Rudolf Steiner
WEIHNACHTEN - EIN INSPIRATIONSFEST
Berlin, 21. Dezember 1911
Innerhalb unseres Arbeitens in der geisteswissenschaftlichen Bewegung blicken
wir vorwärts, vorwärts in die Zukunft der Menschheit, und durchdringen unsere
Seelen und unsere Herzen mit demjenigen, wovon wir glauben, daß es sich
einverleiben soll in die Entwickelungsströmungen und in die Entwickelungskräfte
der Menschenzukunft. Und auch wenn wir zu den großen Wahrheiten des Daseins
aufblicken, aufblicken zu den Kräften, Mächten und Wesen, welche sich uns in
der spirituellen Welt als die Ursachen und Urgründe dessen offenbaren, was uns
in der äußeren Sinneswelt entgegentritt, auch da sind wir beseelt davon, daß
die Wahrheiten, die wir also aus den geistigen Welten herunterholen, allmählich
sich einleben sollen und einleben müssen in die Seelen, in die Herzen der
Menschen der Zukunft.
So ist denn im größten Teil des Jahres unser geistiger Blick entweder der
unmittelbaren Gegenwart oder aber der Zukunft zugewendet. Um so mehr fühlen wir
uns gedrungen, an den Merktagen des Jahres, an den Festen, welche wie fixierte
Erinnerungen an das, was die Vormenschheit erdacht und ersonnen hat, aus der
Zeit und ihrem Wandel zu uns hereinragen, unsere Verbindung mit dieser
Vormenschheit zu empfinden, ein wenig uns zu versenken in dasjenige, was aus
den Seelen, aus den Herzen der Menschen der Vergangenheit dazu geführt hat,
jene Merkzeichen in den Lauf der Zeiten hineinzustellen, welche uns als die
Feste des Jahres erscheinen.
Ist das Osterfest ein solches, das, wenn wir es verstehen, in uns Gedanken
wachruft an menschliche Kräfte und an Überwindungsfähigkeit alles Niederen
durch das Höhere, alles äußerlich Physischen durch das Geistige, ist es ein
Fest der Auferstehung, der Erweckung, ein Fest der Hoffnung und der Zuversicht
an die geistigen Kräfte, die in der Menschenseele erweckt werden können, so ist
auf der anderen Seite das Weihnachtsfest ein Fest der Harmonieempfindung mit
dem ganzen Kosmos, ein Fest der Gnadenempfindung, ein Fest, das uns immer
wieder und wieder den Gedanken nahebringen kann: Wie sich auch alles um uns
herum erweisen mag, wie auch in den Glauben sich die herbsten Zweifel
hineinmischen können, wie sich auch in die kühnsten Hoffnungen die schlimmsten
Enttäuschungen hineinmischen können, wie auch um uns herum alle guten Dinge des
Lebens wanken können -es gibt etwas in der menschlichen Natur und Wesenheit,
das kann uns der richtig verstandene Gedanke des Weihnachtsfestes sagen, das
nur vor die Seele lebendig, geisthaft hingestellt zu werden braucht, um uns
immerwährend zu offenbaren, daß wir von den Kräften des Guten abstammen, von
den Kräften des Rechten, von den Kräften des Wahren. - Auf unsere siegenden
Kräfte in die Zukunft hin weist uns der Ostergedanke. Auf den Menschenursprung
in urferner Vergangenheit weist uns in einer gewissen Beziehung demnach der
Weihnachtsgedanke.
Bei einer solchen Gelegenheit kann man so recht sehen, wie die unbewußte oder die unterbewußte
Vernunft und Geistigkeit der Menschen weit, weit höher steht als das, was der
Mensch mit seinem Bewußtsein dann umschließen kann.
