"System Lübeck": Analyse einer politischen Kaste

 

Systeme sind in sich geschlossene Organisationseinheiten, die dank bestimmter Strukturen gewollte Produkte in der Politik erzeugen. In der Politik spricht man von einem "Politischen System", wenn bestimmte Strukturen (Recht, Staatsaufbau, Wahlverfahren) die Willensbildung in einem Staat steuern und davon bestimmte Personenkreise profitieren. Vor allem Diktaturen werden als "Politische Systeme" bezeichnet.

 

Das "System Lübeck"

 

In Lübeck haben wir es mit einem in Deutschland einzigartigen politischen System zu tun, von dem CDU und SPD gleichermaßen profitieren. Es ist auch deshalb einzigartig, weil es über eine Unzahl von städtischen Aufträgen, kleiner oder großer Art, die Wirtschaft politisch gefügig macht und über eine Vielzahl von Ämtervergaben und Beförderungen die nachgeordnete Politik und Verwaltung steuert.

 

Seine Kernstruktur ist die seit Jahrzehnten bestehende (innoffizielle) Große Koalition zwischen CDU und SPD, die auch dann eingegangen wird, wenn eine Partei die absolute Mehrheit hat ‑ wie nach der Kommunalwahl 2003. Sein "Lenkungsorgan" ist der von beiden Parteien gestellte Senat. 

 

Derzeitige Köpfe diese "Syndikates" sind Wirtschaftssenator Halbedel (CDU, früher FDP) und Bürgermeister Saxe (SPD). Halbedel schaltet und waltet wie er will, Saxe lässt ihn gewähren. Die Bürgerschaft nickt das Meiste ab, was von Halbedel geplant wird ‑ auch Sozialsenator, zudem noch durch das Amt für Wahlen und Statistik Kontrolleur der Urnengänge. Ein Beispiel: Im Fall der Verlegung des Standortes der "Alternative" torpedierte Halbedel am Ende die Verlegung, obwohl die autonome Kultureinrichtung einen Schandfleck gegenüber der Mu­sik‑ und Kongresshalle darstellt, das 5600 qm große Gelände wirtschaftlich wertvoll ist und für eine weitere Einrichtung des Messestandortes Lübeck unverzichtbar ist. Dies, obwohl die Abteilung "Fachbereichskontrolling" der Stadt am 17.05.2005 in ei­ner vertraulichen Vorlage die Verlagerung der ungenehmigten Bauwagen‑ Siedlung empfahl. Zwei Jahre vorher, am 28.04.2003 hatte die Bürgerschaft die Verlegung beschlossen. Am 21.02.2004 wurde mit der "Alternative" eine entsprechende Verein­barung geschlossen. Im Kern beinhaltete sie die Umsiedlung. Nun beginnt ein verwirrendes Spiel - wie so oft in Lübeck. Die stadt eigene KWL lässt durch einen "Moderator", die Firma "plusfünf" geeignete Objekte suchen. Der Hauptausschluß der Bürgerschaft spricht sich für den Standort "Buniamshof" aus. Dazu signalisieren alle Fachbereiche (Dezernate) der Stadt aus unterschiedlichen Gründen ihre Ablehnung, also auch die Dezernate von Halbedel und des Bürgermeisters ‑ trotz der Beschlüsse der Bürgerschaft und ihres Hauptausschusses. Um die Umsetzung dieser Beschlüsse zusätzlich zu erschweren, sperrt sich auch noch die stadteigene KWL als Eigentümerin des bisherigen "Alternative" ‑ Grundstücks gegen die Verlagerung.

 

Öffentlich erklärt nun der Wirtschaftssenator, er sei gegen eine Verlagerung. Ergebnis: Es bleibt alles beim Alten. Freuen kann sich nur das Moderationsunternehmen: Es steckt 10.400 EUR für einen Auftrag ein, den die Verwaltung selbst mit Leichtigkeit hätte erfüllen können. Die "Vertrauliche Vorlage", aus der wir hier berichten, war übrigens nicht vertraulich. Sie ging nachweislich auch an den CDU ‑ Kreisvorsitzenden Frank Sauter. (...)

 

Andere Projekte, die Wirtschaftssenator Halbedel selbst durchdrücken will, laufen hingegen schnell und wie geschmiert, obwohl sie mit riesigen finanziellen oder wirtschaftlichen Verlusten für die Stadt verbunden sind: der Verkauf des Flughafens Blankensee, der Verkauf von Priwall­-Gelände in bester Lage an einen dänischen Luxus‑Investor, der Verkauf des Kurhaushotels in Travemünde an einen Hamburger Hotel‑Unternehmer, der Verkauf eines stadteigenen Grundstücks mit einer Parkteilfläche in Buntekuh an "ALDI", die Veräußerung des Krankenhauses Ost an die Sana-Gruppe (diese Verträge darf der zwischenzeitlich seines Notariats verlustig gegangene CDU-Vorsitzende des Bauausschusses für Gebühren in Höhe von über 900.000 DM beurkunden) und die Vermietung des Kanzleigebäudes mit einem hohen Investitionsaufwand.

