Die Juden in
Moisling und Lübeck
Drei
zusammenfassende Darstellungen, ein ergreifender Bericht aus der Zeit des
Nationalsozialismus' und eine Zeittafel der wichtigsten Ereignisse
von Michael Winter
1) Anstelle einer Einleitung
Am 6. Dezember 1941 wurden
etwa 90 Lübecker Juden ‑ Männer, Frauen und Kinder ‑ in das
Konzentrationslager Jungfernhof bei Riga deportiert und dort ermordet; nur drei
überlebten die Schrecken des Lagers. Damit endete eine Zeit christlich‑jüdischen
Miteinanders in Lübeck: Einer zweihundertjährigen Phase der Unterdrückung bis
zur Emanzipation im Jahre 1849 folgte eine fruchtbare Symbiose kulturellen
Austauschs, brutal und endgültig zerstört durch das nationalsozialistische
Regime.
Die Hansestadt Lübeck will das
Unrecht, das ihren jüdischen Bürgern angetan wurde, nicht in Vergessenheit
geraten lassen.
(Aus dem Vorwort des damaligen
Kultursenators Ulrich Meyenborg zu "...dahin wie ein Schatten"
Aspekte jüdischen Lebens in Lübeck, von Ingaburgh Klatt)
2) Bernhard Brilling
In der Nachbarschaft der
großen, zu Beginn des 17. Jahrhunderts gegründeten Judengemeinde von Altona
entstand etwas später in demselben Jahrhundert eine kleine jüdische Gemeinde in
dem vor den Toren Lübecks liegenden Dörfchen Moisling, das damals ‑
ebenso wie Altona ‑ zu Dänemark gehörte. Über die Geschichte dieser
Dorfgemeinde und der daraus hervorgegangenen Gemeinde Lübeck, die kaum 100
Jahre alt wurde, waren urkundliche Quellen jüdischer und nichtjüdischer
Provenienz vorhanden. Das Archiv der beiden jüdischen Gemeinden, das heute wohl
zum größten Teil verlorengegangen sein dürfte, konnte der ehemalige Lübecker
Rabbiner Dr. Salomon Carlebach für seine 1898 erschienene "Geschichte der
Juden in Lübeck und Moisling" verwenden. Gemäß seinen Unterlagen
behandelte er besonders die inneren Verhältnisse beider jüdischen Gemeinden,
mit spezieller Berücksichtigung der älteren Gemeinde von Moisling. Das
Quellenmaterial nichtjüdischer Provenienz lag hauptsächlich im Staatsarchiv
Lübeck, dessen Benutzung ihm nicht gestattet worden war. Wie Carlebach in der
Vorrede seines Buches angibt, war der Grund für diese Verweigerung
"keineswegs eine den Juden übelwollende Gesinnung, im Gegenteil"; die
Behörden wollten verhindern, daß die schlechte Behandlung der Juden durch die
Lübecker, die bis ins 19. Jahrhundert anhielt, bekannt würde.
Nach dem ersten Weltkrieg
wurde die Benutzung der Akten des Staatsarchivs freigegeben. 1922
veröffentlichte der durch seine Arbeiten über Hamburg
und andere Hansestädte bekannte
Direktor der Hamburger Commerzbibliothek Ernst Baasch in der
"Vierteljahrschrift für Sozial‑ und Wirtschaftsgeschichte" auf
Grund des im Lübecker Staatsarchiv liegenden Archivs der Schonenfahrer einen
Aufsatz über "Die Juden und der Handel in Lübeck", in dem die starke
antijüdische Einstellung der Lübecker Kaufmannschaft geschildert und als Grund
dafür sogar eine gewisse Rassenabneigung" vorgebracht wird. Später begann
der 1921 zum Rabbiner von Lübeck gewählte Dr. David Alexander Winter (dessen
von Dr. H. Ch. Meyer verfaßte Biographie seinem Buche vorangestellt ist) sich
mit der Geschichte der Juden in Lübeck und Moisling zu befassen. Seit 1927
erschienen darüber Arbeiten von ihm, die zuerst auf Grund der jüdischen
Gemeindeakten geschrieben wurden, später aber begann er auch die Akten des
Lübecker Staatsarchivs durchzuarbeiten. Da das von Dr. Winter bearbeitete
Archivmaterial bisher aus der Kriegsauslagerung zusammen mit weiteren Beständen
des Lübecker Archivs noch nicht nach Lübeck zurückgebracht wurde, haben heute
die von Dr. Winter gemachten Auszüge bzw. seine auf diesen Materialien
beruhende Arbeit, auf die Dr. H. Ch. Meyer aus Haifa die Stadt Lübeck
aufmerksam gemacht hat, fast Quellenwert. Das Archiv der Stadt Lübeck und die
Hansestadt Lübeck verdienen volle Anerkennung dafür, daß der Druck dieses
Buches trotz finanzieller Schwierigkeiten ermöglicht wurde, und so ein
wichtiger Beitrag zur Geschichte der Juden in Norddeutschland vom 17. bis 19.
Jahrhundert erscheinen konnte.
Die
vorliegende Arbeit von Dr. David Alexander Winter: "Geschichte der
jüdischen Gemeinde in Moisling/Lübeck" (= Veröffentlichungen zur
Geschichte der Hansestadt Lübeck, herausgegeben vom Archiv der Hansestadt, Bd.
20, Lübeck 1968) enthält eine ausführliche, auf archivalischen Unterlagen
begründete Geschichte der Juden von Lübeck und Moisling für die Zeit von ca.
1650 bis ca. 1850. Daher fehlen darin sowohl Kapitel über die Geschichte der
Lübecker Juden von 1850 bis zur Vernichtung der Gemeinde im Jahre 1942, als
auch Angaben über die Zeit vor 1650. Ich meine mit letzterem Hinweis die
einzige mittelalterliche Erwähnung von Juden in Lübeck aus dem Jahre 1350, die
zwar in dem Buch von Carlebach vorkommt, aber nicht im 2. Band der in Tübingen
(1968) erschienenen Germania "Judaica", der die Zeit von 1238 bis zur
Mitte des 14. Jahrhunderts umfaßt und keinen Artikel über Lübeck enthält. In
dem von Carlebach erwähnten Schreiben des Lübecker Rates an den Herzog Otto von
Braunschweig/Lüneburg vom Juli 1350 ‑ also aus der Zeit des Schwarzen Todes,
der damals als eine von Juden verursachte Epidemi betrachtet wurde ‑ wird
ein "Geständnis" eines gewissen Tidericus oder Dietrich gebracht, dem
zwei Juden, Aron in Dassel (bei Einbeck) und Moses, dessen Bekanntschaft er in
einer Herberge zu Lübeck gemacht haben will, Geld und Gift zur Vergiftung von
Brunnen gegeben haben sollen. Da der Lübecker Rat diese Aussage ohne
Beanstandung berichtete, scheint er die
Angabe über den Aufenthalt eines Juden in Lübeck zur damaligen Zeit nicht
bezweifelt zu haben.
Nach diesem Zeitpunkt aber hat
es bis zum 17. Jahrhundert, mit dem das Buch von Winter beginnt, wohl keine
Juden mehr in Lübeck gegeben, und zwar wegen der ablehnenden Haltung der
Lübecker gegenüber den Juden, die sich erst seit dem 30jährigen Krieg etwas änderte.
1656 erschienen in Lübeck
jüdische Flüchtlinge aus Rußland und Polen, die vor den Verfolgungen der
Kosaken und vor den Pogromen im Gefolge der Kriegshandlungen geflohen waren und
eine neue Heimat suchten. Ein Teil von ihnen ließ sich wohl in den unter
dänischer Herrschaft stehenden Orten Altona und Moisling nieder, während der
größte Teil weiterwandern mußte. Nun erkannte der Rat, daß es unter den neuen
Verhältnissen, d. h. nach der Niederlassung von Juden in Schleswig‑Holstein,
die unter dem Schutz des dänischen Königs standen, unmöglich geworden war,
diese Juden auch weiterhin von Lübeck fernzuhalten. Dafür sprachen sowohl
politische (das Eintreten Dänemarks für seine jüdischen Untertanen) als auch
wirtschaftliche Gründe, da man die Juden, die jetzt im Handel
Schleswig/Holsteins tätig wurden, nicht ganz vom Zutritt nach Lübeck
ausschließen konnte. So war der Lübecker Rat trotz der weiter bestehenden
antijüdischen Stimmung der Kaufmannschaft zu Kompromissen gezwungen, und zwar
sowohl bezüglich der Zulassung der Juden nach Lübeck überhaupt, als auch
speziell bezüglich der Moislinger Juden.
