Kurze Erzählung vom Antichrist (1897/98 -Auszug)
von Wladimir Solowjew
Bald nach dem Erscheinen des
»Offenen Weges« (eine Propagandaschrift für den noch unerkannten Antichristen, d.V.), der seinen Verfasser zum populärsten aller Menschen
machte, die je auf der Welt erschienen sind, sollte in Berlin die
internationale konstituierende Versammlung des Bundes der europäischen Staaten
stattfinden. Dieser Bund war gegründet nach einer Reihe äußerer und innerer
Kriege, die mit der Befreiung vom mongolischen Joch verbunden waren und die
Karte Europas beträchtlich verändert hatten. Jetzt drohte ihm Gefahr vom
Zusammenstoß nun nicht mehr von Nationen, sondern von politischen und sozialen
Parteien. Die Lenker der Politik der
europäischen Gemeinschaft, die dem mächtigen Bruderbund der Freimaurer
angehörten, spürten, daß der Gemeinschaft die Exekutivgewalt fehlte. Die mit solcher Mühe errungene
europäische Einheit drohte jeden Augenblick wieder zu zerfallen. Im Bundesrat oder der Weltverwaltung (Comité permanent universel) herrschte keine Eintracht, weil man nicht
alle Stellen mit wirklichen, in die Dinge eingeweihten Freimaurern hatte besetzen können. Unabhängige Glieder
der Weltverwaltung bildeten miteinander Separatkonventionen, und es drohte
neuer Krieg. Da beschlossen die »Eingeweihten«, die Exekutivgewalt in die Hände
eines einzigen, mit reichlichen Vollmachten ausgestatteten Mannes zu legen.
Hauptkandidat war ein heimliches Glied des Ordens ‑ der »Mensch der
Zukunft«. Er war die einzige Persönlichkeit, die in der ganzen Welt einen hohen
Ruf hatte. Von Beruf gelehrter Artillerist, seinen Vermögensverhältnissen nach
Großkapitalist, stand er in freundschaftlichen Beziehungen zu allen Kreisen der
Hochfinanz und des Militärs. (...)
Anmerkung: Solowjev glaubte offenbar wie viele
andere, daß eine internationale Vereinigung der Freimaurerlogen erheblichen
Einfluß auf die große Politik habe. Die Freimaurerlogen waren auch in Rußland
weit verbreitet und hatten besonders im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts
einen tiefen Einfluß auf die russische Bildungsschicht. Vgl. dazu L. Tolstojs
Roman »Krieg und Frieden«.
Der Kaiser, bleich, aber
ruhig, wandte sich zur Versammlung: »Ihr habt das Gottesgericht gesehen. Ich
wollte niemandes Tod, aber mein himmlischer Vater rächt seinen geliebten Sohn.
Die Sache ist entschieden. Wer wird mit dem Höchsten streiten"? Sekretäre!
schreibt: Das ökumenische Konzil aller Christen hat, nachdem Feuer vom Himmel
den unsinnigen Gegner der göttlichen Majestät zerschmettert hat, den
machtvollen Kaiser von Rom und dem ganzen Erdkreis einstimmig als seinen
obersten Führer und Herrn anerkannt.« Plötzlich erscholl im Tempel ein einziges
lautes und deutliches Wort: »Contradicitur.« (Es wird widersprochen). Papst Petrus
der Zweite stand auf, und mit gerötetem Gesicht, am ganzen Leibe vor Zorn
bebend, erhob er seinen Krummstab auf den Kaiser zu: »Unser alleiniger Herr ist
Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Wer du aber bist (nämlich der
Antichrist) ‑ du hast es gehört. Hinweg von uns, Kain, Brudermörder!
Hinweg, Gefäß des Teufels! Durch die Macht Christi stoße ich, Diener der Diener
Gottes, dich räudigen Hund auf ewig hinaus aus dem Garten Gottes und übergebe dich
deinem Vater, dem Satanas! Anathema, anathema, anathema!« Während er
sprach, machte der Großmagier unter seiner Mantille unruhige Bewegungen, und
lauter als das letzte Anathema erdröhnte ein Donnerschlag, und der letzte Papst
fiel leblos zu Boden. »Also werden alle meine Feinde umkommen von der Hand
meines Vaters« sagte der Kaiser. »Pereant, pereant« (Sie mögen zugrunde gehen), schrien die zitternden Kirchenfürsten.
