Prometheus

 

von Albert Richter

 

Als Zeus das uralte Göttergeschlecht der Titanen vom Throne gestoßen und selbst als der Beherrscher der Welt auf dem Olymp seine Wohnung genommen hatte, grünte und blühte es auf der Erde von allerlei Bäumen, Kräutern und Blumen; Tiere aller Art tummelten sich auf dem festen Lande, im Wasser und in den Lüften, aber es gab noch keine Menschen.

 

Da stieg Prometheus zur Erde nieder, ein Sohn des Titanen Japetos, und beschloß, Wesen auf ihr zu schaffen, die den Göttern ähnlich wären und in denen ein Geist wohnen und wirken könnte.

 

Darum knetete er Ton mit Wasser und formte daraus kunstvolle Gebilde, die an Gestalt den Göttern glichen, und von allen Tieren nahm er gute und böse Eigenschaften und schoß sie in die Brust der neuen Wesen ein. Als Athene diese Wesen sah, hatte sie ihre Freude an ihnen, und auf des Prometheus Bitte hauchte sie ihnen den göttlichen Odem ein.

 

So waren die ersten Menschen entstanden. Bald vermehrten sie sich und bevölkerten die Erde. Aber sie wußten noch nicht, wie sie sich ihrer Glieder und ihres Geistes bedienen sollten. Sie verstanden nicht, aus Ton Ziegel zu bereiten, die Bäume des Waldes zu zimmern und wohnliche Häuser, in die der Strahl der Sonne eindringen konnte, daraus zu erbauen. Gleich wimmelnden Ameisen wohnten sie in unterirdischen, finsteren Höhlen. Sie kannten kein sicheres Merkmal für das Nahen des rauhen Winters, des blütenduftenden Frühlings oder des fruchtspendenden Sommers. Sinn‑ und zwecklos war all ihr Tun.

 

Da erbarmte Prometheus sich seiner Geschöpfe. Er lehrte sie den Aufgang und Niedergang der Gestirne beobachten. Auch in der Zahlenkunst und in der Buchstabenschrift unterwies er sie und gab ihnen das Gedächtnis, das Werkzeug aller Wissenschaften und Künste. Wilde Tiere spannte er ins Joch, daß sie dem Leitseil gehorchten und dem Menschen bei seinen schwersten Arbeiten halfen. Rosse gewöhnte er an Zaum und Zügel, so daß sie sich geduldig an den Wagen spannen ließen. Auch die schnellsegelnden Schiffe ersann er und lehrte die Menschen, sich ihrer zu bedienen.

 

Kein Mittel war den Menschen bekannt, Krankheiten zu heilen. Da lehrte sie Prometheus den Gebrauch der Kräuter und wie man lindernde Salben mischen müsse. Endlich lenkte er den Blick der Menschen auch unter die Erde; die unterirdischen Schätze aus Eisen, Silber und Gold zeigte er ihnen und lehrte sie ihre Verarbeitung und Verwendung.

 

Als die Menschen so in allerlei Künsten unterrichtet waren und ihr Leben mit jeder Bequemlichkeit ausstatten konnten, wurden die Götter des Himmels auf sie aufmerksam, und sie waren bereit, ihnen ihren mächtigen Schutz zu gewähren, wenn die Menschen ihnen dafür Verehrung zollen und Opfergaben darbringen würden. Als aber die Art der Opfer festgestellt werden sollte, da bewirkte Prometheus durch einen Betrug, daß den Göttern von den Opfern der Menschen nur der schlechtere Teil zufiel. Er schlachtete einen gewaltigen Stier und sonderte dessen Stücke in zwei Haufen. Auf die eine Seite legte er das Fleisch und die Eingeweide, eingewickelt in die abgezogene Stierhaut, auf die andere alle Knochen, umgeben und verdeckt von dem Unschlitt (Talg). Dieser Haufen war aber der größere. Dann sprach Prometheus, listig lächelnd, zu Zeus: "Nimm, erlauchter Gott, wonach dein Herz Verlangen hat." Zeus wußte wohl, auf welchen Betrug Prometheus sann; er stellte sich aber, als wisse er nichts, und griff nach dem Unschlitt. Und als ob er den Betrug jetzt erst merke, sprach er: "Ich sehe wohl, Titanensohn, daß du die alten Listen noch nicht verlernt hast."

