Kurze Erzählung vom Antichrist (1897/98 -Auszug)

 

von Wladimir Solowjew

 

Bald nach dem Erscheinen des »Offenen Weges« (eine Propagandaschrift für den noch unerkannten Antichristen, d.V.), der seinen Verfasser zum populärsten aller Menschen machte, die je auf der Welt erschienen sind, sollte in Berlin die internationale konstituierende Versammlung des Bundes der europäischen Staaten stattfinden. Dieser Bund war gegründet nach einer Reihe äußerer und innerer Kriege, die mit der Befreiung vom mongolischen Joch verbunden waren und die Karte Europas beträchtlich verändert hatten. Jetzt drohte ihm Gefahr vom Zusammenstoß nun nicht mehr von Nationen, sondern von politischen und sozialen Parteien. Die Lenker der Politik der europäischen Gemeinschaft, die dem mächtigen Bruderbund der Freimaurer angehörten, spürten, daß der Gemeinschaft die Exekutivgewalt fehlte. Die mit solcher Mühe errungene europäische Einheit drohte jeden Augenblick wieder zu zerfallen. Im Bundesrat oder der Weltverwaltung (Comité permanent universel) herrschte keine Eintracht, weil man nicht alle Stellen mit wirklichen, in die Dinge eingeweihten Freimaurern hatte besetzen können. Unabhängige Glieder der Weltverwaltung bildeten miteinander Separatkonventionen, und es drohte neuer Krieg. Da beschlossen die »Eingeweihten«, die Exekutivgewalt in die Hände eines einzigen, mit reichlichen Vollmachten ausgestatteten Mannes zu legen. Hauptkandidat war ein heimliches Glied des Ordens ‑ der »Mensch der Zukunft«. Er war die einzige Persönlichkeit, die in der ganzen Welt einen hohen Ruf hatte. Von Beruf gelehrter Artillerist, seinen Vermögensverhältnissen nach Großkapitalist, stand er in freundschaftlichen Beziehungen zu allen Kreisen der Hochfinanz und des Militärs. (...)


 

Anmerkung: Solowjev glaubte offenbar wie viele andere, daß eine internationale Vereinigung der Freimaurerlogen erheblichen Einfluß auf die große Politik habe. Die Freimaurerlogen waren auch in Rußland weit verbreitet und hatten besonders im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen tiefen Einfluß auf die russische Bildungsschicht. Vgl. dazu L. Tolstojs Roman »Krieg und Frieden«.

 

 

 

 

