«Kulturbolschewismus»
Jede Phase der
gesellschaftlichen Entwicklung hat ihre besondern Schlagworte. Wenn der
menschliche Verstand inmitten eines schnell fortschreitenden Prozesses zu
fühlen beginnt, daß die anonymen sozialen Kräfte sich nicht bremsen lassen,
dann flüchtet der empfindlich Organisierte in Mystik, während der Grobknochige
sich nach Zeitgenossen umsieht, die er als greifbare Anstifter abscheulicher
dunkler Vorgänge haftbar machen kann. So entstand im Mittelalter, das unter
schrecklichen Epidemien von weiblicher Hysterie litt, der Hexenwahn. Weil man
an die Ursache nicht herankonnte, hielt man sich wenigstens an den Opfern der
Krankheit schadlos. «Meinetwegen, ihr werdet deswegen nicht heller sehen», ruft
in Georg Büchners «Danton» der junge Mann, den man an die Laterne knüpfen will.
Hier liegt der Kern der Sache.
Auch in der heutigen
krisenhaften Zeit geht die Razzia nach dem Feind, den man für alles belangen
kann. Mit einem neuen Schlagwort sucht man den Feind, der das alles angerichtet
hat, zu kennzeichnen, zu erfassen; deshalb verfemt man ganze Menschenklassen.
Wir kennen diese großmäuligen, kurzbeinigen Schlagworte, deren Lebensdauer so
eng an bestimmte Verhältnisse geknüpft ist. Im Krieg war der Feind das perfide
Albion, die habgierige Britannia, unter deren Unterröcke sich seitdem unsre
Diplomaten und Militärs bei jedem Unwetter verkrochen haben. Die Liberalen der
Bismarckzeit sahen alle Tücke der Erde bei den Ultramontanen verkörpert, den
«Römlingen», und der große Kanzler hatte sich als Promotor aller Hindernisse
den «Reichsfeind» konstruiert, ein Wesen in königlich hannoverschen
Junkerstiefeln und mit der Ballonmütze auf dem Kopf, über dem roten Hemd eine
schwarze Soutane, in deren Innentasche eine freimaurerische Satzung und ein
noch druckfeuchtes Exemplar der <Vossischen Zeitung> stak. Die Jagd nach
diesem komischen Phantom hat tausenden von Deutschen Kerker und Verbannung
eingetragen. Das herrschende Schlagwort von heute heißt: «Kulturbolschewismus»
und wird in ein paar Jahren schon ebenso absurd und unverständlich erscheinen
wie das Schnüffeln nach den «Reichsfeinden» und andern willkürlich gewählten
Trägern des bösen Prinzips.
Das Komplement zum
Kulturbolschewismus ist der «Marxismus», eine vor etwa sieben Jahren im Dunkel
von Miesbach oder München geborne Albernheit. Wer für den Kulturbolschewismus
Autorenehren in Anspruch zu nehmen hat, wissen wir nicht, wahrscheinlich kommt
auch diese nichtssagende aber einprägsame Formulierung aus dem Dunstkreis der
Journale des Herrn Coßmann. Während der Marxismus sich auf die prononzierten
Rechtsblätter beschränkt, ist der Kulturbolschewismus dagegen zum Gemeinplatz
fast der gesamten bürgerlichen Presse geworden, mit Ausnahme großer liberaler
Zeitungen, die ihre geistige Tradition nicht verleugnen und deshalb selbst der
Verdammnis teilhaftig werden. In puncto Kulturbolschewismus sind sich auch
Wirth und Goebbels einig, die beiden großen Josephe, von denen der Eine die
Keuschheit auf sein Banner geschrieben hat; niemals werden wir verraten, welcher
von beiden. Die sozialdemokratische Presse vermeidet noch die kompromittierende
Vokabel, aber in der Sache macht sie rüstig mit, und wenn man manchmal liest,
was gewisse kommunistische Blätter gegen die Leute von der <Weltbühne>
auf dem Herzen haben, dann möchte man oft gern nachhelfen und gut zureden:
Kinder, sagt es doch, ihr möchtet uns am liebsten Kulturbolschewisten nennen!
Sagt es doch endlich!