 

Zeus beschloß, Rache für den Betrug zu nehmen, und versagte den sterblichen Menschen die Gabe des himmlischen Feuers, dessen sie doch bedurften, um an Gesittung vollkommen zu werden. Auch dafür wußte Prometheus Rat. Er nahm den markigen Stengel des Riesenfenchels, und indem er sich damit dem feurigen Wagen des Sonnengottes näherte, setzte er ihn in glimmenden Brand. Dann stieg er mit ihm zur Erde nieder und entzündete einen schon vorher aufgeschichteten Holzstoß. Als Zeus den aufsteigenden Rauch gewahrte, zürnte er heftig und beschloß, Prometheus und das Menschengeschlecht zu bestrafen. Er beauftragte den Gott Hephaistos, ein herrliches Frauenbild zu formen, und als es fertig war, mußten die Götter und Göttinnen es mit prächtigen Gewändern und kostbarem Schmuck beschenken; frische Blumen zierten das Haar, und goldene Borten umschlangen den Leib; Hermes aber, der Götterbote, mußte der holden Frauengestalt die Kunst der Sprache verleihen. Pandora, die "All‑


Beschenkte", nannte man die Jungfrau. Zeus führte sie zur Erde hernieder und gab ihr eine verschlossene Büchse mit dem Auftrag, diese dem Epimetheus, dem Bruder des Prometheus, zu überbringen. Auf der Erde wurde die Jungfrau um ihres Liebreizes willen von allen Menschen angestaunt, und Epimetheus trug kein Bedenken, das Geschenk des Zeus aus ihrer Hand entgegenzunehmen, obgleich sein klügerer Bruder ihn vor den Listen des Zeus gewarnt und ihm geraten hatte, kein Geschenk von ihm anzunehmen.

 

Als Epimetheus die Büchse öffnete, entflog ihr eine unzählige Schar von Übeln, die der Gott in sie eingeschlossen hatte und die nun das Menschengeschlecht heimsuchten. Krankheiten und Fieber irrten Tag und Nacht unter den Menschen umher, Not und Elend waren überall und bedrückten die ehemals so glücklichen Menschen; ein früher Tod, der jetzt schneller als sonst daherkam, raubte ihnen die Freude am Leben.

 

Wieder wußte Prometheus Rat. Konnte er auch die Übel nicht bannen, so wollte er sie doch lindern. Darum nahm er den Menschen die Gabe, die Zukunft vorauszusehen, und gab ihnen die Hoffnung, die sie stets bessere Zeiten erwarten läßt.

 

Nun wandte sich der Zorn des Zeus gegen Prometheus, der die Menschen immer wieder gegen ihn in Schutz nahm. Den Hephaistos beauftragte er, den Frevler in die skythischen Einöden zu schleppen und ihn dort, hangend über einem schauerlichen Abgrunde, an eine Felsenwand des Berges Kaukasus mit unauflöslichen Ketten festzuschmieden. Ein Riese sollte ihm bei dieser Arbeit behilflich sein. Hephaistos hatte Mitleid mit Prometheus; dem Befehle seines Vaters Zeus aber mußte er Gehorsam leisten.

 

Während Prometheus stumm und ohne Klage das Schreckliche an sich vollziehen ließ, seufzte Hephaistos und bejammerte das Los des Unglücklichen. Der Riese aber höhnte, als Prometheus festgeschmiedet war: "Nun kannst du trotzen, kannst den Göttern ihre Vorrechte stehlen und sie deinen elenden Eintagsgeschöpfen, den Menschen, geben. Was können nun deine Sterblichen für dich tun, der du so viel für sie getan hast? Wahrlich, mit Unrecht nennen dich die Götter Prometheus, den 'Vorbedächtigen', denn hättest du dich vorher besser bedacht, so brauchtest du jetzt nicht in diesen Eisenfesseln zu schmachten." Hephaistos warf noch einen Blick des Mitleids auf den Unglücklichen und verschwand dann mit seinem rohen Begleiter.

 

Sogleich sandte Zeus einen Adler, der, auf Prometheus' Knien sitzend, täglich dem Unglücklichen die Leber aushacken mußte, die immer wieder nachwuchs. Diese Qual sollte nicht eher aufhören, bis einer freiwillig sich erböte, für den unsterblichen Prometheus zu sterben.

 

Schneller, als Prometheus es erwarten konnte, erschien ihm Hilfe. Nachdem er dreißig Jahre lang, an den Felsen angeschmiedet, über den brandenden Wogen gehangen hatte, kam des Weges der starke Held Herakles. Er hatte Erbarmen mit dem Geschick des Unglücklichen. Mit einem starken Pfeile schoß er den Adler tot und befreite Prometheus von seinen Fesseln.