 

Immer wieder laufen merkwürdige Geschäfte in Travemünde, der politischen Basis von Halbedel. Über die bisherige Aufzählung seiner Projekte hinaus sind zu nennen der Casino­Verkauf und der Erwerb der "Lübeck‑Travemünder Verkehrsgesellschaff" (LVG) durch die Stadt und ihre maroden Verkehrsbetriebe.

 

Zu allem schweigt die Bürgerschaft weitgehend. Ihre Mitglieder haben fast alle drei, vier Aufsichtsratsmandate in stadteigenen Gesellschaften und verdienen sich so etwas dazu. Zudem sind viele ihrer Mitglieder bei städtischen oder stadtnahen Einrichtungen beschäftigt.

 

Merkwürdig: Für das, was Bürgermeister Saxe oder Senator Halbedel wollen, ist in der noch verschuldeten Stadt Lübeck immer Geld da. Für den teuren (und denkmalschuztwidrigen) Umbau des historischen Kanzleigebäudes am Rathaus zur Ladenzeile mit Café‑Betrieb sind es 1,7 Millionen Euro. Für das Günther Grass‑Haus und das Willy Brandt‑Haus sind es mehr als fünf Millionen Euro. Man müsste angesichts dieser Tatsachen denken, die Landesregierung und die Kommunalaufsicht in Kiel müssten einer solchen Finanzwirtschaft einen Riegel vorschieben. Aber auch das geschieht nicht. In Kiel regieren SPD oder CDU, mal allein mit Partner, mal in einer Großen Koalition. Das erzwingt Rücksichtsnahmen auf die Parteifreunde in Lübeck. Mit den "Lübecker Verhältnissen" hat man sich längst abgefunden.

 

Die Lübecker Verhältnisse

 

Ämter und Mandate werden in Lübeck seit Jahrzehnten von gewissen Kreisen vergeben, die sich mal zusammentun, mal heftig bekriegen, aber immer in einem eins sind. Die Stadt gehört uns. In der CDU ragen hier die Familien Eymer und Kaske sowie das Bündnis der Travemünder Freunde unter der derweiligen Führung des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und Steuerberaters Petersen heraus. In der SPD sind es die Hillers, die zusammen mit Bürgermeister Saxe und SPD‑Fraktionschef Reinhardt den Ton angeben.

 

In jungen Jahren hatte der Jurist Ekko Eymer die Lübecker CDU unter seine Kontrolle gebracht. Er wurde Bundestagsabgeordneter und stolperte später über die "Travemünder Friseusinnen‑Affäre". Er hatte eine Friseusin ‑ die Freundin des damaligen Travemünder CDU‑Ortsvorsitzenden ‑ als Bundestagsassistentin eingestellt. Seine Ehefrau Anke Eymer, Schulleiterin in Lübeck trat seine Nachfolge - ebenfalls auf CDU-Ticket - an. Sie sitzt bis heute im Bundestag und gehört nach Auffassung ihrer Parlamentskollegen nicht zu den Fleißigsten. Danach wurde aus Eymer ein Pflegeheim-Unternehmer, der mit Erfolg das Geschäft mit städtischen Einweisungen und der Pflegeversicherung betrieb und es zum Besitzer mehrerer Heime brachte. Seit einiger Zeit vertritt er die Republik Südafrika als Honorarkonsul.

 

Der mit ihm anfangs verfeindete Sozialsenator Kaske wurde später Berater von Eymer. Kaske­Ehefrau Roswitha trat erfolgreich in die Fußstapfen ihres inzwischen pensionierten Ehemannes. Sie stieg zur stellvertretenen CDU‑Fraktionsvorsitzenden auf ‑ wegen ihres rüden Umganges mit Andersdenkenden in der Bürgerschaft gefürchtet. So spielen sich im Dreieck "Eymer­Kaske‑Travemünder Freunde" die merkwürdigsten Dinge ab. Die Bürger und die Lokalzeitung "LN" aber schweigen.

 

Die Lübecker Wirtschaft, die stets ihre hohe Leistungsbereitschaft und Innovationskraft hervorhebt, gibt sich mit diesem Familientraditionalismus und Machtgefüge zufrieden. Weder die tonangebenden gesellschaftlichen Kreise der Wirtschaft noch deren Eliten mischen sich in die Politik ein. Dies mag daran liegen, dass die Wirtschaft selbst in hohem Maße von familientraditionalistischen Unternehmen durchsetzt ist.

