Aktivitäten ("Hackerangriffen") gegen die nationale elektronische Infrastruktur der USA. Deren Verwundbarkeit steigt in dem Maße, wie der Ausbau von Computernetzwerken vorangetrieben wird. Der möglicherweise staatlich oder nichtstaatlich vorgetragene Angriff auf die elektronische US-Infrastruktur sei, so die Autoren, eine Reaktion auf die militärische und elektronische Überlegenheit der USA, die auf diese Weise empfindlich getroffen werden kann.

 

Kernstück der Studie ist allerdings das geopolitische Szenario des Jahres 2015. China als potentieller zukünftiger Konkurrent der USA nimmt einen größeren Raum in der Analyse ein. Die Autoren schränken ein, daß Projektionen über China, die über die nächsten fünf Jahre hinausgehen, mit vielen Unsicherheitsfaktoren versehen seien. Daß auch Chinas politische Macht analog zu seiner zunehmenden militärischen und wirtschaftlichen Bedeutung steigen wird, wird von den Autoren nahegelegt. Allerdings gibt es eine Reihe von politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die die Stabilität des Regimes gefährden könnten.

 

Die zwei Szenarien, die die Autoren durchspielen, sind aus US‑Sicht alles andere als beruhigend: ein starkes China wird danach streben, die südostasiatische Mächtekonstellation zu seinen Gunsten zu verändern. Ein schwaches China werde zu steigendem internationalen Drogenhandel, illegaler Zuwanderung und Handel mit Massenvernichtungswaffen führen und damit global zur Destabilisierung der Verhältnisse beitragen.

 

Die chinesische Volksbefreiungsarmee wird die größte Armee der Welt bleiben, die aber nur in Teilen mit modernen Waffen ausgerüstet sein wird. Es kann davon ausgegangen werden, daß im Hinblick auf das eine oder andere Waffensystem der technologische Rückstand gegenüber dem Westen aufgeholt wird. Das bedeutet auch, daß man in den USA davon ausgeht, China werde demnächst über ein ansehnliches Arsenal von Atomsprengköpfen verfügen, die gegen die USA gerichtet sind.

 

Der Einfluß des raschen Wirtschaftswachstums Chinas auf dessen Machtentfaltung wird weiterhin von der politischen Führung in Peking bestimmt werden ‑ falls das Regime stabil bleibt. Seit Jahren folgt diese Führung der Doktrin, daß sich politische und militärische Macht aus wirtschaftlicher Stärke ableitet. Diese Priorität könnte sich allerdings aufgrund möglicher gesellschaftlicher Instabilitäten oder einer "nationalistischeren Politik" ändern, was eine Abnahme oder sogar einen Stillstand des wirtschaftlichen Aufholprozesses in China zur Folge haben könnte.

 

Indifferent fällt die Prognose für Rußland bzw. die Staaten der ehemaligen Sowjetunion aus. Vieles wird nach Auffassung der Autoren davon abhängen, wie stabil künftige russische Regierungen sein werden. In einem aber sind sich die Autoren sicher: die konventionelle Militärmacht Rußlands wird erheblich schrumpfen. Um dennoch eine Abschreckung zu gewährleisten, wird Rußland auch weiterhin auf sein nukleares Waffenpotential setzen.

 

Pessimistisch beurteilen die Autoren die Erfolgsaussichten Rußlands bei der Bewältigung der anstehenden wirtschaftlichen Probleme: ungenügende strukturelle Reformen, eine im Vergleich mit westlichen Standards geringe Produktivität in der Landwirtschaft, eine defizitäre Infrastruktur und eine zum Teil schwer geschädigte Umwelt werden auch weiterhin das Bild bestimmen. Auch die hohe Krimininalitätsbelastung in Form von Korruption und Organisierter Kriminalität, Drogenhandel, Geldwäsche wird weiter auf der Tagesordnung stehen.