Der Kaiser, bleich, aber ruhig, wandte sich zur Versammlung: »Ihr habt das Gottesgericht gesehen. Ich wollte niemandes Tod, aber mein himmlischer Vater rächt seinen geliebten Sohn. Die Sache ist entschieden. Wer wird mit dem Höchsten streiten"? Sekretäre! schreibt: Das ökumenische Konzil aller Christen hat, nachdem Feuer vom Himmel den unsinnigen Gegner der göttlichen Majestät zerschmettert hat, den machtvollen Kaiser von Rom und dem ganzen Erdkreis einstimmig als seinen obersten Führer und Herrn anerkannt.«  Plötzlich erscholl im Tempel ein einziges lautes und deutliches Wort: »Contradicitur(Es wird widersprochen). Papst Petrus der Zweite stand auf, und mit gerötetem Gesicht, am ganzen Leibe vor Zorn bebend, erhob er seinen Krummstab auf den Kaiser zu: »Unser alleiniger Herr ist Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Wer du aber bist (nämlich der Antichrist) ‑ du hast es gehört. Hinweg von uns, Kain, Brudermörder! Hinweg, Gefäß des Teufels! Durch die Macht Christi stoße ich, Diener der Diener Gottes, dich räudigen Hund auf ewig hinaus aus dem Garten Gottes und übergebe dich deinem Vater, dem Satanas!  Anathema, anathema, anathema!« Während er sprach, machte der Großmagier unter seiner Mantille unruhige Bewegungen, und lauter als das letzte Anathema erdröhnte ein Donnerschlag, und der letzte Papst fiel leblos zu Boden. »Also werden alle meine Feinde umkommen von der Hand meines Vaters« sagte der Kaiser. »Pereant, pereant« (Sie mögen zugrunde gehen), schrien die zitternden Kirchenfürsten. Er wandte sich um, und, sich stützend auf die Schulter des Großmagiers, schritt er, begleitet von seinem ganzen Haufen, langsam durch die Tür hinter der Estrade hinaus. Im Tempel blieben die beiden Toten und der eng geschlossene Kreis von Christen, die vor Furcht halbtot waren. Der einzige, der einen klaren Kopf behalten hatte, war Professor Pauli. Der allgemeine Schrecken hatte in ihm alle Kräfte des Geistes gleichsam geweckt. Auch äußerlich veränderte er sich ‑ er bekam ein großartiges und begeistertes Aussehen. Mit sicheren Schritten ging er hinauf auf die Estrade, setzte sich auf einen der leergewordenen Plätze eines Staatssekretärs, nahm ein Blatt Papier und begann, etwas darauf zu schreiben. Nachdem er geendigt hatte, stand er auf und las mit lauter Stimme vor: »Zum Ruhme unseres alleinigen Erlösers Jesus Christus. Das in Jerusalem versammelte ökumenische Konzil der Kirchen Gottes faßt, nachdem unser allerseligster Bruder Johannes, der Vorsteher der östlichen Christenheit, den großen Betrüger und Feind Gottes dessen überführt hat, daß er der wirkliche, im Wort Gottes vorher verkündigte Antichrist ist, und nachdem unser allerseligster Vater Petrus, der Vorsteher der westlichen Christenheit, ihn gesetz- ­und ordnungsgemäß auf ewig aus der Kirche Gottes verstoßen hat ‑ das Konzil faßt nun, vor den Leibern dieser zwei für die Wahrheit getöteten Zeugen Christi, den Beschluß: alle Gemeinschaft mit dem Verstoßenen und seiner greulichen Rotte abzubrechen und in die Wüste zu gehen, um dort die nun gewiß eintretende Wiederkunft unseres wahren Herrn Jesus Christus zu erwarten.«  Die Menge wurde von neuer Kraft beseelt, und es ertönten laute Stimmen: Adveniat! Adveniat cito! Komm, Herr Jesu, komm! Grjadi, Gospodi Iisuse!

 

Professor Pauli schrieb hinzu und las vor: »Nach der einstimmigen Annahme dieses ersten und letzten Beschlusses des letzten ökumenischen Konzils unterschreiben wir mit unseren Namen« ‑ und er machte der Versammlung ein aufforderndes Zeichen. Alle gingen eilig auf die Estrade und unterschrieben. Zum Schluß unterschrieb in großen gotischen Buchstaben: »duorum defunctorum testium locum tenens Ernst Pauli.« (Stellvertreter der beiden abgeschiedenen Zeugen Christi) »Jetzt gehen wir mit unserer Lade des letzten Bundes!« ‑ sagte er, indem er auf die zwei Toten wies. Die Leiber wurden auf Bahren gelegt. Langsam, unter dem Gesang lateinischer, deutscher und kirchenslawischer Hymnen schritten die Christen dem Ausgang des Haram esch‑Scherif zu. Hier wurde der Zug aufgehalten durch einen vom Kaiser gesandten Staatssekretär in Begleitung eines Offiziers und eines Zuges der Garde. Die Soldaten hielten am Eingang, und von einem erhöhten Platz aus las der Staatssekretär vor: »Befehl der göttlichen Majestät: Zur Belehrung des christlichen Volkes und zu seiner Bewahrung vor übelgesinnten, Unruhe und Verführung stiftenden Menschen haben wir es für heilsam erachtet, die Leichname der zwei durch Feuer vom Himmel getöteten Empörer öffentlich auszustellen auf der Straße der Christen (Haret en-­Nasara), am Eingang des Haupttempels dieser Religion, der da heißt nach dem Grabe und nach der Auferstehung des Herrn, damit ein jeder sich überzeugen könne, daß sie wirklich tot sind. Ihre widerspenstigen Gesinnungsgenossen indessen, die alle unsere Wohltaten böswillig zurückweisen und in unsinniger Verblendung ihre Augen verschließen vor den klaren Zeichen der Gottheit selbst ‑ sie werden durch unsere Barmherzigkeit und unsere Fürsprache vor dem himmlischen Vater von ihrem verdienten Schicksal ‑ dem Tode durch Feuer vom Himmel ‑ befreit, und es wird ihnen völlige Freiheit gelassen; nur um des Gemeinwohles willen wird es ihnen verboten, in Städten und anderen bewohnten Orten zu weilen, auf daß sie mit ihren bösen Anschlägen nicht unschuldige und einfältige Menschen verwirren und verführen.« Nachdem er geendet hatte, traten auf ein Zeichen des Offiziers acht Soldaten an die Bahren mit den Leibern der Toten heran.