Er wandte sich um, und, sich stützend auf die Schulter des Großmagiers, schritt
er, begleitet von seinem ganzen Haufen, langsam durch die Tür hinter der
Estrade hinaus. Im Tempel blieben die beiden Toten und der eng geschlossene
Kreis von Christen, die vor Furcht halbtot waren. Der einzige, der einen klaren
Kopf behalten hatte, war Professor Pauli. Der allgemeine Schrecken hatte in ihm
alle Kräfte des Geistes gleichsam geweckt. Auch äußerlich veränderte er sich ‑
er bekam ein großartiges und begeistertes Aussehen. Mit sicheren Schritten ging
er hinauf auf die Estrade, setzte sich auf einen der leergewordenen
Plätze eines Staatssekretärs, nahm ein Blatt Papier und begann, etwas darauf zu
schreiben. Nachdem er geendigt hatte, stand er auf und las mit lauter Stimme
vor: »Zum Ruhme unseres alleinigen Erlösers Jesus Christus. Das in Jerusalem
versammelte ökumenische Konzil der Kirchen Gottes faßt, nachdem unser allerseligster Bruder Johannes, der Vorsteher der östlichen
Christenheit, den großen Betrüger und Feind Gottes dessen überführt hat, daß er
der wirkliche, im Wort Gottes vorher verkündigte Antichrist ist, und nachdem
unser allerseligster Vater Petrus, der Vorsteher der
westlichen Christenheit, ihn gesetz- und ordnungsgemäß auf ewig aus der Kirche
Gottes verstoßen hat ‑ das Konzil faßt nun, vor den Leibern dieser zwei
für die Wahrheit getöteten Zeugen Christi, den Beschluß: alle Gemeinschaft mit
dem Verstoßenen und seiner greulichen Rotte abzubrechen und in die Wüste zu
gehen, um dort die nun gewiß eintretende Wiederkunft unseres wahren Herrn Jesus
Christus zu erwarten.« Die Menge wurde
von neuer Kraft beseelt, und es ertönten laute Stimmen: Adveniat! Adveniat cito! Komm,
Herr Jesu, komm! Grjadi, Gospodi Iisuse!
Professor Pauli schrieb hinzu
und las vor: »Nach der einstimmigen Annahme dieses ersten und letzten
Beschlusses des letzten ökumenischen Konzils unterschreiben wir mit unseren Namen«
‑ und er machte der Versammlung ein aufforderndes Zeichen. Alle gingen
eilig auf die Estrade und unterschrieben. Zum Schluß unterschrieb in großen
gotischen Buchstaben: »duorum defunctorum testium locum tenens
Ernst Pauli.« (Stellvertreter der beiden abgeschiedenen Zeugen Christi) »Jetzt gehen wir mit unserer Lade des letzten Bundes!« ‑ sagte er,
indem er auf die zwei Toten wies. Die Leiber wurden auf Bahren gelegt. Langsam,
unter dem Gesang lateinischer, deutscher und kirchenslawischer Hymnen schritten
die Christen dem Ausgang des Haram esch‑Scherif zu. Hier wurde der Zug aufgehalten durch
einen vom Kaiser gesandten Staatssekretär in Begleitung eines Offiziers und
eines Zuges der Garde. Die Soldaten hielten am Eingang, und von einem erhöhten
Platz aus las der Staatssekretär vor: »Befehl der göttlichen Majestät: Zur
Belehrung des christlichen Volkes und zu seiner Bewahrung vor übelgesinnten,
Unruhe und Verführung stiftenden Menschen haben wir es für heilsam erachtet,
die Leichname der zwei durch Feuer vom Himmel getöteten Empörer öffentlich
auszustellen auf der Straße der Christen (Haret en-Nasara), am Eingang des Haupttempels dieser Religion,
der da heißt nach dem Grabe und nach der Auferstehung des Herrn, damit ein
jeder sich überzeugen könne, daß sie wirklich tot sind. Ihre widerspenstigen
Gesinnungsgenossen indessen, die alle unsere Wohltaten böswillig zurückweisen
und in unsinniger Verblendung ihre Augen verschließen vor den klaren Zeichen
der Gottheit selbst ‑ sie werden durch unsere Barmherzigkeit und unsere
Fürsprache vor dem himmlischen Vater von ihrem verdienten Schicksal ‑ dem
Tode durch Feuer vom Himmel ‑ befreit, und es wird ihnen völlige Freiheit
gelassen; nur um des Gemeinwohles willen wird es ihnen verboten, in Städten und
anderen bewohnten Orten zu weilen, auf daß sie mit ihren bösen Anschlägen nicht
unschuldige und einfältige Menschen verwirren und verführen.« Nachdem er
geendet hatte, traten auf ein Zeichen des Offiziers acht Soldaten an die Bahren
mit den Leibern der Toten heran.