 

Als besorgniserregend wird die demographische Entwicklung Rußlands eingestuft. Niedrige Geburtenraten, eine sinkende Lebenserwartung, insbesondere bei Männern, werden dazu führen, daß die russische Bevölkerung von zur Zeit 146 Millionen Einwohnern schon 2015 auf 130 bis 135 Millionen gefallen sein wird. Dazu kommen enorme volkswirtschaftliche Kosten aufgrund von Alkoholismus, Herzkrankheiten, fehlenden Arzneimitteln und einem unzureichenden Gesundheitssystem. Rußlands Bevölkerung wird also nicht nur kleiner werden, sondern auch weniger leistungsfähig. Was das für die Wirtschaft des Landes bedeutet, kann man sich leicht ausmalen. Demgegenüber steht ein starkes Bevölkerungswachstum insbesondere in den asiatischen Staaten, das 2010 seinen vorläufigen Höhepunkt erreichen wird. Auch vor diesem Hintergrund sei, so die Autoren, die Möglichkeit eines Verfalles des russischen Riesenreiches nicht auszuschließen.

 

Dennoch halten die Autoren einen russischen Wiederaufschwung nicht für ganz unwahrscheinlich. Dafür müßte sich aber das von ihnen so bezeichnete "autoritäre Gehabe" der Regierung ändern. Deren Versuch, den früheren Einfluß der Sowjetunion wiederherzustellen, werde durch die gravierenden gesellschaftlichen Probleme Rußlands konterkariert werden.

 

Ähnlich indifferent fällt die Analyse im Hinblick auf die zukünftige Rolle Indiens aus. Die Autoren gehen davon aus, daß Indien seine Rolle als regionale Macht weiter ausbauen wird. Das Kriegsrisiko im Hinblick auf Pakistan wird weiterhin als hoch eingestuft, weil beide Staaten zu "Fehlkalkulationen" fähig seien. Der Kernwaffenbestand beider Staaten werde weiter zunehmen, wobei ein gegenseitiger Rüstungswettlauf nicht auszuschließen sei.

 

Auch in Zukunft wird es zu finanziellen Krisen kommen

 

Relativ günstig fällt das Szenario für Europa aus, dem Wohlstand und Frieden prognostiziert werden. Auf Europas Tagesordnung sollen auch im Jahre 2015 die Themen Integration in die EU, Entwöhnung der Balkanstaaten vom "bösartigen Nationalismus" und Ausnutzen der Globalisierung in Form weltweiter Geschäfte stehen.

 

Wirtschaftlich wird Europa das fortsetzen, was die Autoren als "dritten Weg" bezeichnen. Darunter verstehen sie einen Weg zwischen staatlicher Kontrolle und ungezügeltem Kapitalismus. Die Starrheit der Arbeitsmärke und staatliche Regulierung in Europa werden aber dazu führen, daß Europa ökonomisch nicht mit den USA gleichziehen werde.

 

Als gravierende Herausforderung für den europäischen Wohlstand wird der rapide voranschreitende Alterungsprozeß der Bevölkerung und die niedrige Geburtenquote eingestuft. Während ein immer größerer Teil des staatlichen Budgets für die Folgen der Überalterung der Gesellschaft verwendet werden muß, wird auf der anderen Seite ein ständiger Mangel an qualifizierten Arbeitskräften herrschen. Legale und illegale Zuwanderung werden diesen Mangel lindern, werden aber Hand in Hand mit steigenden Integrationskosten und zunehmender Kriminalität gehen. Auf der politischen Agenda der EU‑Staaten werden analog zu dieser Entwicklung weiter die Themen Einwanderungspolitik und Bewahrung der jeweiligen kulturellen und nationalen Identitäten stehen. Darüber hinaus werden politische Strömungen, die sich gegen die Zuwanderung wenden, überall in Europa an Einfluß gewinnen.

 

Eine steigende geopolitische Bedeutung wird der Türkei attestiert, die im Norden an den Kaukasus und Zentralasien, im Süden an Syrien, den Irak und den Iran angrenzt. Sowohl im Hinblick auf westeuropäische als auch auf amerikanische Interessen wird die Türkei an Bedeutung zunehmen. Nicht festlegen wollen sich die Autoren, ob die Türkei innerhalb der nächsten Jahre Mitglied der EU wird. Dies werde von den innerstaatlichen Reformen in der Türkei abhängen. Allerdings werde die Nato-Präsenz auf dem Balkan die Bande zwischen der Türkei und dem Westen verstärken.