Wir haben oftmals Grund, dasjenige, was die Menschen aus den verborgenen
Seelentiefen in der Vergangenheit festgesetzt haben, viel mehr zu bewundern als
das, was sie festsetzten aus ihren verstandesmäßigen Gedanken und aus dem, was
sie begrifflich erfassen konnten. Wie unendlich weise erscheint es uns, wenn
wir den Kalender aufmachen und für den 25. Dezember verzeichnet finden das
Geburtsfest des Christus Jesus und dann im Kalender verzeichnet sehen für den
24. Dezember «Adam und Eva». Man möchte sagen: Anschaulich, vernünftig, geistig
konnte einem das vor Augen treten aus dem dumpfen, unterbewußten
Schaffen im Mittelalter, wenn da oder dort gegen die Weihnachtszeit die
mittelalterlichen Weihnachtsspiele von Leuten dieser oder jener Orte aufgeführt
werden sollten. Wenn, wie man sie nannte, die «Singer» zu ihren
Weihnachtsspielen zogen, da wurde vorangetragen der
«Paradiesbaum». Wie im Kalender «Adam und Eva» vor dem Christ-Geburtstagsfest
erschien, so erschien in den mittelalterlichen Weihnachtsspielen der Baum des
Paradieses vorangetragen der Truppe, welche zur Aufführung dieser
Weihnachtsspiele schritt. Kurz also, es gab einmal etwas, was die tiefen,
verborgenen Seelenuntergründe der Menschen veranlaßte,
irdischen Menschenanfang und Jesu-Geburtsfest unmittelbar zusammenzustellen.
Im Jahre 353 gab es selbst im kirchlichen Rom noch nicht den 25. Dezember als
Jesu-Geburtstagsfest. Denn 354 wurde zum ersten Male auch im kirchlichen Rom
das Jesu-Geburtstagsfest am 25. Dezember gefeiert. Vorher wurde etwas gefeiert,
bei dem man ein ähnliches Bewußtsein hatte wie später
an dem Jesu-Geburtstagsfest, nämlich der 6. Januar als der Tag der Erinnerung
der Johannestaufe im Jordan, als der Tag, welcher der Gedenktag war des
Herunterkommens des Christus aus den spirituellen Höhen und des Sich-Versenkens
des Christus in den Leib des Jesus von Nazareth. Das war ursprünglich die
Geburt des Christus in dem Jesus, die Erinnerung an den großen geschichtlichen
Augenblick, der uns symbolisch dargestellt wird durch das Weilen der Taube über
dem Haupt des Jesus von Nazareth. Der 6. Januar war der Erinnerungstag an die
Geburt des Christus in dem Jesus von Nazareth.
Aber im 4. Jahrhundert war eigentlich für die sich ankündigende
materialistische Weltanschauung des Abendlandes längst die Möglichkeit dahin,
den großen Gedanken der Durchdringung des Jesus mit dem Christus zu verstehen.
Wie ein gewaltiges Licht war zu kurzer Aufklärung dieser Gedanke vorhanden bei
den Gnostikern, die in gewisser Beziehung Zeitgenossen oder unmittelbare
Nachfolger des Ereignisses von Golgatha waren und in der Lage waren, daß sie
die Tiefe dieser Weisheit von dem «Christus in dem Jesus» nicht in der Weise
suchen mußten, wie wir durch das moderne Hellsehen
diese Weisheit wieder suchen müssen, sondern bei den Gnostikern war es so, daß
sie durch das letzte Aufflackern gerade alter, ursprünglicher menschlicher
hellseherischer Kräfte das wie im Gnadenlichte geschaut haben, was wir uns
wieder erobern müssen über die großen Geheimnisse von Golgatha. Da leuchtete so
manches bei den Gnostikern auf, was wir uns wieder erobern müssen, so zum
Beispiel besonders das Geheimnis von dem Geborenwerden des Christus in dem
Jesus von Nazareth bei der Johannestaufe im Jordan.
Aber wie das alte Hellsehen überhaupt, so schwand auch für die Menschheit jenes
eigentümliche Aufflammen höchster hellseherischer Kräfte, höchsten
Weihnachtslichtes der Menschheit dahin, wie es bei den Gnostikern vorhanden
war. Und im 4. Jahrhundert war das abendländische Christentum längst nicht mehr
imstande, diesen großen Gedanken zu verstehen. Daher hatte im 4. Jahrhundert
das eigentliche Erscheinungsfest des Christus in dem Jesus den Sinn für die
abendländische christliche Kultur verloren. Man hatte vergessen, was eigentlich
dieses Erscheinungsfest, der 6. Januar, bedeutet. Man mußte
für eine Zeitlang, ja bis in unsere Gegenwart herein, unter mancherlei
materialistischem Verstandesschutt die Empfindung gegenüber der
Christus-Gestalt in der Menschheitsentwickelung begraben. Und konnte man nicht
begreifen, daß ein gegenüber der Menschheit Höchstes sich offenbart hat in der
Johannestaufe im Jordan, so konnte man doch, weil das dem materialistischen Bewußtsein nicht widersprach, noch begreifen, daß jene
Leibesorganisation, welche dazu ausersehen war, den Christus aufzunehmen, etwas
Bedeutsames war. Daher rückte man die Geistgeburt, die eigentlich in der
Johannestaufe im Jordan zutage trat, zurück zu der Kindesgeburt des Jesus von
Nazareth und setzte das Jesu-Geburtsfest an die Stelle des Erscheinungsfestes.
