Neues
Bewußtsein
Alles ist Trug, außer drei
Dingen, die der Anerkennung wert sind: 1. der geistig erwachte Mensch, 2. das
Wort der Erweckung und 3. die Brüderschaft der Erweckten ‑ das ist das
wahre Wesen des Buddhismus, der bis zum heutigen Tage die geistige Nahrung für
Millionen von Seelen im fernen Asien ist. Das ist die erste erhaltene Stufe
eines menschlichen Universalismus, die über die ausschließliche, national‑politische
Struktur der Religion und des gesellschaftlichen Lebens hinausführt.
Geboren im Lande der Kasten,
negierte der Buddhismus keineswegs die kastenmäßige Organisation der
Gesellschaft und strebte überhaupt nicht nach deren Zerstörung; seine Anhänger
hörten einfach auf, an das Prinzip dieser Struktur, an die unbedingte erbliche
Ungleichheit der Klassen der Gesellschaft zu glauben; entstanden inmitten eines
stark abgesonderten Volkstums, negierte er dieses Volkstum nicht, sondern er
führte nur das Bewußtsein der Menschen auf das Gebiet anderer, allgemeiner und
übervölkischer Begriffe, weshalb denn auch die in Indien schließlich abgelehnte
indische Religion, die theoretisch von der indischen Philosophie vorbereitet
war, in vielen Völkern einer anderen Rasse und einer anderen historischen
Erziehung Wurzeln fassen konnte.
Das Bewußtsein der negativen
Unendlichkeit des menschlichen Geistes war bei einzelnen philosophischen Geistern
schon vor dem Buddhismus vorhanden, aber in ihm bekam es zum erstenmal die Kraft
einer historischen Inkarnation im kollektiven Leben. Dank seinem sittlich‑praktischen
Universalismus, der nicht allein dem Geist, sondern noch mehr dem Herzen
entsprang, schuf der SHAKYAMUNI‑BUDDHA eine vor ihm in der Menschheit
nicht dagewesene Form des Gemeinschaftslebens ‑ die Brüderschaft der
Bettelmönche aus allen Kasten und allen Völkerschaften ‑ derer, die der
wahren Lehre lauschten (Schravaken) und den vollkommenen Weg gingen. Hier wurde
erstmalig die Würde der Persönlichkeit und die Beziehung zwischen ihr und der
Gesellschaft letztlich nicht durch das Faktum der erblichen Zugehörigkeit zu
einer bestimmten Sippe oder einer bestimmten national‑politischen
Organisation bestimmt, sondern durch den inneren Akt der Wahl eines bestimmten
geistigen Ideals. Die theoretischen Gedanken des ersten wahren BUDDHA und die
Lebensbedingungen seiner mönchischen Bruderschaft waren vielen historischen
Wandlungen unterworfen, aber das sittliche Wesen dessen, was er ausgedrückt und
geschaffen hat, hat sich bis heute in den Lamaklöstern Tibets und der Mongolei
klar und fest kristallisiert erhalten.
Dieses sittliche Wesen des Buddhismus
als eines persönlich, gesellschaftlichen Gebildes, das in den mehr als
zweitausend Jahren seiner historischen Existenz ausreichend deutlich
hervorgetreten ist, besteht im Gefühl der religiösen Ehrfurcht vor dem ersten
erweckten Erwecker, dem geistigen Stammvater aller weiteren Erweckten, vor dem
allseligen Lehrer; dann in der Forderung der Heiligkeit oder der vollkommenen Willenlosigkeit
(eine innere Askese im Unterschied zu jener äußeren Abtötung des Fleisches, in
der sich die »Gymnosophisten« übten und bis
zum heutigen Tage üben
und die den B U D
D H A
S H A K Y A M U N I nicht
befriedigte); und schließlich in dem Gebot eines allgemeinen Wohlwollens oder
eines wohlgeneigten Mitleidens mit allen Wesen ohne Ausnahme. Diese zuletzt
genannte, zugänglichste und anziehendste Seite des Buddhismus zeigt jedoch auch
seine Unzulänglichkeit.
Quelle: "Die historische Entwicklung des Bewußtseines" von
Wladimir Solowjew (1853-1900)