Der Seher Johannes

 

Johannes ist der letzte Überlebende aus dem Kreise jener zwölf Männer, die in der Nachfolge Jesu Freud und Leid mit ihrem Meister geteilt haben. Er hielt unter dem Kreuz von Golgatha in der Sterbestunde des Gottessohnes aus, erlebte am Auferstehungsgrab, daß der Tod niemals Ende, sondern immer Wandlung ist, erkannte später auf dem Ölberg anläßlich der »Himmelfahrt Christi«, daß Himmel und Erde eine Einheit bilden und die Vorgänge auf Erden irgendwie Widerschein der Entfaltung kosmischer Vorgänge im All sind. Man kann hier nicht trennen. Er hörte auch Jesu letzte Worte beim Scheiden von dieser unserer Sauerstoffbasis als Grundlage allen irdischen Lebens, daß am Ende des Zeitalters das Friedensreich Gottes stehen wird. Es wird nicht geschaffen durch Menschenhand, sondern durch Eingriff aus dem Kosmos, eben durch Christi Wiederkunft. Er hatte aus Jesu Munde persönlich gehört, welche Vorgänge globaler Art notwendigerweise diesem kosmischen Ereignis vorgebaut sein müssen, was also den Jünger als Beauftragten Christi erwartet.

 

Nun war er alt geworden, hatte die Neunzig vermutlich erreicht. Er hatte die Zerstörung Jerusalems im Jahre siebzig erlebt und die Zerstreuung der Urgemeinde in alle Winde. Es blieb nicht viel von ihr in Jerusalem übrig. Der Schwerpunkt der jungen Christenheit verlagerte sich nach Ephesus in Kleinasien, wo der greise Seher und getreue Jünger seines Herrn die Gemeinde leitete. Nach dem Tode des Paulus und Petrus und des Herrenbruders Jakobus war er für die gesamte Christenheit die Autorität, eine Säule aus verklungenen Zeiten.

 

Als die Auseinandersetzung mit dem Staat in unmittelbare Nähe rückte und die große Christenverfolgung um die Jahrhundertwende einsetzte, war einer der ersten Eingriffe des Staates die Verhaftung des führenden Mannes der Christenheit, des Bischofs von Ephesus, Johannes. Der greise Seher wurde auf die kleine Felseninsel Patmos verbannt, bevor die eigentliche Christenverfolgung im Imperium ihrem Höhepunkte zutrieb.

 

Hier auf Patmos in der Isolierung glaubte Johannes der bang fragenden Christenheit ein entscheidendes Wort für die bevorstehenden Auseinandersetzungen sagen zu müssen. Hier sitzt er also und gibt den Gemeinden als Hilfe weiter, was er selbst in der Stille einsamer Tage von der Herrlichkeit Gottes und dem Kampf, der der Gemeinde auf ihrem Gang durch die Zeiten verordnet ist, geschaut hat: »Es ist die Offenbarung Jesu Christi, um den Knechten Gottes zu zeigen, was in Kürze geschehen soll.« Was er schreibt, hat Ewigkeitswert und All­gemeingültigkeit. Es bezieht sich nicht nur einmalig auf die Verfolgungszeit durch Kaiser Domitian, ist vor allem von Bedeutung für das »Ende der Zeiten«. Er schreibt notwendi­gerweise »verschlüsselt«, hat aber den »Schlüssel« zum Öff­nen der Geheimnisse den Knechten Gottes in die Hand ge­geben.

Johannes selbst ist in hohem Alter, wie uns berichtet wird, eines natürlichen Todes gestorben.

 

Quelle: "Wörterbuch zur Offenbarung" von Günther Siegel, 1991, S. 15 - 17

 

Anmerkung: Der Text der "Offenbarung des Johannes" ist auf dieser Homepage nachzulesen. Als prophetisches Buch als einzige Apokalypse in den Kanon der Heiligen Schriften des Neuen Testamentes aufgenommen.