»Es werde erfüllt, was
geschrieben steht!« ‑ sagte Professor Pauli, und die Christen, welche die
Bahren getragen hatten, übergaben sie wortlos den Soldaten, die sich durch den
nordwestlichen Eingang entfernten; die Christen jedoch benutzten den nordöstlichen
und entwichen, am Ölberg vorbei, eilig aus der Stadt, in Richtung Jericho, auf
einem Wege, der vorsorglich durch Gendarmen und zwei Kavallerieregimenter von
der Volksmenge gesäubert war. Auf den wüsten Höhen um Jericho wurde
beschlossen, einige Tage zu warten. Am nächsten Morgen kamen aus Jerusalem
befreundete christliche Pilger und erzählten, was sich in Zion ereignet hatte:
Nach einem Mahl bei Hofe wurden alle Konzilsmitglieder in den riesigen
Thronsaal geladen, der um die Stelle gebaut war, an der Salomos Thron gestanden
haben soll. Hier wandte sich der Kaiser an die Vertreter der katholischen
Hierarchie und erklärte ihnen, daß das Heil der Kirche von ihnen offensichtlich
die sofortige Wahl eines Nachfolgers des Apostels Petrus verlange, daß nach den
gegebenen Umständen die Wahl summarisch sein müsse, daß seine, des Kaisers
Anwesenheit gewisse rituelle Unterlassungen reichlich aufwiege, da er ja der
Führer und Vertreter der gesamten christlichen Welt sei, und daß er im Namen
aller Christen dem heiligen Kollegium vorschlage, seinen geliebten Freund und
Bruder Apollonius zu wählen, damit aufgrund ihrer engen Beziehungen Kirche und
Staat zum Heile beider sich fest und unauflöslich miteinander verbänden. Das
heilige Kollegium zog sich zum Konklave in ein besonderes Gemach zurück und
kehrte nach anderthalb Stunden mit dem neuen Papst Apollonius zurück. Während
die Wahl vollzogen wurde, hatte der Kaiser in einer schönen Rede voller
Sanftmut und Weisheit die orthodoxen und die evangelischen Vertreter dazu
überredet, angesichts der neuen großen Ära der Geschichte des Christentums den
alten Hader zu beenden; er stehe mit seinem Wort dafür ein, daß Apollonius es
verstehen werde, allen geschichtlich entstandenen Mißbräuchen der päpstlichen
Gewalt für immer ein Ende zu machen. Die durch diese Rede überzeugten Vertreter
der Orthodoxie und des Protestantismus hatten eine Urkunde über die Vereinigung
der Kirchen aufgesetzt, und als Apollonius mit den Kardinälen unter freudigen
Ausrufen der ganzen Versammlung im Thronsaal erschien, brachten ihm ein griechischer
Bischof und ein evangelischer Pastor das Schriftstück dar. »Accipio et approbo
et laetificatur cor meum" (Ich nehme es an und billige es, und mein
Herz freut sich.) ‑ sagte Apollonius, indem er das Dokument
unterschrieb. »Ich bin ein ebenso wahrhaft orthodoxer und wahrhaft
evangelischer Christ wie ich wahrhafter Katholik bin« ‑ fügte er hinzu und wechselte mit dem
Griechen und dem Deutschen den Bruderkuß. Dann trat er heran zum Kaiser, der
ihn umarmte und ihn lange umfangen hielt. Da begannen seltsame leuchtende
Punkte im Schloß und im Tempel in allen Richtungen umherzufliegen; sie wuchsen
und verwandelten sich in lichte Formen seltsamer Wesen; es regnete Blumen, wie
sie auf Erden nie gesehen waren, die die Luft mit einem unbekannten Duft
erfüllten. Aus der Höhe erklangen hinreißende, Herz und Seele ergreifende Töne
von bisher nie gehörten Musikinstrumenten, und unsichtbare Sänger priesen mit
Engelstimmen die neuen Herrscher Himmels und der Erden. Unterdessen ertönte ein
schreckliches unterirdisches Lärmen in der nordwestlichen Ecke des mittleren
Schlosses unter dem Kubbet el‑Aruach, das
heißt der Kuppel der Seelen, wo sich nach islamischen Überlieferungen
der Eingang in die Unterwelt befindet. Als die Versammlung sich auf die
Aufforderung des Kaisers hin auf diese Seite begab, hörten alle deutlich
zahllose feine und durchdringende Stimmen ‑ halb klang es, wie von
Kindern, halb, wie von Teufeln ‑, die schrien: »Die Zeit ist gekommen,
laßt uns frei, ihr Erlöser, Erlöser!« Als aber Apollonius sich zum Felsen
niederbeugte und in einer unbekannten Sprache dreimal etwas hinunterschrie,
verstummten die Stimmen, und der unterirdische Lärm hörte auf. Inzwischen