Im ersten Kapitel des Buches
"Die Juden in Moisling und die Reichsstadt Lübeck" wird der Kompromiß
betreffs der Moislinger Juden behandelt, die um immer größere Möglichkeiten für
einen Aufenthalt in Lübeck kämpften. Auf das Einschreiten der dänischen
Regierung und der Besitzer der Herrschaft Moisling mußte den Moislinger Juden
schließlich die Erlaubnis zum vorübergehenden, wenn auch zeitlich sehr
begrenzten Aufenthalt zwecks Einkaufs von Lebensmitteln erteilt werden, wobei
allerdings die Zulassung auf wenige bestimmte Personen beschränkt wurde, die
jeweils Lübeck zum Einkauf aufsuchen durften. Erst im Jahre 1808 erhielten die
Moislinger Juden, die inzwischen Lübecker Untertanen geworden waren, den freien
Zugang zur Stadt. Damals lebten mit den sogenannten "Schutzjuden"
zusammen etwa 11 jüdische Familien in Lübeck. Ihnen folgten nach der
Einverleibung Lübecks in Frankreich im Jahre 1811 und der dadurch eingetretenen
Gleichberechtigung der Juden weitere Familien aus Moisling, die diesen kleinen
und zurückgebliebenen Ort gern mit der größeren Hansestadt vertauschten. Durch
die den Juden ungünstige Auslegung eines Beschlusses des Wiener Kongresses vom
8. Juni 1815 wurde es der Stadt Lübeck (ebenso wie Bremen) ermöglicht, die
Gleichberechtigung aufzuheben und die Juden aus Lübeck wieder zu vertreiben.
Auf Grund des Austreibungsediktes vom Jahre 1821 mußten die Juden Lübeck
verlassen bzw. wieder nach Moisling oder anderswohin ziehen. In Lübeck blieben
1824 nur 8 Familien zurück, die als "Schutzverwandte" galten und
bereits vor 1810 in Lübeck gewohnt hatten.
Diese Schutzjuden oder
Schutzverwandten, die im 2. Kapitel des Buches ("Das Schutzjudentum in
Lübeck") behandelt werden, waren das Ergebnis eines Kompromisses, den der
Rat bezüglich der Zulassung von Juden in Lübeck gegen den Widerspruch der
Kaufmannschaft eingegangen war. Das Schutzjudentum, das 1701 offiziell als
feste Institution durch den Rat eingeführt wurde und bis zum Jahre 1838 bzw.
1848 bestand, war als Reaktion auf die Versuche einzelner Juden eingeführt
worden, die trotz aller Widerstände der Kaufmannschaft und Zünfte seit den
letzten Jahren des 30jährigen Krieges Lübeck aufsuchten. Der erste seit dem
Mittelalter in Lübeck weilende Jude war der sonst nicht näher bekannte Samuel
Frank aus Hamburg, der nach seinen Angaben bereits seit 1645 ständig Lübeck zu
geschäftlichen Zwecken aufgesucht hatte. Zehn Jahre später wurden bereits die
ersten Beschwerden über den verbotenen Handel der Juden in Lübeck, und zwar vom
Amt der Goldschmiede (1658), vorgebracht. Trotz der stetigen Angriffe auf ihn
und trotz einer Vertreibung im Jahre 1658 kehrte Samuel Frank, in dem wir wohl
den ersten Lübecker Juden erblicken dürfen, immer wieder nach Lübeck zurück, wo
er anscheinend gute geschäftliche Beziehungen angeknüpft hatte. Am 4. Mai 1681
verlieh der Lübecker Rat den beiden Juden Samuel Frank und Nathan Siemsen
(erwähnt seit 1677) ein gewisses Aufenthaltsrecht für Lübeck, und zwar gegen
den heftigen Widerstand der Kaufmannschaft, die in ihrer antijüdischen Haltung
auch von der evangelischen Geistlichkeit unterstützt wurde. Dieses
Aufenthaltsprivileg vom Jahre 1681 war eine Art Vorläufer des Schutzjudentums,
das allerdings seine juristische Festlegung erst 1701 erhielt, nachdem die oben
erwähnten beiden Juden 1699 auf Veranlassung der Bürgerschaft vertrieben worden
waren.
Das Schutzjudentum in Lübeck
bestand darin, daß der Rat einen bestimmten Juden gegen eine jährliche Abgabe
unter seinen Schutz nahm und ihm und seiner Familie nicht nur den Aufenthalt,
sondern auch eine Reihe von Rechten gewährte, die er allen anderen Juden
versagte. Der Schutzjude durfte sich mit Geldwechsel und Trödelhandel abgeben
sowie Gelder auf Pfänder gegen die üblichen, Zinsen ausleihen. Es war ihm zwar
gestattet, jüdisches Dienstpersonal in seinem Haus zu halten, aber es war ihm
verboten, fremde Juden bei sich zu beherbergen. Er war sozusagen eine vom Senat
eingesetzte Aufsichtsperson über die Juden und dem Rat gegenüber dafür
verantwortlich, daß sich keine Juden (außer ihm) in Lübeck aufhielten. Er hatte
den Behörden davon Mitteilung zu machen, wenn er etwas über den unerlaubten
Aufenthalt fremder Juden in Lübeck erfuhr.
Dieses Schutzjudenamt war sehr
begehrt. Nach Ruben Magnus aus Hamburg, der diesen Posten von 1701 bis 1738
bekleidete, blieb das Schutzjudenamt fast ein Jahrhundert in den Händen der aus
Frankfurt am Main stammenden Familie Stern. Auf Meyer Isaak Stern (1738‑1761)
folgte 1764 dessen Sohn Elkan Meyer Stern, der seinen Posten 1798 auf seinen
Sohn Meyer Elkan Stern übertrug, dessen Schutzjudenprivileg 1834 durch den
Senat aufgehoben wurde. An seiner Stelle wurde 1835 trotz des Widerspruchs der
Krämer und der Bürgerschaft David Jacob Behrens aus Moisling vom Rat als
Schutzjude aufgenommen. Er erhielt die alleinige Befugnis zum Betreiben von
Geld- und Wechselgeschäften. Dagegen war ihm aller Handel mit Kaufmannswaren
sowie das Speditionsgeschäft und die Pfandleihe untersagt. Da sich die
geschäftlichen Erwartungen des Schutzjuden wegen dieser strengen Bestimmungen
nicht erfüllten, kündigte er am 1. März 1837 das Schutzverhältnis. Seine Stelle
wurde trotz der unverändert ablehnenden Haltung der Bürgerschaft am 7. Juli
1838 dem Raphael Levi Nathan aus Moisling übertragen, der der letzte Schutzjude
war und dieses "Amt" bis zur Änderung der Verfassung im Jahre 1848
bekleidete.
Während in Lübeck nur der
"Schutzjude" wohnen durfte, dem ausdrücklich die Abhaltung eines
öffentlichen Gottesdienstes verboten war, d. h. die Errichtung einer Gemeinde,
konnte in dem dänischen Moisling ungehindert eine jüdische Gemeinde gegründet
werden, über die das 3. Kapitel "Der jüdische Gottesdienst in Lübeck und
Moisling" ausführlich berichtet. Von Beginn an gab es dort alle Einrichtungen,
die eine jüdische Gemeinde benötigte: einen Betraum (und später eine Synagoge
für die Gottesdienste) und einen Friedhof sowie wahrscheinlich auch ein
rituelles Badehaus. Die Gemeinde wurde von einem Vorstand geleitet, der aus dem
Ältesten sowie zwei oder drei Vorstehern und zwei Kassenverwaltern bestand. Die
Ältesten regelten die inneren Angelegenheiten und vertraten auch die Interessen
der Gemeinde gegenüber den Besitzern der Gutsherrschaft Moisling, der Stadt
Lübeck und dem König von Dänemark. Sie stellten auch die Gemeindebeamten an,
während der Rabbiner wohl ‑ wie üblich ‑ von der ganzen Gemeinde,
d. h. von den wahlberechtigten Mitgliedern gewählt wurde.
Über das Rabbinat von Moisling
berichtet das 4. Kapitel. Zu dänischer Zeit waren die Rabbiner von Moisling nur
Unterrabbiner, die dem Altonaer Rabbinat unterstellt waren. Sie waren nur für
die Regelung von Zivilsachen bis zum Betrag von 10 Talern zuständig. Alles
andere, darunter auch die Erbschaftsregelungen, fiel unter die Kompetenz des Altonaer
Oberrabbinats, dessen Gerichtsbarkeit sämtliche Juden Schleswig‑Holsteins
in der dänischen Zeit unterstanden. Die ersten Rabbiner von Moisling wurden
daher auch nicht als Rabbiner angestellt und bezeichnet, sondern als Vorbeter,
von denen der erste, namentlich bekannte ein Berndt Selig (Ber ben Jehuda Selig
halewi) aus Lissa/Posen (um 1724) war. Da das Gehalt dieser Beamten sehr gering
war, blieben sie nicht lange auf ihrem Posten und nahmen jede Gelegenheit wahr,
um sie mit einer besser bezahlten Stelle zu vertauschen. Von 1724 bis 1800 sind
acht solcher Vorbeter bzw. Unterrabbiner nachweisbar.
Erst im Jahre 1806, d. h. bei
der völligen Unterstellung von Moisling unter die Landeshoheit von Lübeck,
wurden die Moislinger Rabbiner vom dänischen Altona unabhängig und durften nun
den Titel Oberrabbiner tragen. Ihre Zuständigkeit auf zivilrechtlichem Gebiete,
die sie jetzt erhielten, hörte aber mit der Gleichberechtigung, der Lübecker
Juden, zu denen jetzt auch die Moislinger gehörten, auf. Seitdem waren die
dortigen Rabbiner ‑ wie überall in den Ländern, wo die Juden
gleichberechtigt waren ‑ nur noch für religiöse und innere
Gemeindeangelegenheiten zuständig.