 

Diese Erwägungen führen zu den Ausführungen über den Zustand der "globalen Wirtschaft" im Jahre 2015. Hier wird ein langanhaltender Aufschwung prognostiziert, der weltweit zu beobachten sei, in China und Indien aber am ausgeprägtesten sein wird. Als Faktoren für den langanhaltenden Aufschwung werden ins Feld geführt: eine verbesserte makroökonomische Politik, die weitere Liberalisierung des Welthandels und reichlich fließendes internationales Kapital.

 

Zugestanden wird, daß es auch in Zukunft periodisch zu finanziellen Krisen kommen werde, die aber gemeistert werden könnten. Diese Krisen könnten aber ‑ die Autoren führen hier die Finanzkrise in Südostasien an - ­zu Streit über die internationalen wirtschaftlichen Regeln führen. Gerade die Finanzkrise in Asien machte grundsätzlich verschiedene Auffassungen über die Rolle der internationalen Finanzmärkte deutlich. Der Mangel an Übereinstimmung könnte aber gerade in krisenhaften Zeiten zur Verschärfung ökonomischer Krisen beitragen.

 

Eng verknüpft mit dem Thema "Globalisierung" ist das Thema Energie. Hier wird in Zukunft neben den klassischen Energiethemen das Thema Wasser in den Vordergrund treten. Beinahe die Hälfte der Weltbevölkerung wird 2015 in Staaten leben, in denen Wassermangel herrschen wird. 2015 wird eine Anzahl von Entwicklungsländern unfähig sein, das in der Landwirtschaft benötigte Wasser aufzubringen. Sinkende Grundwasserspiegel werden ein zunehmendes Problem in vielen Getreideanbaugebieten der Welt sein. Um hier einen Maßstab zu geben: Ungefähr 1.000 Tonnen Wasser müssen für eine Tonne Korn aufgebracht werden.

 

Auch hier werden Indien und China zu den am meisten betroffenen Staaten gehören. Auch der Einsatz genetisch modifizierter Ernten bzw. die Verwendung von geringeren Wassermengen oder salzhaltigem Wasser oder der Import von Wasser dürfte nicht ausreichen, um den Wassermangel des Jahres 2015 wirklich beheben zu können.

 

Region am Persischen Golf gewinnt an Einfluß

 

Historisch gesehen war die Ressource Wasser immer wieder einmal die Ursache von Streitigkeiten gewesen. Diese arteten aber niemals in gravierende Konflikte aus. Genau diese Möglichkeit aber räumen die Autoren ein, welche die Zunahme von Streitigkeiten über Wasserressourcen prognostizieren. Die Türkei zum Beispiel baut derzeit neue Staudämme, was zu erheblichen Konsequenzen im Irak oder Syrien führen wird, deren Wasserbedarf durch die türkischen Aktivitäten spürbar tangiert werden dürfte. Dazu kommt, daß in diesen beiden Staaten die Bevölkerung beträchtlich zunehmen wird. Ägypten, um ein weiteres Beispiel zu nennen, leitet mehr und mehr Wasser aus dem Nil um, was erhebliche Konsequenzen für Äthiopien und den Sudan hat.

 

Eher günstig fallen die Prognosen zum Erdöl oder ‑gas aus. Letzte Schätzungen behaupteten, daß 80 Prozent des in der Welt verfügbaren Öls noch im Boden liegen sollen. Der Region um den Persischen Golf wird an Bedeutung eher noch zunehmen und die Öl-Produktion weiter ausdehnen.

 

Andere Gebiete wie Rußland, Teile Westafrikas oder Grönland werden ihre Rolle auf den globalen Energiemärkten erhöhen können. Im Hinblick auf die Situation im Kaukasus wird davon ausgegangen, daß bis zum Jahre 2015 eine Reihe von Transportstrecken für das kaspische Erdöl bzw. Erdgas gebaut sein werden, die nicht mehr durch Rußland führen. Die Energiepreise werden nach Auffassung der Autoren instabiler als heute sein.

 

Quelle: Michael Wiesberg in JUNGE FREIHEIT vom 23. Februar 2001