 

»Es werde erfüllt, was geschrieben steht!« ‑ sagte Professor Pauli, und die Christen, welche die Bahren getragen hatten, übergaben sie wortlos den Soldaten, die sich durch den nordwestlichen Eingang entfernten; die Christen jedoch benutzten den nordöstlichen und entwichen, am Ölberg vorbei, eilig aus der Stadt, in Richtung Jericho, auf einem Wege, der vorsorglich durch Gendarmen und zwei Kavallerieregimenter von der Volksmenge gesäubert war. Auf den wüsten Höhen um Jericho wurde beschlossen, einige Tage zu warten. Am nächsten Morgen kamen aus Jerusalem befreundete christliche Pilger und erzählten, was sich in Zion ereignet hatte: Nach einem Mahl bei Hofe wurden alle Konzilsmitglieder in den riesigen Thronsaal geladen, der um die Stelle gebaut war, an der Salomos Thron gestanden haben soll. Hier wandte sich der Kaiser an die Vertreter der katholischen Hierarchie und erklärte ihnen, daß das Heil der Kirche von ihnen offensichtlich die sofortige Wahl eines Nachfolgers des Apostels Petrus verlange, daß nach den gegebenen Umständen die Wahl summarisch sein müsse, daß seine, des Kaisers Anwesenheit gewisse rituelle Unterlassungen reichlich aufwiege, da er ja der Führer und Vertreter der gesamten christlichen Welt sei, und daß er im Namen aller Christen dem heiligen Kollegium vorschlage, seinen geliebten Freund und Bruder Apollonius zu wählen, damit aufgrund ihrer engen Beziehungen Kirche und Staat zum Heile beider sich fest und unauflöslich miteinander verbänden. Das heilige Kollegium zog sich zum Konklave in ein besonderes Gemach zurück und kehrte nach anderthalb Stunden mit dem neuen Papst Apollonius zurück. Während die Wahl vollzogen wurde, hatte der Kaiser in einer schönen Rede voller Sanftmut und Weisheit die orthodoxen und die evangelischen Vertreter dazu überredet, angesichts der neuen großen Ära der Geschichte des Christentums den alten Hader zu beenden; er stehe mit seinem Wort dafür ein, daß Apollonius es verstehen werde, allen geschichtlich entstandenen Mißbräuchen der päpstlichen Gewalt für immer ein Ende zu machen. Die durch diese Rede überzeugten Vertreter der Orthodoxie und des Protestantismus hatten eine Urkunde über die Vereinigung der Kirchen aufgesetzt, und als Apollonius mit den Kardinälen unter freudigen Ausrufen der ganzen Versammlung im Thronsaal erschien, brachten ihm ein griechischer Bischof und ein evangelischer Pastor das Schriftstück dar. »Accipio et approbo et laetificatur cor meum" (Ich nehme es an und billige es, und mein Herz freut sich.)sagte Apollonius, indem er das Dokument unterschrieb. »Ich bin ein ebenso wahrhaft orthodoxer und wahrhaft evangelischer Christ wie ich wahrhafter Katholik bin«  ‑ fügte er hinzu und wechselte mit dem Griechen und dem Deutschen den Bruderkuß. Dann trat er heran zum Kaiser, der ihn umarmte und ihn lange umfangen hielt. Da begannen seltsame leuchtende Punkte im Schloß und im Tempel in allen Richtungen umherzufliegen; sie wuchsen und verwandelten sich in lichte Formen seltsamer Wesen; es regnete Blumen, wie sie auf Erden nie gesehen waren, die die Luft mit einem unbekannten Duft erfüllten. Aus der Höhe erklangen hinreißende, Herz und Seele ergreifende Töne von bisher nie gehörten Musikinstrumenten, und unsichtbare Sänger priesen mit Engelstimmen die neuen Herrscher Himmels und der Erden. Unterdessen ertönte ein schreckliches unterirdisches Lärmen in der nordwestlichen Ecke des mittleren Schlosses unter dem Kubbet el‑Aruach, das heißt der Kuppel der Seelen, wo sich nach islamischen Überlieferungen der Eingang in die Unterwelt befindet. Als die Versammlung sich auf die Aufforderung des Kaisers hin auf diese Seite begab, hörten alle deutlich zahllose feine und durchdringende Stimmen ‑ halb klang es, wie von Kindern, halb, wie von Teufeln ‑, die schrien: »Die Zeit ist gekommen, laßt uns frei, ihr Erlöser, Erlöser!« Als aber Apollonius sich zum Felsen niederbeugte und in einer unbekannten Sprache dreimal etwas hinunterschrie, verstummten die Stimmen, und der unterirdische Lärm hörte auf. Inzwischen umlagerte eine unübersehbare Volksmenge von allen Seiten den Haram esch‑Scherif. Bei Einbruch der Nacht trat der Kaiser, zusammen mit dem neuen Papst, auf die östliche Freitreppe hinaus und erregte einen »Sturm der Begeisterung«. Huldvoll grüßte er nach allen Seiten, während Apollonius aus großen Körben, die ihm von Diakonsdienste tuenden Kardinälen gereicht wurden, ununterbrochen großartige römische Kerzen, die sich durch die Berührung seiner Hand entzündeten, herausnahm und in die Luft warf, auch Raketen und Feuerfontänen, die als Phosphorperlen aufflammten oder in Regenbogenfarben erstrahlten; und all dies verwandelte sich bei der Berührung mit der Erde in zahllose verschiedenfarbige Blätter mit vollkommenem und absolutem Ablaß für alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Sünden. Der Jubel des Volkes kannte keine Grenzen. Zwar behaupteten einige, sie hätten mit eigenen Augen gesehen, wie sich die Ablaßzettel in ganz abscheuliche Kröten und Schlangen verwandelt hätten. Nichtsdestoweniger war die überwältigende Mehrheit in einem Taumel der Begeisterung, und die Volksfeste dauerten noch einige Tage, wobei der neue Papst und Wundermann schließlich so wunderbare und unwahrscheinliche Dinge vollbrachte, daß der Versuch einer Wiedergabe eine völlig nutzlose Mühe wäre.