 

Einmal im Jahr trifft sich fast alles was Rang und Namen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft hat zum "Lübecker Presseball" ‑ ein aufwendig gestaltetes Ereignis, zu dem auffallend wenige Landes‑ und Bundespolitiker kommen. Es ist, als ob man die "Kaste Lübeck" meidet (dafür lässt sich aber der Vorsitzende der für Wirtschaftsstrafsachen zuständigen Kammer des Landgerichts Lübeck Arnold Zimmermann bereitwillig "in Frack und Fummel" zusammen mit dem an Unappetitlichkeit kaum zu überbietenden Advokaten und Landtagsabgeordneten Wolfgang Kubicki ablichten).

 

In den marktbeherrschenden "Lübecker Nachrichten" ‑ unter ihrem nicht sonderlich erfolgreichen Chefredakteur ‑ wird ein halb‑kritischer (wohl eher manipulativ-unkritischer) Lokaljournalismus gepflegt. Wichtige politische Skandale werden nur stückchenweise präsentiert und nicht genügend durchrecherchiert, obwohl das Provinzblatt über exzellente Redakteure verfügt. Man geht eben nur bis zu einem gewissen Punkt und wechselt schnell die Affären. Zudem werden Projekte des Bürgermeisters und des Wirtschaftssenators unkritisch dargestellt, hochgejubelt und nicht langfristig in ihrem ‑ meist trostlosen ‑ Verlauf als Luftblasen oder überteuerte Planungen verfolgt.

 

So schont man sich gegenseitig und präsentiert den Bürgern ein Spiel, wie es in keiner anderen deutschen Stadt geschieht: Wer sich über Lübeck umfassend informieren will, muß dies ‑ was seiten genug der Fall ist ‑ in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" tun ‑ wie jüngst in einem kritischen Bericht über die Holstentor‑Sanierung. Als Lübeck zum Beispiel vor einigen Monaten von der "Wirtschaftswoche" attestiert wurde, im Städteranking den 49. und damit den vorletzten Platz einzunehmen, berichtete die Lokalzeitung nur kurz darüber und mobilisierte ein Heer von gegenteiligen Kommentaren aus interessierter Wirtschaft und Politik.

 

Innovation und Blockade

 

Die Lübecker Politiker‑Kaste hält sich überdurchschnittlich lange im Amt, hat aber nie ‑ wie schon erwähnt ‑ den Durchbruch zu Ämtern mit nationaler Reputation nach 1949 geschafft. Dem einen oder anderen gelang es in den letzten Jahrzehnten in die Landesregierung einzuziehen, wie die Politikerin Lena Ohnesorge oder Ministerpräsident Björn Engholm (SPD). Berechnenderweise sind es fast ausschließlich politische Talente aus dem Umland oder die sich von Lübeck getrennt haben, die es dauerhaft in Deutschland zu etwas gebracht haben. An vorderster Stelle ist hier Willy Brandt zu nennen, aber auch die Ministerpräsidenten Lemke (Kreis Bad Segeberg) und Barschel (Mölln). Zudem kam aus dem nahen Bad Schwartau Heiko Hoffmann, ein hervorragender Justizminister und CDU‑Fraktionsvorsitzender im Kieler Landtag.

 

Gelang Lübeckern der Sprung ‑ wie dem CDU‑Bürgerschaftsfraktionsvorsitzenden Biermann zum Wirtschaftsminister oder den KWL‑Geschäftsführer Manthey ‑ war die Karriere schon nach kurzer Zeit wegen der Verwicklung in Affären (wohl eher strafbaren Handlungen) zu Ende. Auch Engholm scheiterte am Ende an Affären.

 