Aber wenn man das auch in den wenigsten Fällen klar aussprechen mochte, so
lebten doch immer bedeutsame Empfindungen, hohe erhabene Empfindungen in dem,
was das Weihnachtsfest der Menschheit wurde. Es lebte etwas Bedeutendes immer
in der menschlichen Seele auf, wenn das Weihnachtsfest herannahte. Es lebte das
auf, was man nennen möchte: Der Mensch kann, wenn er im richtigen Sinne die
Welt beschaut, sich doch gegenüber gewissen Dingen, gegenüber allen Fährlichkeiten und Schicksalsschlägen des Daseins beleben
in dem Glauben an die Menschheit, der Mensch kann sich beleben in tiefster
Seele an dem Gefühl von Liebe und Frieden gegenüber aller Disharmonie und allem
Streit des Lebens.
Das ist etwas, was in Anknüpfung an das Weihnachtsfest, an das Jesu-Geburtsfest
immerdar aufdämmert. Denn was war es denn eigentlich, woran man sich erinnerte?
Fassen wir das, woran man sich erinnerte, in geisteswissenschaftlichem Sinne
auf. Wir wissen, welche bedeutsamen, großen und gewaltigen Veranstaltungen die
Menschheitsentwickelung machen mußte, damit das
Mysterium von Golgatha in diese Menschheitsentwickelung hereinbrechen konnte.
Da mußte geboren werden ein Mensch, welcher der
wiederverkörperte Zarathustra war, der eine der beiden Jesusknaben. Es mußte aber noch derjenige geboren werden, für den das
eigentliche Jesu-Geburtsfest das Erinnerungsfest war, es mußte
der geboren werden, der seiner Seelensubstanz nach zurückgeblieben war in den
geistigen Welten. Solange die Menschheit das alles durchgemacht hat, was sich
innerhalb der Vererbung durch die Generationen durchmachen ließ bis zum
Mysterium von Golgatha - alle anderen Menschenseelen waren durch die
Generationen gegangen -, so lange hatte man alles das aufgenommen, was sich an
zerstörenden Kräften bis in das Blut hineingeschlichen hat. Nur eine einzige
Seelensubstanz war in den spirituellen Welten zurückgeblieben, gehütet von den
reinsten Mysterien und den reinsten Kultstätten, war dann ausgegossen worden in
die Menschheit als Seele des zweiten Jesusknaben, desjenigen, den das
Lukas-Evangelium schildert, jenes Jesusknaben, an dessen Geburt namentlich alle
Erinnerungen und alle Darstellungen des Christfestes, des Weihnachtsfestes
anknüpfen.
Zum Menschenursprung hinauf, zur Menschenseele, als diese noch nicht
heruntergestiegen war, selbst noch nicht heruntergestiegen war in Adams Natur,
erinnerte sich der Mensch zur Weihnachtszeit. Er wollte sagen, daß in
Bethlehem, in Palästina, jene Seelensubstanz geboren wurde, die nicht mit
teilgenommen hat an dem Abstieg der Menschheit, sondern zurückgeblieben war und
zum ersten Male eigentlich in einen Menschenleib einzog, indem sie in den
Lukas-Jesusknaben verkörpert wurde.
Man kann an die Menschheit glauben, man kann zur Menschheit Vertrauen haben, so
kann die Menschenseele empfinden, wenn ihr Gedanke sich hinlenken darf zu der
Tatsache: Wie auch Streit, wie auch Unglaube, wie auch Disharmonie Platz
gegriffen haben innerhalb der Menschheitsentwickelung - und sie haben Platz
gegriffen durch alles, was sich in die Menschheit hineinergossen hat von Adams
Zeit bis in unsere Gegenwart -, blickt man zurück auf das, was die alten Zeiten
«Adam Kadmon» genannt haben, was dann zum
Christus-Begriff geworden ist, dann entflammt sich in der Menschenseele
Vertrauen zur Richtigkeit der Menschenkraft, entflammt sich das Vertrauen in
die ursprüngliche Friedens- und Liebesnatur der Menschheit. Daher rückte das unterbewußte Seelische das Jesu-Geburtsfest unmittelbar
zusammen mit dem Adam-und-Eva-Fest, indem der Mensch eigentlich in dem
Christkindlein, das geboren wird, seine eigene Natur sieht, aber seine eigene
Natur in ihrer Unschuld, in ihrer Unverdorbenheit.