 

Zur gleichen Zeit ergaben sich bei den wüsten Höhen von Jericho die Christen dem Fasten und dem Gebet. Am Abend des vierten Tages, als es dunkel geworden war, drang Professor Pauli mit neun treuen Begleitern auf Eseln und mit einem Wagen heimlich in Jerusalem ein, auf Nebenstraßen umgingen sie den Haram esch‑Scherif, gelangten auf den Haret en‑Nasara und kamen schließlich zum Eingang der Auferstehungskirche, wo die Leiber des Papstes Petrus und des Staretz Johannes auf dem Pflaster lagen. Die Straße war zu dieser Stunde menschenleer, die ganze Stadt war zum Haram esch-­Scherif geströmt. Die Wachsoldaten lagen in tiefem Schlaf. Professor Pauli und die mit ihm gekommen waren, die Leiber zu holen, fanden, daß diese von der Verwesung völlig unberührt geblieben, ja nicht einmal starr oder schwer geworden waren. Sie legten sie auf Bahren, brachten Mäntel heran und deckten sie damit zu und kehrten auf den gleichen Umgehungswegen zu den Ihren zurück; doch kaum hatten sie die Bahren auf die Erde gestellt, als der Geist des Lebens in die Toten zurückkehrte. Sie regten sich, um die sie bedeckenden Mäntel von sich abzuwerfen. Mit freudigen Ausrufen eilten alle, ihnen zu helfen, und bald standen die beiden Wiederbelebten heil und unversehrt auf ihren Füßen. Und der neu zum Leben erwachte Staretz Johannes begann: »Nun, Kindlein, seht: Wir haben uns also nicht voneinander getrennt. Und gebt acht, was ich euch jetzt sage: Es ist Zeit, daß das letzte Gebet Christi über Seine Jünger in Erfüllung gehe, daß sie Eins seien, gleich wie Er selbst mit dem Vater Eins ist. Und so, Kindlein, geben wir um dieser Einheit in Christo willen unserem geliebten Bruder Petrus die Ehre. Er soll zum Schluß die Schafe Christi weiden. So sei es, Bruder! « Und er umarmte den Petrus. Da trat Professor Pauli heran: »Tu es Petrus«  wandte er sich an den Papst: »Jetzt ist es ja gründlich erwiesen und außer jeden Zweifel gesetzt. «  Und mit seiner Rechten drückte er fest dessen Hand, und die Linke reichte er dem Staretz Johannes mit den Worten »So also, Väterchen, nun sind wir ja eins in Christo.« ‑ So vollzog sich die Vereinigung der Kirchen inmitten dunkler Nacht, an einem hochgelegenen und einsamen Ort. Doch das Dunkel der Nacht wurde plötzlich durch einen hellen Glanz erleuchtet, und am Himmel erschien ein großes Zeichen: ein Weib, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen, und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen. Die Erscheinung verharrte einige Zeit an der Stelle und bewegte sich dann langsam nach Süden. Papst Petrus erhob seinen Krummstab und rief: »Das ist unser Panier! Ihm gehen wir nach.« Und begleitet von den beiden Ältesten und der ganzen Christenschar ging er der Erscheinung nach ‑ zum Berge Gottes, zum Sinai ...