umlagerte eine unübersehbare Volksmenge von allen Seiten den Haram esch‑Scherif. Bei
Einbruch der Nacht trat der Kaiser, zusammen mit dem neuen Papst, auf die
östliche Freitreppe hinaus und erregte einen »Sturm der Begeisterung«. Huldvoll
grüßte er nach allen Seiten, während Apollonius aus großen Körben, die ihm von
Diakonsdienste tuenden Kardinälen gereicht wurden, ununterbrochen großartige
römische Kerzen, die sich durch die Berührung seiner Hand entzündeten,
herausnahm und in die Luft warf, auch Raketen und Feuerfontänen, die als Phosphorperlen
aufflammten oder in Regenbogenfarben erstrahlten; und all dies verwandelte sich
bei der Berührung mit der Erde in zahllose verschiedenfarbige Blätter mit
vollkommenem und absolutem Ablaß für alle vergangenen, gegenwärtigen und
zukünftigen Sünden. Der Jubel des Volkes kannte keine Grenzen. Zwar behaupteten
einige, sie hätten mit eigenen Augen gesehen, wie sich die Ablaßzettel in ganz
abscheuliche Kröten und Schlangen verwandelt hätten. Nichtsdestoweniger war die
überwältigende Mehrheit in einem Taumel der Begeisterung, und die Volksfeste
dauerten noch einige Tage, wobei der neue Papst und Wundermann schließlich so
wunderbare und unwahrscheinliche Dinge vollbrachte, daß der Versuch einer
Wiedergabe eine völlig nutzlose Mühe wäre.
Zur gleichen Zeit ergaben sich
bei den wüsten Höhen von Jericho die Christen dem Fasten und dem Gebet. Am
Abend des vierten Tages, als es dunkel geworden war, drang Professor Pauli mit
neun treuen Begleitern auf Eseln und mit einem Wagen heimlich in Jerusalem ein,
auf Nebenstraßen umgingen sie den Haram esch‑Scherif, gelangten auf den Haret
en‑Nasara und kamen schließlich zum Eingang der
Auferstehungskirche, wo die Leiber des Papstes Petrus und des Staretz Johannes auf dem Pflaster lagen. Die Straße war zu
dieser Stunde menschenleer, die ganze Stadt war zum Haram
esch-Scherif geströmt. Die Wachsoldaten lagen in
tiefem Schlaf. Professor Pauli und die mit ihm gekommen waren, die Leiber zu
holen, fanden, daß diese von der Verwesung völlig unberührt geblieben, ja nicht
einmal starr oder schwer geworden waren. Sie legten sie auf Bahren, brachten
Mäntel heran und deckten sie damit zu und kehrten auf den gleichen
Umgehungswegen zu den Ihren zurück; doch kaum hatten sie die Bahren auf die
Erde gestellt, als der Geist des Lebens in die Toten zurückkehrte. Sie regten
sich, um die sie bedeckenden Mäntel von sich abzuwerfen. Mit freudigen Ausrufen
eilten alle, ihnen zu helfen, und bald standen die beiden Wiederbelebten heil
und unversehrt auf ihren Füßen. Und der neu zum Leben erwachte Staretz Johannes begann: »Nun, Kindlein, seht: Wir haben
uns also nicht voneinander getrennt. Und gebt acht, was ich euch jetzt sage: Es
ist Zeit, daß das letzte Gebet Christi über Seine Jünger in Erfüllung gehe, daß
sie Eins seien, gleich wie Er selbst mit dem Vater Eins ist. Und so, Kindlein,
geben wir um dieser Einheit in Christo willen unserem geliebten Bruder Petrus
die Ehre. Er soll zum Schluß die
Schafe Christi weiden. So sei es, Bruder! « Und er umarmte den Petrus. Da trat
Professor Pauli heran: »Tu es Petrus« ‑ wandte er sich an den Papst: »Jetzt ist es ja gründlich erwiesen und außer
jeden Zweifel gesetzt. « Und mit seiner
Rechten drückte er fest dessen Hand, und die Linke reichte er dem Staretz Johannes mit den Worten »So also, Väterchen, nun
sind wir ja eins in Christo.« ‑ So vollzog sich die Vereinigung der Kirchen
inmitten dunkler Nacht, an einem hochgelegenen und einsamen Ort. Doch das
Dunkel der Nacht wurde plötzlich durch einen hellen Glanz erleuchtet, und am
Himmel erschien ein großes Zeichen: ein Weib, mit der Sonne bekleidet, und der
Mond unter ihren Füßen, und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen. Die
Erscheinung verharrte einige Zeit an der Stelle und bewegte sich dann langsam
nach Süden. Papst Petrus erhob seinen Krummstab und rief: »Das ist unser
Panier! Ihm gehen wir nach.« Und begleitet von den beiden Ältesten und der
ganzen Christenschar ging er der Erscheinung nach ‑ zum Berge Gottes, zum
Sinai ...