Der erste Oberrabbiner von
Moisling war der 1805 gewählte, aus Breslau stammende Akiba Wertheimer, der
einen solchen Ruf als Gelehrter genoß, daß ihm 1816 das berühmte Rabbinat von
Altona übertragen wurde. Infolge der Wirren jener Zeiten wurde erst 10 Jahre
später (1825) wieder ein Rabbiner in Moisling gewählt, nämlich der aus
Hohensalza, (Inowrazlaw, Provinz Posen) stammende Ephraim Fischel Joel. In
seiner Zeit waren die Wellen des innerjüdischen Streites zwischen der
konservativen und der liberalaufklärerischen Richtung, der damals in den
jüdischen Gemeinden Deutschlands tobte und die Einheit der Gemeinden zu
zerreißen drohte, auch nach der kleinen Gemeinde Moisling/Lübeck gedrungen, die
bis dahin von diesen weltanschaulichen Streitigkeiten wegen ihrer Abgelegenheit
kaum berührt war. Auch hier entbrannte der Kampf zwischen den Kräften im
Judentum, die das Alte nicht aufgeben wollten, und den Aufklärern, die sich mit
den alten Verhältnissen, die bis dahin im Judentum herrschten, nicht abfinden
wollten, da sie glaubten, daß eine Veränderung in den Gesetzen des Judentums
auch zu einer Veränderung im Verhalten der Nichtjuden gegenüber den Juden
führen würde, d.h. der Kampf zwischen denen, die das Judentum in seiner alten
überlieferten Form bewahren wollten, und jenen, die das Hauptgewicht auf die
Erlangung der Emanzipation legten und durch Reformen innerhalb der Religion die
Beseitigung der einer völligen Emanzipation entgegenstehenden Hindernisse (die
nach ihrer Ansicht in den Gesetzen der jüdischen Religion lagen) herbeizuführen
glaubten. Dabei ging es vor allem um die Erziehung der jüdischen Jugend, d. h.
um die Führung und Gestaltung der jüdischen Schule, mit deren Eröffnung im
Jahre 1838 der Konflikt innerhalb der jüdischen Gemeinde in Moisling ausbrach.
Während der Rabbiner die orthodoxe Richtung im Judentum vertrat und diese auch
in der Erziehung durchgesetzt wissen wollte, nahmen die zur aufgeklärten
Richtung gehörenden Lehrer eine andere Stellung zur jüdischen Religion ein. Wie
stark die weltanschaulichen, d. h. religiösen Gegensätze zwischen dem Rabbiner
und den Lehrern waren, ergibt sich daraus, daß man dem Oberrabbiner das Recht
auf die Schulaufsicht in der jüdischen Schule bestritt. Dieser mußte das
staatliche Gericht anrufen, um sein Recht auf Teilnahme am Schulvorstand
durchzusetzen. Wie in anderen jüdischen Gemeinden jener Zeit wurde der Streit
zwischen den konservativen Kräften und den radikalen Reformern auch hier vor
nichtjüdische Instanzen gebracht (Senat und Landgericht). Da sich der Senat
verständlicherweise nicht für zuständig in innerjüdischen
Religionsstreitigkeiten hielt, entschloß er sich, von bekannten jüdischen
Persönlichkeiten Gutachten einzuholen. Er wußte aber nicht, daß diese von ihm
angerufenen jüdischen Gutachter voreingenommen waren, da sie dem Flügel der
"Aufgeklärten" angehörten. Es handelte sich dabei um den zu den
radikalen Reformern gehörigen damaligen (1843) Schweriner Oberlandesrabbiner
Dr. Holdheim und um den Juristen Dr. Gabriel Riesser aus Hamburg, der zu den
Vorkämpfern der Judenemanzipation gehörte, dabei aber den Gedanken vertrat,
"daß durch die Förderung der jüdischen Reform das Ziel der jüdischen
Emanzipation schneller erreicht würde", daß also das Festhalten an den
alten jüdischen Gesetzen und Traditionen der Durchführung der Emanzipation
abträglich sei.
Das angerufene Landgericht
erkannte die Thesen von Dr. Holdheim und Dr. Riesser nicht an, die sich gegen
den Rabbiner von Moisling ausgesprochen hatten. Die Entscheidung des
Landgerichts ging dahin, daß die geforderte Absetzung des Rabbiners nicht vom
Gericht beschlossen werden könne, da die vorgebrachten Gründe nicht genügend
seien. Das Gericht erklärte, daß ein Rabbiner, der 1826 auf Grund seines
Wissens und seiner Befähigung zum Rabbiner der Gemeinde gewählt worden sei,
1844 aus dem gegenteiligen Grunde nicht abgesetzt werden könne".
Nach dem Sieg des Oberrabbiners
ging das Leben in der Gemeinde seinen Gang weiter, und das Rabbinat verblieb in
den Händen der Konservativen. Als Nachfolger des angefeindeten Oberrabbiners
Joel wurde sein Schwiegersohn Susmann Adler aus Schwebheim (Mittelfranken)
gewählt, der von 1849 an als Stellvertreter und von 1851 an als Rabbiner in
Moisling amtierte.
Mit der Ernennung Adlers zum
Moislinger Rabbiner, der 1859 seinen Rabbinatssitz nach Lübeck verlegen mußte,
schließt das Buch bzw. das 4. Kapitel, das ‑ wie aus der Überschrift ersichtlich
‑ nur das Rabbinat in Moisling selbst behandelt.
Es sei noch auf den wertvollen
Anhang hingewiesen, der Judenlisten aus Lübeck und Moisling ‑ beginnend
mit dem Jahre 1731 und schließend mit der Annahme der Familiennamen im Jahre
1848 ‑ enthält. Auch die dort gebrachte Statistik der Juden von Lübeck
und Moisling ist bemerkenswert. Man ersieht daraus, wie schnell die Zahl der
Juden in dem Dorf Moisling abnahm, das man ursprünglich nur zwangsweise als
einen Zufluchtsort aufgesucht hatte, nachdem die Juden die Freizügigkeit
erhalten hatten.
Die Zeit von 1850 bis zur
Vernichtung der Lübecker Gemeinde in der NS-Zeit ist in dem vorliegenden Buch
nicht behandelt worden, so daß die Möglichkeit für weitere, abschließende
Forschungen über die Geschichte der Juden von Lübeck gegeben ist. Neben den
Akten und Druckschriften (besonders der jüdischen Presse) aus diesem letzten
Jahrhundert dürften als Quelle vielleicht auch die in der biographischen
Einleitung erwähnten Erinnerungen des Verfassers dienen. Hoffentlich gelingt es
auch, sie herauszugeben und dadurch einen weiteren Beitrag zur Geschichte der
Juden in Lübeck zu leisten.
(Bernhard Brilling: "Zur
Geschichte der Juden in Lübeck und Moisling" in "Zeitschrift des
Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde", Band 49, 1969, S.
139 - 145)
3) Wolf-Dieter Hauschild
Im Zusammenhang mit der
allgemeinen Furcht vor der Pest kam es wie im übrigen Reich auch in
Norddeutschland, allerdings abgeschwächter als im Süden, erstmals zu
Judenverfolgungen. Während Kaiser und Päpste früher die Juden als Bankiers
gerne geduldet hatten, solange die Christen das kirchenrechtliche Verbot des
Geldverleihs gegen Zinsen ernstnahmen, änderte sich das mit der allgemeinen
Umstellung der Natural‑ auf Geldwirtschaft. Als religiös und sozial
suspekte Minderheit erlitten die Juden seit dem 13. Jahrhundert vor allem im
Rheinland erste Verfolgungen. Mit dem Aufkommen der Pest verbreitete sich nun
allenthalben das Gerücht, die Juden hätten sie durch Brunnenvergiftung
verursacht. Seit 1348 beunruhigten einzelne Fälle auch die wendischen und
niedersächsischen Städte; es kam zu spontanen Ausschreitungen und
obrigkeitlichen Hinrichtungen von Juden.
In Lübeck wurden 1349 zwei
Personen aufgegriffen, die angeblich als Giftmischer mit den Juden unter einer
Decke steckten und gestanden, daß diese überall in den Städten des Ostseeraumes
die Christenheit vergiften wollten. Der Rat konnte freilich in der Stadt keine
derartigen Vorkommnisse feststellen. Aber als die Ratsherren von Stralsund, Rostock
und Wismar angesichts der drohenden Pest über ein gemeinsames Vorgehen gegen
die Juden berieten und der Lübecker Rat aus Gotland und Thorn weitere
Informationen über vermeintliche Giftpläne in niedersächsischen Städten bekam,
intervenierte er bei Herzog Otto von Lüneburg mit der Bitte, die im dortigen
Gebiet ansässigen Juden als Gefahr für die Christenheit auf dem Gerichtswege zu
vernichten. Entsprechend schrieb er nach Rostock. In Lübeck kam es zu keinen
Judenverfolgungen. Doch der ganze Vorgang ist wichtig, weil er die kollektive
Hysterie während der Pestzeit illustriert und erstmals eine feindselige
Einstellung gegenüber den Juden bezeugt. ...
Unruhen wegen der Juden 1696‑99
Die in Deutschland allmählich,
aber nur partiell einkehrende Toleranz gegenüber den Juden war ein Zeichen der
neuen Zeit, des Übergangs zu aufgeklärter Humanität. Während Hamburg dafür ein
gutes Beispiel bot, beharrte Lübeck im Geist der alten Zeit. Seit Ende des 17.