Warum wurde denn das göttliche Kind durch Jahrhunderte, durch Jahrtausende vor
die Menschheit hingestellt als das, was es als am höchsten zu Verehrendes für
die Menschenseele gibt? Aus dem Grunde, weil der Mensch, hinblickend zu dem
Kinde - dann, wenn dieses Kind noch nicht so weit gekommen ist, daß es zu sich
«Ich» sagen kann -, schauen kann, wissen kann, daß es noch an dem menschlichen
Leib arbeitet, an dem Tempel des ewig Göttlichen, und weil der Mensch, der noch
nicht «Ich» sagt, noch deutlich das Zeichen seines Ursprunges aus der
spirituellen Welt zeigt. Durch diesen Hinblick auf des Menschen Kindesnatur
lernt der Mensch volles Vertrauen haben zur Menschennatur. Da, wo der Mensch
sich am meisten sammeln kann, wo die Sonne am wenigsten leuchtet und den
Erdball wärmt, wo der Mensch nicht mit der Bestellung der äußeren
Angelegenheiten beschäftigt ist, da, wo die Tage am kürzesten, die Nächte am
längsten sind, wo alle Gelegenheit auf der Erde so ist, daß sich der Mensch am
besten sammeln kann, am besten in sich selber gehen kann, da, wo sich ihm aller
äußere Glanz, alle äußere Schönheit für eine Weile dem äußeren Blick entzieht,
da stellte die abendländische Kulturentwickelung das Geburtsfest des göttlichen
Kindes hin, das heißt des Menschen, der unverdorben die Welt betritt, und durch
das unverdorbene Betreten der Welt dem Menschen in der Zeit seiner intensivsten
Sammlung das stärkste, das höchste Vertrauen durch das Bewußtsein
seines göttlichen Ursprunges geben kann.
Es ist wie eine Bekräftigung der großen Wahrheit, daß man vom Kinde viel lernen
kann, wenn man sieht, daß eines Kindes Geburtstagsfest als ein großes,
bedeutsames Vertrauensfest für die Menschheitsentwickelung hineingestellt ist
in der Zeiten Lauf. Und so bewundern wir die unterbewußte,
die spirituelle Vernunft der Menschen der Vorzeit, die solche Marksteine
hineingestellt haben in der Zeiten Lauf. Wir fühlen uns dann wie Entzifferer
von merkwürdigen Hieroglyphen, die gegeben sind durch das Hineinstellen solcher
Feste in die Schrift der Zeiten durch die Menschen der Vorzeit, fühlen uns eins
mit diesen Menschen der Vorzeit. Während sonst unser Blick der Zukunft
zugewendet ist, während wir sonst willig sind, unsere besten Kräfte der Zukunft
zur Verfügung zu stellen, allen Glauben an die Zukunft zu kräftigen und zu
stärken, versuchen wir gerade an solchen Festtagen in Erinnerungen zu leben,
die alte Gedanken wie verkörpert zu uns herübertragen, die uns lehren, daß wir
zwar gegenwärtig nur in unserer Art denken können, was der äußeren Welt im
Spirituellen zugrunde liegt, daß aber noch in der Vorzeit - in anderer Art
zwar, aber nicht minder richtig, nicht minder grandios und bedeutend - das
Wahre, das Erhabene gedacht und empfunden worden ist durch das Sich-Einsfühlen mit der Menschheit, mit allem, was die
Menschheit zu ihren Höhen tragen soll. Das ist unser geisteswissenschaftliches
Ideal, daß man sich eins fühlen kann mit dem, was die Menschheit der Vorzeit
geschaffen hat, manchmal aus den verborgensten
Seelentiefen herauf. Dafür sorgen die Feste, sorgen insbesondere die großen
Feste, wenn wir nur ihre in der Zeiten Schrift hineingezeichnete hieroglyphische
Zeichenbedeutung uns durch die Wahrheiten der Geistesforschung vor die Seele
malen können.