(Hier hielt Herr Z. im Lesen inne.)
DAME. Wollen Sie denn nicht
fortfahren?
HERR Z. Das Manuskript bricht
hier ab. Der Vater Pansofij hat seine Erzählung nicht
vollenden können. Als er schon krank war, hat er mir erzählt, was er weiterhin
hatte schreiben wollen ‑ »sobald ich
wieder gesund bin«. Er ist aber nicht mehr gesund geworden, und das Ende
seiner Erzählung ist mit ihm im Danielskloster begraben.
DAME. Aber Sie erinnern sich
doch an das, was er Ihnen gesagt hat: So erzählen Sie!
HERR Z. Nur die Hauptzüge sind
mir in Erinnerung geblieben. Nachdem die geistlichen Führer und Vertreter der
Christenheit in die arabische Wüste gegangen waren, wo, aus allen Ländern
zusammenströmend, Scharen der treuen Eiferer der Wahrheit zu ihnen stießen,
konnte der neue Papst durch seine unerhörten Zeichen und Wunder alle übrigen,
dem Antichrist weiterhin zujubelnden, oberflächlichen Christen verführen. Er
erklärte, er habe durch seine Schlüsselgewalt die Pforten zwischen der
irdischen und der jenseitigen Welt geöffnet, und wirklich wurde der Verkehr von
Lebendigen mit Toten sowie von Menschen mit Dämonen eine gewöhnliche
Erscheinung, und es entwickelten sich neue, nie gekannte Arten der mystischen
Unzucht und der Dämonolatrie. Doch kaum hatte der
Kaiser begonnen, sich auf dem nunmehr religiös untermauerten Boden sicher zu
fühlen, und kaum hatte er, dem ständigen Drängen der geheimnisvollen
»väterlichen« Stimme folgend, sich als die einzige wahre Verkörperung der
höchsten weltbeherrschenden Gottheit bezeichnet ‑ als ein neues Unheil über ihn
hereinbrach, und zwar von einer Seite, von der es niemand erwartet hätte: Die
Juden erhoben sich.
Diese Nation, die damals auf
dreißig Millionen gewachsen war, war nicht ganz unbeteiligt gewesen an der
Vorbereitung und Festigung der Welterfolge des Übermenschen. Als er aber dann
seine Residenz nach Jerusalem verlegt und dabei unter den Juden heimlich das
Gerücht hatte verbreiten lassen, daß er die Aufrichtung der Weltherrschaft
Israels als seine Hauptaufgabe betrachte, da hatten sie ihn als den Messias
anerkannt, und ihre Begeisterung und Ergebenheit war ins Grenzenlose gestiegen.
Und plötzlich standen sie nun auf, zorn‑ und racheschnaubend.
Diese Wendung, die in der Schrift und der Tradition unbezweifelbar vorausgesagt
wird, hat sich Vater Pansofij vielleicht allzu
einfach und realistisch folgendermaßen vorgestellt: Die Juden, die den Kaiser
für einen reinen Vollblutisraeliten gehalten hatten, sollten zufällig bemerkt
haben, daß er nicht einmal beschnitten war.
Am gleichen Tage war ganz Jerusalem und am folgenden ganz Palästina in Aufruhr.