Jahrhunderts häuften sich die innerstädtischen Konflikte um die Zulassung der
Juden. Bis zum Dreißigjährigen Krieg hatte man streng darauf geachtet, daß
Juden die Ansiedelung in der Stadt verwehrt blieb. Als Nichtchristen konnten
sie ohnehin kein Bürgerrecht erwerben, Handel und Gewerbe waren den Angehörigen
der Zünfte reserviert. Seit 1648 ging der Judenschutz als bisher kaiserliches
Recht in die Hoheit der Einzelstaaten über. Im Gegensatz zu Lübeck begünstigte
Holstein die Ansiedlung von Juden, die aufgrund der Verfolgungen in Polen und
Rußland hierher flohen und u. a. vor Lübecks Toren auf dem Gut Moisling
Aufnahme fanden. Von dort kamen sie in die Stadt, um Handel zu treiben.
Erstmals im Jahre 1658 gab es
Probleme, als das Amt der Goldschmiede sich über heimliche Hausiergeschäfte von
Juden beschwerte. Daß der Rat den Juden daraufhin das Handeltreiben verbot,
nützte nicht viel. Vereinzelt kamen sie zum Ärger der Bürger als unliebsame
Konkurrenten wieder. Teilweise schritt sogar der Pöbel gegen sie ein und
scheute auch 1665 nicht vor Übergriffen nach Moisling zurück. Daraufhin
gewährte der Rat 1681 zwei in Lübeck ansässig gewordenen jüdischen
Goldschmieden samt deren Familien als sog. Schutzjuden Toleranz. Da aber in der
Folgezeit weitere Juden zuzogen, in ihren Häusern Gottesdienst hielten und
Aufsehen in der Stadt erregten, wandte sich auch das Geistliche Ministerium
1691 in einem Memorial gegen die Eindringlinge, die den über ihnen liegenden
Gottesfluch in die Stadt mitbrächten und darum das öffentliche Wohl
gefährdeten.
Religiöse und soziale
Vorurteile mischten sich in dieser ersten kirchlichen Stellungnahme zur
Judenfrage. Neben dem Hinweis auf jüdische Blasphemien gegen Christus stand die
Polemik gegen die betrügerischen Geschäftspraktiken. Der Rat war nicht gewillt,
aufgrund von derlei Vorhaltungen allzu scharf durchzugreifen, woraufhin das
Ministerium weiter protestierte. Die bei den Bürgern angestaute, durch die
Predigten artikulierte Animosität gegenüber den Juden führte schließlich 1696‑99
zu einer nachhaltigen Kontroverse zwischen Bürgerschaft und Rat.
In einer Eingabe von 1696
beklagten sich die bürgerlichen Kollegien über das jüdische
"Geschmeiß", das Lübeck wie eine Landplage verseucht hätte. Doch
ihrer Forderung nach konsequenter Ausweisung kam der Rat nicht nach. Er
plädierte für eine praktische Toleranz. Die Bürger ließen jedoch nicht locker.
In einer erneuten ausführlichen Eingabe von 1698 beklagten sie sich, "daß
diese von Gott verfluchte Nation anietzo mitten unter uns wohnet und ihrer
heutigen Religion nach nichts anders thut als unsern Heyland und Seligmacher
Jesum Christum zu lästern und zu schänden, ihrer profession und Handtierung
nach aber nichts anders sucht, als die Christenleuthe zu betriegen".
Konkurrenzangst und Unbehagen gegenüber fremdem Wesen mischten sich mit
religiösen Motiven zu einer antijüdischen Einstellung, die sich nicht zuletzt
auf Luthers Schriften gegen die Juden berief. Als der Rat auch jetzt nicht wie
gewünscht reagierte, drohte die Bürgerschaft im Januar 1699 mit
Selbsthilfeaktionen, um "diese christliche Stadt von diesem Teufels‑Geschmeis
und Christ‑Schändern zu exoneriren und zu säubern".
Die Auseinandersetzung
eskalierte nun, und die Bürger beschuldigten den Rat, den Rezeß von 1669
verletzt zu haben, welcher ihre Zustimmung zur Ansiedelung fremdreligiöser
Einwohner vorsah. Das Ministerium unterstützte ihre Klage. Deswegen und
angesichts der Gefahr innerer Unruhen nahm der Rat es schließlich hin, daß an
einem Sabbat im März 1699 alle in Lübeck ansässigen Juden durch eine
"Bürgerinitiative" unter tumultartigen Umständen aus der Stadt
verjagt wurden. Das erregte im übrigen Deutschland einiges Aufsehen, und der
Rat mußte sich gegenüber dem Kaiser deswegen verantworten.
Das Schutzjudentum und die jüdische Gemeinde in Moisling
Da das bislang der Familie
Wickede gehörige Moisling infolge der Bürgerunruhen 1665 ff unter holsteinisch‑dänische
Hoheit gestellt worden war, blieben die dort wohnenden Judenfamilien durch die
dänischen Toleranzprivilegien geschützt, wie König Christian V. 1697
ausdrücklich bestätigte. Für ihren Lebensunterhalt blieben sie allerdings auf
den Handel und damit auf den Zugang zur Stadt angewiesen. Der Rat verschärfte
nun nach den Unruhen von 1699 zwar die Kontrollmaßnahmen an den Stadttoren,
verfolgte aber seine Praxis des Schutzjudentums weiter, indem er 1701 erneut
einem Juden den Zuzug gestattete. Wieder hagelte es Proteste seitens der
Bürgerschaft und der Geistlichkeit, wobei letztere durch ein im Ton besonders
polemisches Memorial sich den Tadel der Obrigkeit zuzog.
Der Rat widerstand diesmal
(nicht zuletzt aus außenpolitischer Rücksichtnahme auf das Reich und Dänemark).
So wurde das Schutzjudentum zu einer hinfort akzeptierten Institution, wonach
jeweils eine jüdische Familie in Lübeck ansässig sein durfte, gegen eine Abgabe
den obrigkeitlichen Schutz genoß und unbeschränkte Handelsrechte bekam, welche
anderen Juden verwehrt blieben. Der Schutzjude war dem Rat für die Kontrolle
darüber, daß keine weiteren Juden sich heimlich niederließen, verantwortlich.
Die
Moislinger Juden erhielten seit 1709 unter strengen Beschränkungen Zugang zur
Stadt, um hier Einkäufe zu tätigen (jeweils einer täglich durfte zum Holstentor
gegen Vorlage eines Ausweises hereinkommen). Doch es kam schon bald deswegen
wieder zu Streitigkeiten, und erst aufgrund einer dänischen Intervention, die
der Moislinger Gutsherr von Wedderkopp erbeten hatte, regelte der Rat 1724 die
Sache neu. Der Handel in der Stadt blieb weiterhin verboten. Doch da dieser nun
einmal die Lebensgrundlage der Juden war, umgingen sie immer wieder alle
Verbote und Kontrollen (die 1771 durch ein Kardinaldekret vergeblich bekräftigt
wurden), so daß die Konflikte mit der Bürgerschaft während des ganzen 18.
Jahrhunderts fortbestanden. Um Einfluß auf die Moislinger Verhältnisse zu
bekommen, erwarb die Stadt 1763 das Gut, erhielt die staatliche Hoheit darüber
aber erst nach langen Verhandlungen mit Dänemark 1802/6. Auf dieser neuen
Rechtsgrundlage erlangten die Juden dann 1808 den freien Zutritt zur Stadt,
keineswegs jedoch die erstrebte bürgerliche Emanzipation.
In Moisling praktisch im
Ghetto, organisierte die jüdische Gemeinde, auch wenn sie unter kümmerlichen
wirtschaftlichen Bedingungen leben mußte, aufgrund des dänischen
Toleranzpatents von 1697 ihr religiöses Leben durch die Einrichtung eines
Bethauses und einer Toraschule in Gestalt eines Lernvereins. Vor 1720 erhielt
sie einen eigenen Rabbiner, eine kleine Synagoge sowie einen Friedhof,
woraufhin die im benachbarten Holstein verstreut lebenden Juden hier ihren
geistlichen Mittelpunkt fanden. In Lübeck blieb die jüdische Religionsausübung
auf das Haus des jeweiligen Schutzjuden beschränkt, aber gelegentlich suchten
die heimlich hier angesiedelten Juden synagogalen Gottesdienst zu halten, was
polizeilich unterbunden wurde.
In religiöser wie in sozialer
Hinsicht blieben sie eine von der Stadtgemeinschaft ausgeschlossene,
diskriminierte Minderheit. Das änderte sich nur für diejenigen Juden, welche
zum Christentum übertraten. Um solche Konversionen bemühten die lutherischen
Geistlichen sich durchaus; so z. B. Superintendent Pomarius, der 1669 ein
spezielles Unterweisungsbuch für Juden verfaßte und manchen von ihnen bekehrte.
Mit der Taufe war für diese die volle Integration in die bürgerliche Gemeinde
verbunden (beurkundet durch von Rat und Ministerium ausgestellte Zeugnisse).