Umgekehrt haben es Leute von außen, die die Verkrustung in Lübeck aufbrechen wollen, schwer in der Stadt. So erging es dem aus Westfalen stammenden SPD­-Bürgermeister Bouteiller, dem ständig Steine in den Weg gelegt wurden. Aus einem leicht besäuselten Auftritt (er war hacke-dicke-dun) vor internationalen Juristinnen im Rathaus machten die "Lübecker Nachrichten" gezielt einen Skandal, obwohl in der Lübecker Politik fast überall stets kräftig getrunken wird und Trunkenheit in den Sitzungen der Bürgschaft keine Seltenheit ist. Die CDU‑Bürgermeisterkandidatin Hoffmann wurde von ihrer eigenen Partei abberufen, weil ihr eine Auseinandersetzung mit einer widerborstigen Mitarbeiterin vorgeworfen wurde. Der eigentliche Grund war ihr unabhängiges Den­ken, das nicht in die Kasten‑Politik passte. Auch der Bewerber um das Amt des Wirt­schaftssenators Junghans (der war nun aber wirklich untragbar!) wurde durch eine Indiskretion über eine Liebesaffäre poli­tisch fertiggemacht. Als er sich die Bürgerschaft zur Wahl stellte, bekam er nicht ein­mal alle Stimmen der eigenen Fraktion. Unerwartet stellte sich der heutige Wirt­schaftssenator Halbedel zur Wahl (er wurde von den GRÜNEN nominiert) ‑ und gewann mit den Stimmen der CDU. Ein Ausschlussverfahren in der CDU wegen dieses absolut parteischädigenden Verhaltens, das in der kommunalpolitischen Geschichte seinesgleichen sucht, wurde bald wieder eingestellt. Der CDU‑Kreisvorstand zog seine Klage zurück. Halbedel hatte schon einmal seine Partei politisch betrogen ‑ in den achtziger Jahren als FDP­Fraktionsvorsitzender. Nach einer Bürgerschaftswahl, bei der die FDP leer ausging, wechselte er innerhalb von Stunden zur CDU. Wieder einmal kletterte Halbedel, der Strippenzieher, nach oben.

 

Neue Kräfte werden blockiert, alte können machen, was sie wollen. Sie werden gehalten.

 

Die Jugendorganisationen der Parteien sind längst kein innovatives Element mehr in der Lübecker Politik. Ihre Spitzen gehören schon frühzeitig zum Establishment.

 

Die Ergebnisse des "Systems Lübeck"

 

Die Ergebnisse dieser politischen Inzucht sind bekannt: Lübeck ist eine der wirtschaftlich und sozial schwächsten Städte in Deutschland. Seine Innenstadt blutet wirtschaftlich aus. Die historische Stadtgestalt verändert sich stetig durch mittelmäßige Architektur ‑ wie den hässlichen P&C ‑ Neubau am Rathausmarkt oder den völlig unpassenden Neubau der Landeszentralbank am Holstentor ‑ in negativer Weise. Das Denkmalschutzamt macht das Meiste mit, was die Provinzpolitiker wollen.

 

In diesen Monaten wird das Holstentor saniert, das bekannteste Denkmal Deutschlands. Viele jahrhundertealte Steine werden ausgewechselt und durch neue ersetzt, als ob nicht ein Ersatz durch historische Steine möglich wäre. Plötzlich wird neuer Sanierungsbedarf entdeckt, der Bauunternehmer freut sich ‑ und die Stadt und Spender bezahlen. Verhüllt wird das Tor derzeit durch eine hässliche blaue Fotoplane mit dem Emblem der Deutschen Bank ‑ fast ein Symbol dafür, dass sich die Stadt und die Machenschaften ihrer Stadtväter verstecken müssen...


 

Das "System Lübeck" findet man in allen Bereichen der Stadt. Der Kulturbetrieb wird von einigen wenigen Leuten beherrscht. Das Sozialwesen, die Vergabe von exklusiven Baugrundstücken, die Märkte auf dem Rathausmarkt, die Volksfeste ‑ alles ist durchzogen von einer diktatorischen Klüngelwirtschaft. Und damit politisch alles im Griff des Bürgermeisters und des Wirtschafts‑ und Sozialsenators bleibt, sind deren Dezernate mit den Schlüsselämtern ausgeschaltet. Der derzeit mächtigste Mann der Stadt ist Halbedel, auch Duzfreund des Stadtpräsidenten, eines geltungssüchtigen Beerdigungsunternehmens, der durch Anzeigen seines Instituts in dem Internet-Magazin "HL‑live" deren Redaktion dazu animiert, seine zahlreichen Pressemitteilungen zu veröffentlichen. Höhepunkt war dabei ein Geburtstagsartikel für seine Frau, in der diese als "First Lady" Lübecks bezeichnet wurde. Etwas großsprecherisch. Denn die "First Lady" wäre eigentlich die Frau des Bürgermeisters Saxe (SPD). Mit dieser ist jener aber nicht verheiratet. Auch sie konnte mit Hilfe der Stadt eine (bessere) Anstellung finden .... auf Vorschlag einer früheren CDU‑Innensenatorin, die von der Staatsanwaltschaft in die Politik gewechselt war. Ihr Ehemann ist der frühere CDU‑Stadtpräsident (wie der amtierende in Loge und Club). Und so schließt sich der Kreis im neuzeitlichen Lübeck, das von echtem Hanseatentum und freiheitlichem Geist weit entfernt ist.

 

Leserbrief eines politischen Insiders. Namen und Anschrift sind der Redaktion bekannt. Die kursiv-geschriebenen Klammervermerke stammen vom Kulturredakteur der ultimativen verschwörungstheoretischen Weltnetzseite www.luebeck-kunterbunt.de