 

(Hier hielt Herr Z. im Lesen inne.)

 

DAME. Wollen Sie denn nicht fortfahren?

 

HERR Z. Das Manuskript bricht hier ab. Der Vater Pansofij hat seine Erzählung nicht vollenden können. Als er schon krank war, hat er mir erzählt, was er weiterhin hatte schreiben wollen ‑ »sobald ich wieder gesund bin«. Er ist aber nicht mehr gesund geworden, und das Ende seiner Erzählung ist mit ihm im Danielskloster begraben.

 

DAME. Aber Sie erinnern sich doch an das, was er Ihnen gesagt hat: So erzählen Sie!

 

HERR Z. Nur die Hauptzüge sind mir in Erinnerung geblieben. Nachdem die geistlichen Führer und Vertreter der Christenheit in die arabische Wüste gegangen waren, wo, aus allen Ländern zusammenströmend, Scharen der treuen Eiferer der Wahrheit zu ihnen stießen, konnte der neue Papst durch seine unerhörten Zeichen und Wunder alle übrigen, dem Antichrist weiterhin zujubelnden, oberflächlichen Christen verführen. Er erklärte, er habe durch seine Schlüsselgewalt die Pforten zwischen der irdischen und der jenseitigen Welt geöffnet, und wirklich wurde der Verkehr von Lebendigen mit Toten sowie von Menschen mit Dämonen eine gewöhnliche Erscheinung, und es entwickelten sich neue, nie gekannte Arten der mystischen Unzucht und der Dämonolatrie. Doch kaum hatte der Kaiser begonnen, sich auf dem nunmehr religiös untermauerten Boden sicher zu fühlen, und kaum hatte er, dem ständigen Drängen der geheimnisvollen »väterlichen« Stimme folgend, sich als die einzige wahre Verkörperung der höchsten weltbeherrschenden Gottheit bezeichnet  ‑ als ein neues Unheil über ihn hereinbrach, und zwar von einer Seite, von der es niemand erwartet hätte: Die Juden erhoben sich.

 