Es handelt sich also um ein
devastierendes Schlagwort, leicht zu handhaben von Demagogen und Ordnungsrettern,
von Kunst‑ und Strafrichtern. Wollen wir es näher bestimmen, so tappen
wir allerdings im dicksten Finstern. Wenn der Kapellmeister Klemperer die Tempi
anders nimmt als der Kollege Furtwängler, wenn ein Maler in eine Abendröte
einen Farbton bringt, den man in Hinterpommern selbst am hellen Tage nicht
wahrnehmen kann, wenn man für Geburtenregelung ist, wenn man ein Haus mit
flachem Dach baut, so bedeutet das ebenso Kulturbolschewismus wie die
Darstellung eines Kaiserschnitts im Film. Kulturbolschewismus betreibt der
Schauspieler Chaplin, und wenn der Physiker Einstein behauptet, daß das Prinzip
der konstanten Lichtgeschwindigkeit nur dort geltend gemacht werden kann, wo
keine Gravitation vorhanden ist, so ist das Kulturbolschewismus und eine Herrn
Stalin persönlich erwiesene Gefälligkeit. Kulturbolschewismus ist der
Demokratismus der Brüder Mann, Kulturbolschewismus ein Musikstück von Hindemith
oder Weill und genau so einzuschätzen wie das umstürzlerische Verlangen irgend
eines Verrückten, der nach einem Gesetz schreit, das gestattet, die eigne
Großmutter zu heiraten. All das sind bezahlte oder freiwillige Hilfsdienste für
Moskau. Jede bürgerliche Zeitung beinahe hat ihren kulturschützenden
Nachtwächter, der die heiligsten Güter der Nation mit der Stallaterne nach
unzüchtigen Fingerabdrücken ableuchtet, wenn auch gottseidank nicht alle ihr
Amt so torquemadahaft auffassen wie jener Fighting Paul von der <Deutschen
Allgemeinen Zeitung>, dieser alten Heulhure von einer ausgedienten
Offiziosin, die heute, fascistisch aufgemöbelt, eine zweite Jugend erlebt. Nur
Marlene Dietrichs berühmte Spitzenhosen im Blauen Engel sind bisher noch nicht
kulturbolschewistisch genannt worden, und das wahrscheinlich nur, weil sie ihr
von der Ufa selbst angemessen worden sind. Hätte sich die Konkurrenz solche
Extravaganzen herausgenommen, so würde Herr Hussong im <Lokalanzeiger>
längst nach der Polizei geschrieen und den baldigen Untergang der Welt infolge
Sittenlosigkeit prophezeit haben.
Wenn heute von der
Rednertribüne und in der Presse moralische Anschauungen verbreitet werden, die
in einem schroffen Gegensatz zu denen der letzten hundert Jahre stehen, so hat
das nichts mit einem sogenannten Sittenverfall zu tun; wenn einige Millionen
Menschen den §218 beseitigt wissen wollen, so heißt das nicht, daß Deutschland
bis zum Ende seiner Tage in Lasterhaftigkeit verharren will. Das Laster hat
sich noch niemals aufs Rednerpult gestellt und für sich Propaganda gemacht,
sondern immer das nächtliche Dunkel gesucht. Der heimliche Excedent wird
öffentlich immer nur sich selbst verteidigen und niemals sein Privatvergnügen
mit der Gloriole der Moral zu umgeben versuchen. Wenn aber in
Massenversammlungen eine Parole ausgegeben wird, wie «Dein Körper gehört dir!»
oder wenn für die Legalisierung der sogenannten Kameradschaftsehe geworben wird
oder für die Erleichterung der Ehescheidung, so hat sich die sittliche
Anschauung der Volksmassen eben geändert. Neue Maximen suchen nach Anerkennung,
ein Wendepunkt ist wieder da. Heute scheint alles auf dem Kopf zu stehen,
morgen wird das eben noch Verpönte selbstverständlich sein. Faktisch aber tritt
nur das ans Licht, was schon längst besteht, nicht die Menschen sind schlechter
geworden, sondern die Gesetze. Sie sind zurückgeblieben und müssen neu geformt,
neu gefällt werden. Was hat das mit Bolschewismus, mit kommunistischen Lehren
zu tun? Die dezidierten Antibolschewisten leben nicht anders, treiben es nicht
anders. Der Bolschewismus ist nur die besondere zeitgebundene Pointierung eines
ewigen Prozesses, der auch dann nicht aufhört, wenn die Kultursbirren der
Reaktion ihn nicht beachten und einmal eine Epoche lang keine denunziatorischen
Namen für ihn zur Verfügung haben.
Heute ist dieser Prozeß wieder
sehr offensichtlich, es ist Termin anberaumt, und wir alle sind in den
verschiedensten Eigenschaften geladen. Die katholische Kirche aber hat sich den
scheinbar sichersten, in Wahrheit aber gefährlichsten Platz ausgesucht: den des
Staatsanwalts. Denn die Kirche hat im Laufe der letzten hundert Jahre wiederholt
in den Prozeß eingegriffen und immer wieder ist sie vom Tribunal der Zeit
desavouiert worden. Wie der heutige Papst für die Aufrechterhaltung dessen
kämpft, was er die christliche Ehe nennt, so haben seine Vorgänger gegen die
Zivilehe und gegen die weltliche Schule protestiert. Sie haben mit ihren
feierlichen und oft haßvollen Verwahrungen die Tatsache der fortschreitenden
Säkulasierung des bürgerlichen Lebens nicht fortwischen können, sie haben nicht
verhindern können, daß sich ein Staat nach dem andern von der Kirche getrennt
hat. Die organisierte Religion ist nicht mehr stark genug, um eine Entwicklung
von anonymen Triebkräften, die in sehr verschiedenartigen und sehr bunten
Einzelheiten sichtbar werden, an ihren äußern Erscheinungen zu packen und
aufzuhalten. Wer könnte einem auseinanderwimmelnden Ameisenhaufen Einhalt
gebieten? Die Kirche müßte wie so oft Macht durch Geschmeidigkeit ersetzen, um
mit vermindertem Prestige aber doch noch lebend durch die Quarantäne des
Jahrhunderts zu kommen. Die augenblicklich geübte Methode, sich auf die Polizei
zu stützen, ändert nichts Wichtiges, vermehrt nur die Zahl und die
Entschlossenheit der offenen Gegner.