Die grenzenlose und glühende Ergebenheit, die sie dem Retter Israels, dem
verheißenen Messias bisher dargebracht hatten, verwandelte sich in einen ebenso
grenzenlosen und ebenso glühenden Haß gegen den verschlagenen Betrüger, gegen den
frechen Usurpator. Das ganze Judentum stand auf wie ein Mann, und seine Feinde
sahen mit Erstaunen, daß die Seele Israels in ihrer Tiefe nicht vom Rechnen und
vom Verlangen nach Mammon lebt, sondern von der Kraft eines in seinem Herzen
lebenden Gefühls von der Hoffnung und dem Zorn seines uralten messianischen
Glaubens. Der Kaiser, der einen so plötzlichen Ausbruch nicht erwartet hatte,
verlor die Selbstbeherrschung und gab einen Befehl heraus, der alle
ungehorsamen Juden und Christen zum Tode verurteilte. Viele Tausende und
Zehntausende, die nicht mehr zu den Waffen hatten greifen können, wurden
schonungslos hingemordet. Doch bald war eine Millionenarmee von Juden im Besitz
Jerusalems und schloß den Antichrist im Haram esch‑Scherif ein. Zu seiner Verfügung war nur ein
Teil der Garde, der die Masse des Feindes nicht überwältigen konnte. Mit Hilfe
der Zauberkunst seines Papstes gelang es dem Kaiser, durch die Reihen der
Belagerer hindurchzukommen, und bald erschien er
wieder in Syrien mit einem unzählbaren Heer aus verschiedenen heidnischen
Stämmen. Ohne viel Hoffnung auf Erfolg gingen die Juden ihm entgegen. Doch kaum
kamen die Vorhuten der beiden Armeen miteinander in Berührung, als ein Beben
von nie dagewesener Stärke die Erde erschütterte ‑ am Toten Meer, in
dessen Nähe sich die kaiserlichen Truppen aufgestellt hatten, öffnete sich der
Krater eines riesigen Vulkans, und Feuerströme, die in einem einzigen
Flammensee zusammenflossen, verschlangen den Kaiser, all seine zahllosen
Regimenter und seinen ständigen Begleiter, den Papst Apollonius, dem all seine
Magie nichts mehr nützte. Die Juden eilten indessen nach Jerusalem und flehten
den Gott Israels in Furcht und Zittern um Rettung an. Als die heilige Stadt
ihnen schon vor Augen war, tat sich der Himmel auf in einem großen Blitz, der
schien vom Aufgang bis zum Niedergang und sie erblickten Christus, der in
königlichem Gewande zu ihnen herabkam, mit den Nägelmalen an den ausgebreiteten
Händen. Zur gleichen Zeit bewegte sich vom Sinai zum Zion die Schar der von
Petrus, Johannes und Paulus geführten Christen, und von allen Seiten stießen
noch andere freudig bewegte Scharen zu ihnen: Das waren alle vom Antichrist
getöteten Juden und Christen. Sie waren wieder lebendig geworden und begannen
für tausend Jahre mit Christo zu herrschen. Hier wollte Vater Pansofij seine Erzählung enden lassen, da ihr Thema ja
nicht die allgemeine Katastrophe des Weltenbaus war, sondern nur das Ende
unseres historischen Prozesses, das aus dem Erscheinen, dem Triumph und dem
Untergang des Antichrist besteht.
1897/1898
Solowjew, Wladimir
Sergejewitsch, russischer Philosoph, geboren am 28.1.1853 in Moskau, gestorben
am13.8.1900 in Uskoje bei Moskau. Solowjew
verwarf die Abtrennung des Glaubens vom staatlichen Bereich und entwarf eine Theokratie im Sinne der Verwirklichung des Gottesreiches
auf Erden. Etwa seit 1890 wandte er sich stärker theoretischen Problemen zu.
Religiös hielt er eine Entscheidung der Menschheit für oder gegen Christus für
unumgänglich. Gegen Ende seines Lebens wurde Solowjews
Stimmung apokalyptisch. (DER NEUE BROCKHAUS, Wiesbaden 1960)
Das
Böse ist in unserer Welt, in der Welt, wie sie ist, nicht nur immer zugegen,
nicht nur durch keinen geschichtlichen Fortschritt zu überwinden, sondern es
hat in vieler Hinsicht sogar eine größere, eine elementarere Kraft als das Gute.
Das ewige Symbol für diese Macht des Bösen und für diese Schwäche des Guten ist
das Kreuz Christi. Die Apokalyptik ist die Übertragung
der Kreuzeserfahrung von einem Einzelschicksal auf
die ganze Geschichte.
Aus dem Nachwort (Deutsche
Gesamtausgabe der Werke von Wladimir Solowjew, hg.
von Wladimir Szylkarski u.a., 8. Band, München 1979,
S. 587)