Von einem rassisch begründeten Antisemitismus konnte im 18. Jahrhundert keine
Rede sein. Humanität und religiöse Toleranz gegenüber den Juden als
eigenständiger Gruppe setzten sich jedoch trotz der Aufklärung nicht durch. Die
unreflektierte Abneigung gegenüber fremdem Wesen und Abweichungen von der
religiös‑sozialen Norm dominierte. Geistige Aufgeschlossenheit gegenüber
dem Judentum oder gar Philosemitismus (so z. B. bei dem Superintendent
Schinmeier) war in der Kaufmannsstadt Lübeck weniger verbreitet als in den
kulturellen Zentren Deutschlands.
Reaktion gegen die Judenemanzipation
Einen besonderen Aspekt der
Restauration bietet die Behandlung der Juden nach 1814. Die 1811 gewährte
religiöse Toleranz und bürgerliche Gleichstellung war in dem humanistischen
Geist der Aufklärung begründet, allerdings den Lübeckern durch französische
Gesetzgebung aufgenötigt. 1813 lebten etwa 285 Juden (65 Familien) in der Stadt
und erregten durch ihren blühenden Handel Konkurrenzneid, was die
Krämerkompagnie veranlaßte, in einer ausführlichen Eingabe an den Rat vom 31.
Mai 1814 die Ausweisung der Juden zu beantragen, womit sie ihre traditionell
antijüdische Einstellung nach dem Umbruch erneut dokumentierte. Der Text dieser
Eingabe ist deswegen bemerkenswert, weil er deutlich die rein wirtschaftlichen
Motive dieses Händler‑Antisemitismus zeigt. Er polemisierte dagegen, daß
die alten Rechte von Handel und Gewerbe (Ausschluß der Juden) unter Berufung
auf allgemeine Menschenrechte und Grundsätze der christlichen Toleranz verletzt
würden; infolge der jüdischen Geschäftsaktivitäten müßte der größte Teil der
hiesigen Kleinhändler unvermeidlich verarmen. Antisemitische Töne begegnen hier
nur in der Charakterisierung der jüdischen Händlerfähigkeiten.
Der Rat hatte zunächst Bedenken,
die Juden wieder auszuweisen, sah allerdings die Lösung vor, die Bürgerrechte
zu revozieren und nur 25 jüdische Familien als Schutzverwandte in der Stadt
zuzulassen. Um dieser Gefahr zu begegnen, protestierten die Juden durch ihren
Anwalt, den liberalen Lübecker Advokaten Dr. Karl Friedrich Buchholz (1785‑1843),
den späteren Ratssyndikus, beim Wiener Kongreß, wo Buchholz insbesondere die
Unterstützung des preußischen Ministers Hardenberg fand. Doch den vier freien
Städten gelang es in gemeinsamem Bemühen, in der Deutschen Bundesakte von 1815
hinsichtlich der Judenemanzipation eine Formulierung durchzusetzen, die es
ermöglichte, die französische Gesetzgebung rückgängig zu machen. Hardenbergs
Versuche, den Rat für seine Toleranzpolitik zu gewinnen, fruchteten nichts; in
diesem Punkte bahnte sich eine ernste Verstimmung zwischen Preußen und Lübeck
an. Auf Betreiben der Bürgerschaft dekretierte der Rat schließlich 1816 die
Ausweisung der Juden, doch Preußen und Österreich erwirkten, daß die Ausführung
des Dekrets aufgeschoben wurde, bis die Angelegenheit vor dem Deutschen
Bundestag in Frankfurt endgültig geklärt wäre. Damit geriet die Lübecker
Judenfrage ins Licht der breiten Öffentlichkeit. Senator Johann Friedrich Hach,
Lübecks Vertreter beim Bundestag, berichtete aus Frankfurt von der allgemeinen
Animosität gegenüber Lübeck und fertigte im Auftrag des Rates eine eigene
Schrift über die Juden in Lübeck an, um gewissermaßen Gegenpropaganda zu
betreiben.
Hachs Schrift kommt über den
damaligen politischen Zusammenhang hinaus grundsätzliche Bedeutung zu, weil sie
‑ anders als jene Denkschrift der Krämerkompagnie mit ihrem
unreflektierten, ökonomisch begründeten Antisemitismus ‑ Ansätze einer
religiös‑nationalistischen Begründung des Antisemitismus bietet, die im Blick
auf die weitere Geschichte dieses Problems wichtig sind, nicht zuletzt auch
deswegen, weil diese Ansätze bei einem so vorzüglichen Vertreter lübischer
Bürgerlichkeit begegnen, den man gewiß nicht auf eine Stufe mit dem späteren
Rassismus und Radauantisemitismus stellen kann. Wie es im 20. Jahrhundert zu
den verhängnisvollen Auswirkungen des deutschen Antisemitismus kam, kann man ‑
ebenso wie bei den Wirkungen des Nationalismus ‑ nur dann verstehen, wenn
man auf ihre lange Vorgeschichte, ihre theoretische Begründung in der
bürgerlichen Intelligenz der Aufbruchszeit nach 1810 zurückblickt.
Bei Hach kommen das
Ressentiment gegen die Folgen der Aufklärung (kulminierend in der französischen
Revolution und der Unterdrückung Deutschlands) und die romantische Entdeckung
der Eigenheiten der Nation zusammen: "Werden die Regierungen nicht auf die
Volksstimme achten, welche allgemein sich gegen den Versuch sträubt, Christen
und Juden zu Einem Volke zusammenzuschmelzen? Schon den Ungebildeten lehrt es
der Instinkt, daß dann alles Volksthum, aus Christen und aus Juden,
verschwinden müsse. Ihr Aufgeklärten, ihr Hoch‑ und Übergebildeten, ehret
den Ausspruch des einfachen Natursinns. Man schätze und achte den Menschen auch
in den Juden; aber eine Verbrüderung ungleicher Triebe läßt sich nicht
erkünsteln!" Das ist keine rassistische Begründung, denn mit Volkstum (das
er auch mit Christentum gleichsetzen kann) meint Hach die historisch gewordene,
spezifische Identität der Kultur. Aber der Weg hin zum Rassismus war von solcher
Redeweise aus möglich.
Die religiöse Begründung, die
Hach seiner Ablehnung der Judenemanzipation gibt, ist ebenfalls aufschlußreich,
weil Christentum hier als Synonym für deutsches Bürgertum erscheint: "Es
ist historisch und dogmatisch erwiesen, daß im Judenthum überhaupt ein starkes
Hinderniß des Wohlseyns christlicher Staaten liegt; daß insbesondere ein ächter
Jude mit seinem Nationalgott, seiner Theocratie und seinem Rabbiner‑Aristocratismus,
wodurch der verderblichste Staat im Staate gebildet wird, nie ein guter Bürger
des von ihm bewohnten christlichen Staates sein kann; daß die Glaubenslehre des
Juden der christlichen Religion feindselig gegenüber steht; daß es eine
Blasphemie seyn würde, die christliche Moral mit den sittlichen Vorschriften
des Talmud zusammenzustellen ... Was dagegen vorgebracht wird, beruht auf
leerer Declamation von Toleranz und Humanität ... Nicht der Mensch, der sich zu
einem besonderen Glauben bekennt, sondern die bürgerliche Schädlichkeit dieses
Glaubens, nicht der Jude, sondern das Judentum ist der Gegenstand, dem die
Regierungen entgegenwirken müssen, dem die Völker mit Widerwillen und Abscheu
begegnen".
Mehrfache Gesuche der Juden um
Beibehaltung der Emanzipation nützten nichts, doch in der Hoffnung, daß
außenpolitische Rücksichtnahmen ihnen weiterhin helfen könnten, blieben sie in
der Stadt. Als der Rat daraufhin 1818/19 eine Reihe weiterer Restriktionen
anordnete, um ihren Handel zu unterbinden, und die Bürgerschaft immer wieder
drängte, endlich die Ausweisung zu vollziehen, richteten die Juden 1820 nach
dem Vorbild ihrer Bremer Glaubensbrüder eine Eingabe an den Bundestag, aufgrund
von Artikel 16 der Bundesakte ihnen gegenüber dem Rat die bürgerliche
Gleichberechtigung zu erwirken. Dieser Vorstoß war aufgrund der Rechtslage zum
Scheitern verurteilt, der Bundestag entschied zuungunsten der Juden, und so
verfügte der Rat, daß bis zum 1. November 1821 alle in Lübeck seit 1810
zugezogenen Juden die Stadt zu verlassen hätten. Sie mußten zurück ins
Moislinger Ghetto, einzelne persönliche Härten wurden nicht berücksichtigt,
vielmehr achtete der Rat durch Verordnungen und Polizeimaßnahmen darauf, daß
keine Verbindungen zur Stadt wachsen konnten. Trotz staatlicher Beihilfen zur
Herrichtung der Wohnungen in Moisling und zum Neubau einer Synagoge (1825)
blieb die soziale Lage der Juden skandalös. Der ganze Vorgang 1814‑21 ist
ein schlimmes Beispiel für die Restauration nach 1814, für provinzielle
Engstirnigkeit und Intoleranz.
Emanzipation der Juden 1848‑52
Durch die Einführung der
Grundrechte waren Tendenzen zur Liberalisierung auf religionspolitischem Gebiet
in Gang gekommen, die auch dann noch fortwirkten, als die Grundrechte formell
wieder aufgehoben wurden. Die moralisch bedeutsamste Neuerung betraf die
bürgerliche Gleichstellung der Juden, die ihnen 1821 nach langem Streit zuletzt
verwehrt worden war. Auch sie wurde nicht durch die Situationsänderung von 1848
erzwungen, sondern von längerer Hand vorbereitet.