Oh, es ist ein wunderbarer Gedanke, der wie mit einer wunderbaren Empfindung in
unserer Seele sich vermählt, wenn wir sehen, wie in jenen Jahrhunderten, die
auf das vierte folgten, welches das Jesu-Geburtstagsfest zuerst auf den 25.
Dezember verlegt hat, sich hineingießt in die Seele jener Menschen gerade das Bewußtsein von dem durch die kindliche Natur zu erweckenden
Vertrauen, indem in der Malerei, in den Weihnachtsspielen, allüberall sich
zeigt, wie vor dem Jesuskinde, vor dem göttlichen Kinde, vor dem göttlichen
Ursprung des Menschen sich beugen die Wesen aller Erdenreiche. Es tritt uns
entgegen das wunderbare Krippenbild, wie sich die Tiere neigen vor dem
Ursprungsmenschen; es gliedern sich daran jene wunderbaren Erzählungen wie etwa
diese, daß, als Maria das Jesuskind auf der Reise nach Ägypten getragen hat und
die Grenze überschritten worden war, sich ein Baum gebeugt hat, ein uralter
Baum vor Maria mit dem Jesusknaben. Daß sich in einer merkwürdigen Weise in der
Weihnachtsnacht die Bäume dem großen Ereignis beugen, tritt uns sagenhaft
entgegen in den Legenden fast ganz Europas. Wir könnten nach Elsaß, nach Bayern gehen, überall treten uns die Legenden
entgegen, wie gewisse Bäume Früchte tragen in der Weihnacht, wie sie sich
neigen in der Weihnacht: alles wunderbare Symbole, die ankündigen sollen, wie
sich tatsächlich die Geburt des Jesuskindes offenbart als etwas, das mit dem
ganzen Leben der Erde zusammenhängt.
Und wenn wir uns an das erinnern, was wir so oft gesagt haben: Wie die uralten
spirituellen Strömungen von den Göttern der Menschheit gegeben waren, und wie
die Menschen in den Urzeiten hellseherische Einblicke in die göttlich-geistige
Welt hatten, wie dieses Hellsehen allmählich schwand, damit die Menschen zur
Eroberung des Ich kommen konnten -, wenn man sich vorstellt, wie da in der
ganzen menschlichen Organisation etwas vor sich geht wie ein Abdorren, wie ein
Dürrwerden der alten Gotteskräfte, und wie ein Durchsetzen der dürren
Gotteskräfte mit neuem Lebenswasser durch den Christus-Impuls, durch welchen
sich dasjenige vollzieht, was durch das Mysterium von Golgatha geschah: dann
erscheint uns dies in einem wunderbaren Bilde, wenn uns die Weihnachtslegenden
erzählen, wie die verdorrten und vertrockneten Rosen von Jericho in der
Weihenacht von selbst immer aufsprießen. Das war eine Legende, die wir überall
im Mittelalter verzeichnet finden, daß die Rosen von Jericho in der Christnacht
aufsprießen und sich entfalten, weil sie sich zuerst entfaltet hatten unter den
Schritten der Maria, die, als sie auf der Reise nach Ägypten den Jesusknaben
trug, über eine Stelle geschritten ist, wo ein Rosenstrauch gewachsen war. Ein
wunderbares Symbol für das, was mit den menschlich-göttlichen Kräften geschah,
daß selbst so dürre, so leblose Dinge wie Rosen, die man verdorrt am Wege
finden kann, die scheinbar tot sind, wieder aufquellen, wieder aufsprießen
durch den Christus-Impuls, der eintritt in die Zeitenentwickelung.
Daß dem Menschen so erst gegeben war in Wirklichkeit, was ihm von Ursprung an
zugedacht war, das drückt sich aus in dem Jesu-Geburtsfest, in dem Fest der
Geburt des Jesuskindleins. Ehe Adam und Eva waren, war zugedacht der Menschheit
- so will man sagen in der Weihnachtslegende - dasjenige, was noch in der ganz
unverdorbenen göttlichen Kindesnatur des Menschen liegt. Aber in Wahrheit -
wegen des Einflusses Luzifers - hat es die Menschheit erst erlangen können,
nachdem der ganze Zeitenverlauf sich abgespielt hatte von Adam und Eva bis zum
Mysterium von Golgatha.