Diese Nation, die damals auf dreißig Millionen gewachsen war, war nicht ganz unbeteiligt gewesen an der Vorbereitung und Festigung der Welterfolge des Übermenschen. Als er aber dann seine Residenz nach Jerusalem verlegt und dabei unter den Juden heimlich das Gerücht hatte verbreiten lassen, daß er die Aufrichtung der Weltherrschaft Israels als seine Hauptaufgabe betrachte, da hatten sie ihn als den Messias anerkannt, und ihre Begeisterung und Ergebenheit war ins Grenzenlose gestiegen. Und plötzlich standen sie nun auf, zorn‑ und racheschnaubend. Diese Wendung, die in der Schrift und der Tradition unbezweifelbar vorausgesagt wird, hat sich Vater Pansofij vielleicht allzu einfach und realistisch folgendermaßen vorgestellt: Die Juden, die den Kaiser für einen reinen Vollblutisraeliten gehalten hatten, sollten zufällig bemerkt haben, daß er nicht einmal beschnitten war. Am gleichen Tage war ganz Jerusalem und am folgenden ganz Palästina in Aufruhr. Die grenzenlose und glühende Ergebenheit, die sie dem Retter Israels, dem verheißenen Messias bisher dargebracht hatten, verwandelte sich in einen ebenso grenzenlosen und ebenso glühenden Haß gegen den verschlagenen Betrüger, gegen den frechen Usurpator. Das ganze Judentum stand auf wie ein Mann, und seine Feinde sahen mit Erstaunen, daß die Seele Israels in ihrer Tiefe nicht vom Rechnen und vom Verlangen nach Mammon lebt, sondern von der Kraft eines in seinem Herzen lebenden Gefühls von der Hoffnung und dem Zorn seines uralten messianischen Glaubens. Der Kaiser, der einen so plötzlichen Ausbruch nicht erwartet hatte, verlor die Selbstbeherrschung und gab einen Befehl heraus, der alle ungehorsamen Juden und Christen zum Tode verurteilte. Viele Tausende und Zehntausende, die nicht mehr zu den Waffen hatten greifen können, wurden schonungslos hingemordet. Doch bald war eine Millionenarmee von Juden im Besitz Jerusalems und schloß den Antichrist im Haram esch‑Scherif ein. Zu seiner Verfügung war nur ein Teil der Garde, der die Masse des Feindes nicht überwältigen konnte. Mit Hilfe der Zauberkunst seines Papstes gelang es dem Kaiser, durch die Reihen der Belagerer hindurchzukommen, und bald erschien er wieder in Syrien mit einem unzählbaren Heer aus verschiedenen heidnischen Stämmen. Ohne viel Hoffnung auf Erfolg gingen die Juden ihm entgegen. Doch kaum kamen die Vorhuten der beiden Armeen miteinander in Berührung, als ein Beben von nie dagewesener Stärke die Erde erschütterte ‑ am Toten Meer, in dessen Nähe sich die kaiserlichen Truppen aufgestellt hatten, öffnete sich der Krater eines riesigen Vulkans, und Feuerströme, die in einem einzigen Flammensee zusammenflossen, verschlangen den Kaiser, all seine zahllosen Regimenter und seinen ständigen Begleiter, den Papst Apollonius, dem all seine Magie nichts mehr nützte. Die Juden eilten indessen nach Jerusalem und flehten den Gott Israels in Furcht und Zittern um Rettung an. Als die heilige Stadt ihnen schon vor Augen war, tat sich der Himmel auf in einem großen Blitz, der schien vom Aufgang bis zum Niedergang und sie erblickten Christus, der in königlichem Gewande zu ihnen herabkam, mit den Nägelmalen an den ausgebreiteten Händen. Zur gleichen Zeit bewegte sich vom Sinai zum Zion die Schar der von Petrus, Johannes und Paulus geführten Christen, und von allen Seiten stießen noch andere freudig bewegte Scharen zu ihnen: Das waren alle vom Antichrist getöteten Juden und Christen. Sie waren wieder lebendig geworden und begannen für tausend Jahre mit Christo zu herrschen. Hier wollte Vater Pansofij seine Erzählung enden lassen, da ihr Thema ja nicht die allgemeine Katastrophe des Weltenbaus war, sondern nur das Ende unseres historischen Prozesses, das aus dem Erscheinen, dem Triumph und dem Untergang des Antichrist besteht.

 

1897/1898

 

Solowjew, Wladimir Sergejewitsch, russischer Philosoph, geboren am 28.1.1853 in Moskau, gestorben am13.8.1900 in Uskoje bei Moskau. Solowjew verwarf die Abtrennung des Glaubens vom staatlichen Bereich und entwarf eine Theokratie im Sinne der Verwirklichung des Gottesreiches auf Erden. Etwa seit 1890 wandte er sich stärker theoretischen Problemen zu. Religiös hielt er eine Entscheidung der Menschheit für oder gegen Christus für unumgänglich. Gegen Ende seines Lebens wurde Solowjews Stimmung apokalyptisch. (DER NEUE BROCKHAUS, Wiesbaden 1960)


 

 

 

 

Das Böse ist in unserer Welt, in der Welt, wie sie ist, nicht nur immer zugegen, nicht nur durch keinen geschichtlichen Fortschritt zu überwinden, sondern es hat in vieler Hinsicht sogar eine größere, eine elementarere Kraft als das Gute. Das ewige Symbol für diese Macht des Bösen und für diese Schwäche des Guten ist das Kreuz Christi. Die Apokalyptik ist die Übertragung der Kreuzeserfahrung von einem Einzelschicksal auf die ganze Geschichte.

 

Aus dem Nachwort (Deutsche Gesamtausgabe der Werke von Wladimir Solowjew, hg. von Wladimir Szylkarski u.a., 8. Band, München 1979, S. 587)