Da den Juden der Absatz ihrer
Waren in der Stadt verboten blieb, mußten sie im Moislinger Getto ein
erbärmliches Dasein fristen. Ihre Not brachte schließlich viele Einsichtige
dahin, für die Gewährung der Gewerbefreiheit einzutreten. Die Neuen
Lübeckischen Blätter setzten sich dafür ein, 1842 wurde schließlich eine Kommission
unter Führung des Syndikus Karl August Buchholz, des alten Streiters für
jüdische Rechte, eingesetzt. Sie gelangte nach Prüfung der Sachlage schon 1843
zu der einmütigen Empfehlung an den Senat, aus Gründen der Humanität und
Gerechtigkeit ("zur Ehre unserer Stadt") den Juden die volle Gewerbe‑
und Wohnfreiheit zu gewähren, um so ihrer Verarmung aufzuhelfen. Doch der Senat
zögerte, setzte 1847 erneut eine Kommission ein, erklärte sich aber im Januar
1848 wenigstens bereit, für die Juden deutsche Familiennamen vorzuschreiben.
Ihre bürgerliche
Gleichberechtigung wurde im Zusammenhang der Verfassungsrevision, die den
Unterschied zwischen Bürgern und Einwohnern aufhob, durch den Rats- und
Bürgerschluß vom 8. Oktober 1848, welcher das Bürgerrecht allen Einwohnern
"ohne Rücksicht auf das religiöse Bekenntniß" zugestand, implizit
anerkannt. Denn bei dieser Gesetzgebung war auch die Judenfrage thematisiert
worden, weil die Bürgerschaft sich zunächst dagegen gewehrt hatte, sie
unabhängig von der gesamten Religions‑ und Kirchenfrage zu lösen, dann
aber der Lösung zustimmte, daß die Juden, sollten sie in die Bürgerschaft
gewählt werden, sich der Abstimmung über Angelegenheiten der christlichen
Kirche zu enthalten hätten.
Ohne es durch ein
ausdrückliches Gesetz zu fixieren, ging der Senat seit der Proklamation der
Grundrechte 1849 davon aus, daß die Juden auch die gewerblichen Rechte hätten.
Infolge dieser Praxis zogen die meisten Juden von Moisling in die Stadt, die
Gemeinde kaufte sich schon 1850 ein Haus in der Wahmstraße, das ihr als
Synagoge diente, aber bald schon viel zu eng wurde. In dem Rabbiner Alexander
Adler bekam sie einen tatkräftigen Leiter, und seit der Wahl von 1851 war mit
dem Gemeindediener Samuel Marcus auch ein Jude Mitglied der Bürgerschaft.
Die Aufhebung der Grundrechte
stellte die ganze Entwicklung jedoch plötzlich wieder in Frage, weil die
Emanzipation nicht positiv gesetzlich geregelt war. Allerdings war der Senat
entschlossen, dieses Versäumnis nachzuholen, und nachdem auch eine Bürgerschaftskommission
unter Leitung des Liberalen Crome, an welcher der Jakobipastor Klug, seit
langem für die Judenfrage aufgeschlossen, beteiligt war, sich nachdrücklich
gegen jede Beschränkung der gewerblichen Berechtigungen der Juden ausgesprochen
hatte, trat am 16. Juni 1852 das Gesetz in Kraft, wonach "die Bekenner der
jüdischen Religion ... mit den übrigen Staatsangehörigen so wie in
staatsbürgerlicher so auch in gewerblicher Berechtigung" gleichgestellt
sein sollten. Hinfort übte der Senat die Aufsicht wie über die christlichen
Kirchen so auch über die jüdische Gemeinde aus.
(Wolf-Dieter Hauschild:
"Kirchengeschichte Lübecks. Christentum und Bürgertum in neun
Jahrhunderten", Lübeck 1981, S. 111, 351-353, 379-381 und 417 f)
4) Antjekathrin Graßmann, Franklin Kopitzsch, Gerhard Ahrens und Gerhard
Meyer
17. Jahrhundert
Juden erschienen um die Mitte
des Jahrhunderts aus dem Osten kommend in Lübeck. 1645 wird ein Samuel Frank
aus Hamburg genannt, der vom An‑ und Verkauf von Gold und Silber lebte.
Während er auf Drängen des Hamburger Rats nach einer zeitweiligen Verweisung
aus der Stadt 1660 nach Lübeck zurückkehrte, wurden jüdische Familien in
Moisling noch 1665 vertrieben. Sie durften sich dann aber geschützt durch ein
Dekret des dänischen Königs Christian V. vom 27. Februar 1686 dort niederlassen
und durch ein ergänzendes Edikt vom 16. Januar 1697 "in den Reichen und
Fürstentümern des Königs Freiheit in Handel und Wandel" genießen. Einander
widerstreitende Interessen ließen in Lübeck eine ähnliche Haltung nicht zu: Sah
man einerseits den Nutzen der für die Juden traditionellen Handelsgeschäfte
(Gold‑ und Silberhandel, Geldwechsel, Leihgeschäfte) ein, so fürchteten
die Goldschmiede die Konkurrenz und die Obrigkeit den Schleichhandel. Ging man
daher auch gegen die Moislinger Juden voller Mißtrauen vor und verbot ihnen den
Aufenthalt oder insbesondere die Übernachtung, d.h. also im Grunde die
Existenzgründung, in Lübeck, so waren durchreisende Juden geduldete
Handelspartner. Die Ratspolitik war also zweigleisig. Erlaubte man einerseits
den Juden Samuel Frank und Nathan Siemsen 1681 die Niederlassung in der Stadt,
dem Letztgenannten 1686 sogar den Ankauf eines Hauses, so schränkte man
andererseits diese Zugeständnisse 1687 wieder ein: Nur die beiden Genannten
durften gegen Schutzgeldzahlung in Lübeck bleiben, alle übrigen mußten sie
verlassen. 1699 mußte auf Druck der Bürgerschaft selbst diese Regelung
abgeschafft werden. Man fand dann, wie in anderen Reichsstädten, die Lösung des
Problems dadurch, daß seit 1701 wieder ein einzelner bestimmter Jude gegen ein
sog. Schutzgeld angenommen wurde.
Die Beharrlichkeit, mit der
die jüdischen Bewohner Moislings Möglichkeiten fanden, abgesehen von den oben
genannten Gewerben, auch mit Hausier‑ und Trödelhandel, in Lübeck Fuß zu
fassen, ist erklärlich, wenn man bedenkt, daß der Handel die einzige Grundlage
ihrer Existenz war. Der Moislinger Gutsherr versuchte daher in zahlreichen
Eingaben an den Lübecker Rat, freien Zutritt und Handel für seine Untertanen in
der nahen Reichsstadt zu erreichen. Seit dem 1. Mai 1709 durfte ein Jude
täglich gegen die Vorlage eines Erkennungszeichens durchs Holstentor in die
Stadt kommen, "umb benöthigte provisiones und Lebensmittel vor sich und
die anderen dort wohnenden Juden einzukauffen", jedoch nicht über Nacht
bleiben. Beim Torschreiber mußte eine Liste über die in Frage kommenden
Personen vorliegen und der Name des Einlaß Begehrenden immer genannt werden.
Diese Regelung blieb in den Grundzügen das ganze 18. Jahrhundert hindurch
maßgebend. Trotz dieser wirtschaftlichen Erschwernisse wuchs die jüdische
Bewohnerschaft in Moisling: 1709: 12 Familien, 1735: 36 Familien, 1745: 42
Familien. Seit 1720 gab es auch sog. "Feste jüdische
Gerechtigkeiten", die sich auf gottesdienstliche und gesellschaftliche Ordnung
bezogen und von der Moislinger Gutsherrschaft genehmigt worden waren.
18. Jahrhundert
Während die Juden in Moisling
an der Gutsherrschaft und der dänischen Regierung Rückhalt hatten, suchte der
Rat, besonders von Goldschmieden und Krämern gedrängt, den Moislinger Juden den
Zugang zur Stadt zu erschweren. Kamen sie zum Einkauf, so wurden sie von
Soldaten begleitet. Durch Kauf kam Moisling 1762 an Lübecker, die es für die
Stadt verwalteten, bis es 1810 deren Administration unterstellt wurde. Im Hoheitsvergleich
zwischen Dänemark und Lübeck von 1802 war mittlerweile der Anschluß von
Moisling und Niendorf‑Reecke an Lübeck vereinbart worden. Bis 1802/06
hatte Dänemark die Landeshoheit inne, so daß sich an der Situation der Juden
nichts änderte. Die Krämerkompanie erklärte 1776 in einem Gesuch an den Rat,
das den Schleichhandel betraf: "Die Juden brauchen nicht für Wohlstand zu
sorgen, auch nicht ihre Kinder in Künsten und Wissenschaften zu erziehen, sie
brauchen viel weniger und sind daher mit dem geringsten Verdienst
zufrieden". David Alexander Winter hat dazu in seiner Geschichte der Juden
in Moisling und Lübeck mit Recht festgestellt. "Der Antrag der Krämer ist
ein wertvolles Kulturdokument für diese Zeit. Zuerst wandte man alle Maßregeln
an, um die Juden in ihrer Entwicklung und Ausbildung zu hemmen und ihre
Lebensbedürfnisse möglichst niedrig zu halten, dann aber klagte man über die
selbst verursachte Wirkung". Ein Jahr später beschwerten sich die Ältesten
und Vorsteher der "Altonaischen Juden Gemeinde" beim dänischen
Residenten Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, daß der jüdische Vorsänger Mendel
Bacherach von der Torwache in Lübeck schimpflich behandelt worden sei. Von
Gerstenberg wandte sich an den Rat, der den Vorfall untersuchen ließ und die
Schuldigen zur Rechenschaft zog. Die trotz aller Einschränkungen zunehmenden
Wirtschaftsbeziehungen zwischen Lübeck und Moisling blieben nicht ohne Wirkung.