Nicht immer hat die Kirche
sich gegen progressive Strömungen so feindlich, so ablehnend verhalten. Mindestens
ihre vornehmsten Träger haben sich zu Zeiten offen mit dem neuen Geist
verbündet. Wir brauchen nur der gewaltigen Päpste der Renaissance Erwähnung zu
tun, die nicht nur als Kunstmäcene einem radikalen Zeitwandel Ausdruck gegeben,
sondern auch als Politiker dazu beigetragen haben, die Gestalt einer werdenden
Gesellschaft zu formen und das Mittelalter zu erschlagen. Clemens XIV.
Ganganelli war es, der als Geistesgenosse Voltaires die Forderung des
Jahrhunderts der Aufklärung vollstreckte, den Jesuitenorden aufzuheben, wofür
er eines dunklen Todes starb. Der bedeutendste Papst des vorigen Jahrhunderts,
der Pio nono, hat wenigstens in seinen Anfängen mit den Liberalen und den
Carbonariten, den Bolschewisten von damals, paktiert. Und Benedikt XV., der große
Papst des Weltkrieges, ging mit Demokraten, Pazifisten und Freimaurern zusammen
und schuf damit jenes hohe politische Ansehen der päpstlichen Kurie, wovon sie
bis jetzt gezehrt hat. Wieviel von dem Kapital verwirtschaftet ist, werden wir
bald wissen. Jedenfalls ist die katholische Kirche nicht zu allen Zeiten so
zimperlich, so altjungferlich, so sauer und ‑ Verzeihung! ‑ so
protestantisch gewesen wie heute.
Es ist herzlich primitiv, für
unsre gegenwärtigen Wirrnisse den «Bolschewismus» verantwortlich zu machen. Die
tödlichen Verlegenheiten des Weltkapitalismus auf ein von Moskau und seinen
Sektionen ausgehecktes Komplott zurückführen zu wollen, zeigt nur, daß bei den
Klagenden mit der Not nicht die geistigen Kräfte wachsen. Überall wird heute
der Vorrang der Ökonomie diskussionslos zugestanden, das ist die überrumpelnde
Tatsache für alle Köpfe von gestern. Es handelt sich bei solchen Thesen nicht
um die ewige Richtigkeit. Unter andern Verhältnissen werden die Menschen auch
wieder anders denken. Heute jedoch, wo Millionen, die eben noch auskömmlich
lebten, nicht wissen, wo sie morgen das Brot hernehmen sollen, muß jedes
übernommene geistige und sittliche Wertmaß schwanken und das, was gestern als
unentbehrliche Kultur betrachtet wurde, dahinschmelzen wie Schnee. Die
Zeterbolde, die den Zusammenbruch des Bürgertums mit Geschrei über Fäulnis und
Zersetzung verfolgen, sollten nicht außer Acht lassen, daß Unzählige aus dieser
wirtschaftlich degradierten Schicht einen wahrhaft heroischen Existenzkampf
führen und daß sie in der schrecklichen Guerilla um ein Existenzminimum Kräfte
entwickeln, die viel sympathischer sind als das traditionelle Bürgerbewußtsein,
das seine Stellung als selbstverständlich nimmt und Privilegien fordert.
Die unberufenen Moralisten und
Sittlichkeitsretter sind leider Gottes dort am stärksten vertreten, wo sie am
wenigsten hingehören, nämlich an den Stellen, wo der geistige Niederschlag
dieser Zeit begutachtet und zensiert wird. Dort tummeln sich vornehmlich
Schwachköpfe, die nicht darüber hinwegkommen können, daß die Deutschen unter
Hindenburg nicht mehr so züchtig leben wie damals, als Tacitus sie seinen
Landsleuten unter die verwöhnten Nasen rieb. Wo tätige Hilfe am Platze wäre,
kommen sie mit Untergangsprophezeiungen und künden das Ende des Vaterlandes an.
In der Stunde der Gefahr desertieren sie aus den Bereichen des kämpfenden
Geistes in das platte aber sichere Land einer weinerlichen und verlogenen
Moralität. Kein abgestempelter Patriot, der rheinische Franzosenfreund und
fatale jüdische Kulturbolschewik Heinrich Heine ist es gewesen, der für den
Glauben an Deutschland den stärksten dichterischen Ausdruck gefunden hat:
Deutschland hat ewigen Bestand!
‑
Es ist ein kerngesundes Land!
Quelle: Carl von Ossietzky in "Die Weltbühne",
21. April 1931