Oh, man muß sagen, es erweckt tatsächlich eine tiefe
Empfindung in unserer Seele, wenn wir, wie zusammengedrängt, in die eine Nacht
vom 24. zum 25. Dezember für unser Nachdenken, für unser Nachempfinden das
haben, was die Menschheit durch die luziferischen Kräfte geworden ist von Adam
und Eva bis zur Geburt des Christus in dem Jesus. Wenn wir das empfinden, dann
empfinden wir schon genug die Bedeutung dieses Festes und empfinden dann auch,
was man damit-vor die Menschheit hinstellen konnte.
Es ist, wie wenn die Menschheit, wenn sie die Gelegenheit benützt, diese
Marksteine der Zeit als Meditationsstoffe zu nehmen, wirklich einmal gewahr
werden kann ihres reinen Ursprunges in den kosmischen Kräften des Universums.
Da den Blick hinaufhebend in die kosmischen Kräfte des Universums und ein wenig
eindringend durch Theosophia, durch wirkliche
spirituelle Weisheit in die Geheimnisse des Universums -, da kann die
Menschheit erst wieder reif werden, das zu begreifen, daß eine höhere Stufe des
Geburtsfestes des Jesus das ist, was als Christgeburtsfest einmal begriffen
worden ist durch die Gnostiker, das Christgeburtsfest, das am 6. Januar
eigentlich gefeiert sein sollte, das Fest der Geburt des Christus in dem Leibe
des Jesus von Nazareth. Aber, wie um sich vertiefen zu können in die zwölf
universellen Kräfte des Kosmos, stehen die zwölf heiligen Nächte da zwischen
dem Christfest und dem Fest, das am 6. Januar gefeiert sein sollte, das jetzt
das Fest der Heiligen Drei Könige ist, und das eigentlich das charakterisierte
Fest ist.
Wieder, ohne daß man es so recht gewußt hat in der
bisherigen Wissenschaft, stehen sie da, diese zwölf heiligen Nächte, wie aus
den verborgenen weisen Seelentiefen der Menschheit festgesetzt, wie wenn sie
sagen wollten: Empfindet alle Tiefe des Christfestes, aber versenkt euch dann
während der zwölf heiligen Nächte in die heiligsten Geheimnisse des Kosmos! -
Das heißt in das Land des Universums, aus dem der Christus heruntergezogen ist
auf die Erde. Denn nur, wenn die Menschheit den Willen haben wird, sich
inspirieren zu lassen durch den Gedanken an den heiligen kindlichen
Gottesursprung des Menschen, sich inspirieren zu lassen von jener Weisheit,
welche in die zwölf Kräfte, in die zwölf heiligen Kräfte des Universums dringt,
die symbolisch dargestellt sind in den zwölf Zeichen des Tierkreises, die sich
aber nur in Wahrheit darstellen durch die spirituelle Weisheit - nur, wenn die
Menschheit sich vertieft in die wahre spirituelle Weisheit und der Zeiten Lauf
erkennen lernt im großen Weltenall und im einzelnen
Menschen, nur dann wird zu ihrem eigenen Heile die Menschheit der Zukunft,
durch Geisteswissenschaft befruchtet, die Inspiration finden, die da kommen
kann von dem Jesu-Geburtsfest zum Eindringen in die zuversichtlichsten,
hoffnungsreichsten Zukunftsgedanken.
So dürfen wir das Weihnachtsfest auf unsere Seele wirken lassen als ein
Inspirationsfest, als ein Fest, das uns den Gedanken des Menschenursprungs in
dem heiligen göttlichen Menschenursprungskind so wunderbar vor die Seele führt.
Jenes Licht, das in der heiligen Nacht, als Symbol des Menschenlichtes, an
seinem Ursprung selber uns erscheint, jenes Licht, das uns in den neueren
Zeiten die Lichter des Weihnachtsbaumes symbolisieren: es ist zugleich, richtig
verstanden, das Licht, das uns die besten, stärksten Kräfte für unsere nach dem
wahren, echten Weltenfrieden, nach der wahren, echten Weltenbeseligung, nach
der wahren, echten Weltenhoffnung strebenden Seele geben kann.
Fühlen wir uns durch solche Gedanken an die Taten der Vergangenheit, an die
Festsetzungen der Vergangenheit, gekräftigt durch das, was wir immer brauchen
an Impulsen für die Zukunft: Weihnachtsgedanken, Erinnerungsgedanken an der
Menschheit Ursprung, Gedanken, zugleich wurzelhaft, um sich zu entfalten zur
echten, zur kräftigsten Seelenpflanze, zur echten Menschenzukunft.
Erstveröffentlichung Berlin 1913
GA 127 (1989), S 215 ff.