1790 reichte Jacob Meyer beim Rat ein Gesuch ein, sich in Lübeck niederlassen
und eine Kattunfabrik errichten zu dürfen. Sieben der kaufmännischen Ratsherren
befürworteten seinen Antrag, fünf lehnten ihn ab. Von den Kollegien
verweigerten alle mit Ausnahme der Kaufleutekompanie ihre Zustimmung. Auf
beiden Seiten wurden insbesondere wirtschaftliche Argumente angeführt. Doch
gingen die Befürworter darüber hinaus und fragten, warum den Juden "nicht
die Rechte der Menschheit" eingeräumt werden sollten. Offensichtlich
hatten die Stellungnahmen bedeutender Aufklärer wie Gotthold Ephraim Lessing
und Christian Wilhelm Dohm zugunsten der Juden, hatte das Beispiel Moses
Mendelssohns auch in Lübeck eine gewisse Resonanz gefunden. Immerhin war es
nach Berlin 1783 und Preßburg 1785 im Jahre 1788 die dritte Stadt, in der
Lessings "Nathan der Weise" aufgeführt wurde. Breitenwirkung freilich
blieb solchen Auffassungen noch versagt. 1801 forderten elf Kollegien die
Ausweisung von vier fremden Juden. Zwei Juden mußten schließlich die Stadt
verlassen. "Eine treffende Charakteristik der im Wesen unveränderten
Gesinnung gegen die Juden findet sich", so Winter, "in den Notamina
ad. Suppl. Eilf bürgerl. Collegiorum" des Rates: "Amplissimus Senatus
hat oft und schon frühe mildere Gesinnungen und die auch wirklich besser mit
der Politik bestünden, Eingang zu verschaffen gesucht; allein vergeblich. Ist
gleich in neueren Zeiten der Ausdruck bürgerlicher collegiorum oder des Amts
der Goldschmiede weniger inhuman, spricht man nicht mehr wie ehedem von
Judengeschmeiß, Schandgezücht und dergl., melirt sich ein Ehrw. Ministerium in
Christlichem Eifer nicht mehr darin, den Mund voll unchristlicher Injurien
gegen die sogenannten Jesusschänder, die so ein hors de lois muß auf sich
sitzen lassen, stehen gleich gegen einen jüdischen Einwanderer die Nachbarn mit
zugehaltenen Nasen nicht mehr auf ‑ so ist dennoch im Wesentlichen alles
so ziemlich das Alte". Sieben Jahre später, 1808, wurde den Moislinger
Juden auf ihr ausführlich begründetes Gesuch hin ‑ "ein bedeutsames
geschichtliches Dokument in ihrem Kampf um die elementarsten
Menschenrechte" (Winter) ‑ der freie, unentgeltliche Zutritt zur
Stadt gewährt. Die Zahl der Juden in Lübeck und Moisling war im Laufe des 18.
und frühen 19. Jahrhunderts angestiegen, ein Anzeichen mehr für die
wirtschaftliche Ausstrahlungskraft der Reichsstadt an der Trave. Lebten 1767 im
Kreis der nach der Vertreibung von 1699 bereits 1701 wieder zugelassenen
Schutzjuden vier Familien mit zwölf Personen in Lübeck, so waren es 1791 = 13
Familien mit 48 Personen. Die Zahl der in Moisling wohnenden Familien betrug
1709 = 12, 1735 = 36, 1745 = 42 und 1807 = 74.
1806 -
1914
Die
Rücknahme der Judenemanzipation
Die Aufnahme Lübecks in den
französischen Staatsverband hatte den Juden die bürgerliche Gleichstellung
gebracht. In Verbindung mit der von nun an praktizierten Gewerbefreiheit hatte
dies zur Folge, daß sie in großer Zahl das ihnen als Wohnort angewiesene Dorf
Moisling verließen und sich im Stadtgebiet ansiedelten. Lebten 1811 noch 381
Juden in Moisling und nur 52 innerhalb der Mauern, so hatte sich das Verhältnis
bis 1815 geradezu umgekehrt: nun wohnten 356 Gemeindemitglieder im Stadtgebiet
und nur noch 140 in Moisling.
Mit dem Abzug der Franzosen
war deren Gesetzgebung bis auf wenige Ausnahmen ausdrücklich aufgehoben worden.
Der Rat zeigte freilich kein Interesse, die bürgerliche Gleichstellung der
Juden ebenfalls rückgängig zu machen. Doch wirtschaftlicher Konkurrenzneid ‑
besonders ausgeprägt in den Reihen der Krämerkompanie ‑ verlangte nach
entsprechenden Maßnahmen. Der eher halbherzig gemachte Vorschlag des Rats, das
Bürgerrecht der Juden aufzuheben und ihnen erneut Moisling als Wohnsitz
anzuweisen, dafür aber 25 Familien als Schutzverwandte im Stadtgebiet
anzunehmen, wurde von der Bürgerschaft entschieden abgelehnt.
Inzwischen aber hatten sich
die Juden der drei Hansestädte zusammengetan und dem lübeckischen Advokaten
Carl August Buchholz (1785‑1843), dem späteren Syndicus des Rats,
Vollmacht erteilt, ihre gemeinsamen Interessen auf dem Wiener Kongreß zu
vertreten. Zwar stimmte dessen geschmeidige Argumentation im Kreise der dort
versammelten Politiker und Diplomaten ganz mit den Intentionen Österreichs und
Preußens überein, doch seine aufdringliche Agitation stärkte andererseits auch
das Zusammenstehen der Freien Städte: Ihren Vertretern gelang es jedenfalls, im
Artikel 16 der Bundesakte eine Formulierung zu verankern, die es den
Mitgliedern möglich machte, die Judenemanzipation aufzuheben.
Das daraufhin 1816 auf
Betreiben der Bürgerschaft erlassene Ratsdekret wurde zwar nach Einspruch der
Großmächte wie auch Hamburgs zunächst nicht vollzogen, doch eine Vielzahl von
Verordnungen hat fortan den Juden die Teilnahme am Wirtschaftleben erschwert.
Als Folge solcher Maßnahmen verließen zahlreiche wohlhabende Juden den
lübeckischen Staat, so daß die soziale Lage der Gemeinde immer dürftiger wurde.
Als schließlich im November 1821 alle seit 1810 zugezogenen Juden zum Verlassen
des Stadtgebiets aufgefordert wurden, mußte der Staat in Moisling Wohnraum für
sie schaffen, der ihnen dann vermietet wurde. In der Stadt durften nur noch ‑
wie von alters her ‑ der angenommene Schutzjude mit seiner Familie und
einige geduldete Glaubensgenossen wohnen; das waren 1824 nicht mehr als 31
Personen.
Das hier geschilderte
Schicksal der jüdischen Bevölkerung in Lübeck im Zeitalter von Restauration und
Reaktion ist mit Recht als "ein schlimmes Beispiel [ ... ] für
provinzielle Engstirnigkeit und Intoleranz" (Hauschild) gebrandmarkt
worden. Erst die Entscheidung der Frankfurter Nationalversammlung hat die
Judenemanzipation im Oktober 1848 auch in Lübeck herbeigeführt; freilich mußten
die Juden auch dann noch fast vier Jahre auf ihre Gleichstellung in
Gewerbeangelegenheiten warten!
1914 - 1985
Da die Juden für die
Nationalsozialisten als Urheber allen Übels galten, wurde durch Goebbels und
Ley im ganzen Reich, also auch in Lübeck, am 1. April 1933 ein Boykott
jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte veranstaltet. Das war der Anfang
der Verdrängung der Juden aus allen Berufen. Das Leben wurde ihnen durch immer
neue Schikanen ständig mehr erschwert. Hin und wieder kam es zu Plünderungen
und Gewalttätigkeiten. Die Ermordung des deutschen Diplomaten Ernst von Rath
durch den Juden Herschel Grynszpan in Paris bot den Vorwand für ein
reichseinheitliches Pogrom in der sogenannten "Reichskristallnacht"
vom 9. zum 10. November 1938. Über die Vorgänge in Lübeck berichtete der
Lübecker Generalanzeiger am 11. November auf nur sieben Zeilen: "... auch
in Lübeck kam es zu Beschädigungen jüdischer Geschäfte. Besonders wurden davon
Globus in der Breiten Straße und Honig im Schüsselbuden betroffen. Weiter
wurden Wagner in der Holstenstraße, Holzblatt in der Hüxstraße und das
Wäschegeschäft Gazelle in der Breiten Straße beschädigt. Ebenso wurden in der
Synagoge Beschädigungen angerichtet". Was hier verschämt mit Beschädigungen
bezeichnet wurde, waren wüste Plünderungen, Raub und Mißhandlungen. Wenn die
Synagoge nicht ‑ wie in anderen Städten ‑ in Flammen aufging, dann
nur deshalb, weil das St. Annen‑Museum mit seinen Schätzen unmittelbar
daran angrenzte. Doch wurde sie geschändet und 1939 der jüdischen Gemeinde für
ein Spottgeld abgenommen. Das Gebäude gestaltete man gänzlich um und verwendete
es unter der Benennung "Ritterhof" als Turnhalle, Kinderheim und
Requisitenkammer der Städtischen Bühnen. Die zerstörten jüdischen Geschäfte
durften nicht wieder eröffnet werden. Von den 497 Lübecker Juden des Jahres
1933 (weniger als 1/2 % der Bevölkerung) wanderten viele aus, so daß bei der
Volkszählung am 17. Mai 1939 nur noch 203 gezählt wurden.
Unter den Verhältnissen des
Krieges nahm der Druck auf sie noch zu. Ihr Leben wurde immer unerträglicher.
Josef Katz, ein Überlebender, beschreibt, wie er mit etwa 90 anderen
Leidensgefährten, meist Alten und Armen, die nicht hatten auswandern können
oder wollen, am 6. Dezember 1941 in Viehwagen in das Konzentrationslager
Fasanenhof bei Riga verfrachtet wurde. Alle bis auf zwei Männer kamen ums
Leben. Die letzten Lübecker Juden wurden im April und Juli 1942 und im Februar
1943 ins Konzentrationslager Theresienstadt (Tschechoslowakei) deportiert. Von
ihnen überlebte nur eine Frau.
Der schnelle wirtschaftliche
Aufschwung, die Beseitigung der Arbeitslosigkeit und die Besserung der
Lebensverhältnisse, andererseits die Aufhebung der im Versailler Vertrag
verfügten militärischen Beschränkungen sowie die Eingliederung des Saarlandes,
Österreichs, des Sudetenlandes und des Memelgebiets hatten einen beträchtlichen
Zuwachs an Zustimmung für den Nationalsozialismus zur Folge.
Dem standen der wachsende
Zwang, seine völlige Intoleranz und seine Gewalttaten gegen Gesetz und Moral
gegenüber. Trotz schwerer eigener Gefährdung gab es aber auch immer solche, die
sich nicht gleichschalten ließen, die sich wehrten. Die Geschichte des in
Lübeck geleisteten Widerstandes bleibt noch zu erforschen: Heimlich trafen sich
Gruppen von Sozialdemokraten und Kommunisten, die regierungsfeindliche
Flugblätter verteilten. Es gab, wie erwähnt, Widerstand in den Kirchen. Vor
allem aber lebte er in den Handlungen von Einzelnen. Sie reichen von der Nicht-Anpassung
bis zu Bemühungen zum Sturz des Hitler‑Regimes. 1985 wurden 51 Personen
genannt, die für ihre Überzeugung den Tod erlitten. So wurden außer Leber und
Solmitz auch die Bürgerschaftsabgeordneten Erich Klann, Dr. Moritz Neumark,
Egon Nickel, Karl Ross, Paul Steen und Johannes Stelling Opfer des
Nazi-Terrors. Andere emigrierten, wie der spätere Bundeskanzler Willy Brandt
sowie Thomas und Heinrich Mann, alle in Lübeck geboren.
("Lübeckische
Geschichte", herausgegeben von Antjekathrin Graßmann, Lübeck 1988 / S.
467f: "17. Jahrhundert" von Antjekathrin Graßmann / S. 508-510:
"18. Jahrhundert" von Franklin Kopitzsch / S. 566-568:
"1806-1914" von Gerhard Ahrens / S. 721f: "1914-1985" von
Gerhard Meyer)
5) Rolf Winter
Ich sah Baruch Langsner erst
1938 aus der Nähe wieder, nachdem wir von der Dankwarts‑ in die
Marlesgrube umgezogen waren. Ich sah ihn an dem Tag, nachdem meiner Mutter
Partei (NSDAP, d.V.) auch in Lübeck die Synagoge abbrannte und Kaufhäuser von
Juden demolierte, und dann holten sie Baruch Langsner ab. SA‑Leute hatten
ihn in einen grotesk kleinen Handwagen gesetzt, in dem er hockte und immerzu
mit erhobenem rechtem Arm »Heil Hitler« schrie, und er hatte sein merkwürdiges
Lächeln nicht mehr im Gesicht, sondern nackte Angst, und auch seine Filzkappe
trug er nicht mehr, und die SA‑Leute, die ihn zogen und die kleine
Handkarre begleiteten, betrachteten ihn voller Verachtung, als transportierten
sie ein Stück Dreck, das dringend auf die Müllhalde müsse.
Sie holten ihn nicht
insgeheim, nicht bei Nacht und Nebel, sondern sie machten eine demütigende
Demonstration aus seinem Exodus, ein Zeichen der Zeit, einen kleinen
Triumphzug, und genossen die auf dem Trottoir der oberen Marlesgrube stehende
Öffentlichkeit. Irgend jemand rief »Judenlümmel«, und jemand anders empörte
sich darüber, daß »der Kerl« den Namen Hitlers mißbrauche, und Mutter sagte,
daß sie ihn nicht unbedingt auf einer Handkarre hätten abholen müssen, »das war
doch nicht nötig«, sagte sie ...
("Hitler kam aus der
Dankwartsgrube" von Rolf Winter, 1991 / Rolf Winter war langjähriger
Chefredakteur der Illustrierten STERN)
6) Zeittafel von den Anfängen bis 1987
1350 Juli: In einem Schreiben an den Herzog Otto von
Braunschweig behaupten die Rathmannen (die Mitglieder des Rates) zu Lübeck, die
Juden seien verantwortlich für den Pesttod von 80.000 bis 90.000 Menschen in
Lübeck und Umgebung.
1500: Der Chronist Reimar Kock vermerkt, dass in Lübeck
keine Juden sind.
1645: Der Jude Samuel Frank wird in Lübeck urkundlich
erwähnt.
1656: Kosakenaufstände und Pogrome veranlassen Juden aus
Osteuropa zur Flucht. Mehrere Familien, die vermutlich auf dem Seewege von
Libau (Lettland) nach Lübeck kamen, finden in Moisling Aufnahme.
1658: Die Lübecker Goldschmiede beschweren sich über den
Hausierhandel (Haustürgeschäfte) der Juden. Daraufhin beschließt der Rat die
Ausweisung der Juden durch die Wette (Polizei).
1660: Auf weitere Beschwerde der Goldschmiede wird den Juden
unter Androhung schwerer Strafen der Aufenthalt in Lübeck verboten.
1665: Bewaffnete Lübecker Bürger überfallen die in Moisling
ansässigen Juden, weil sie die Konkurrenz und wirtschaftliche Nachteile
befürchten.
1666: Die Schonenfahrer - maßgeblicher Faktor der Lübecker
Kaufmannschaft - veranlassen Ausschreitungen gegen den Juden Samuel Frank, der
mit Edelmetallen handelt.
1669: Rezeß (schriftlich niedergelegtes Ergebnis von
Verhandlungen), wonach der Rat Menschen fremder Nationalität oder Religion nur
mit Genehmigung der zwölf Kollegien und Ämter in Lübeck aufnehmen darf.
1683: Der Rat verbietet den Juden Samuel Frank und Nathan
Siemsen den Ankauf von Gold, Silber und Perlen, weil sie als Hehler verdächtigt
werden.
1686: Nathan Siemsen erwirbt offenbar als erster Jude ein
Hausgrundstück in Lübeck.
1686: Der Dänenkönig Christian V. gestattet dem Moislinger
Gutsherrn die Aufnahme von Juden, die auch eine Synagoge errichten dürfen.
1696: Die Bürgerschaft wendet sich gegen die Zulassung von
Juden, da Lübeck im ganzen Reich durch die Juden "berüchtigt"
geworden sei.
1698: Der Rat wird von allen Kollegien am 20. Dezember
aufgefordert, "gleich nach den heiligen Feiertagen dies Judengeschmeis aus
dieser Stadt" zu schaffen.
1699: Meinungsverschiedenheiten zwischen Rat und
Bürgerschaft über die "Judenfrage".
1699: Am 4. März - an einem für die Juden heiligen Sabbat -
werden diese aus Lübeck nach Moisling vertrieben. Es kommt zu Beleidigungen und
Handgreiflichkeiten. Die Bürgerschaft schafft vollendete Tatsachen, ohne eine
Verständigung mit dem Rat abzuwarten.
1701: Die Vertreibung von 1699 wird einigen Pastoren
entschieden mißbilligt. Kaiser Leopold und der Markgraf von Bayreuth erheben
Protest.
1708: Der Moislinger Gutsherr verlangt vom Rat für seine
Juden die Erlaubnis, unter gewissen Voraussetzungen nach Lübeck kommen zu
dürfen.
1709: Nach Intervention der dänischen Regierung darf ein
Jude pro Tag nach Lübeck. Er muss sich bei der Torwache melden und ausweisen.
Er wird von einem Wachsoldaten begleitet und beaufsichtigt.
1761: Vier Lübecker Ratsherren erwerben Moisling.
1763: Einschlägige Beschwerden veranlassen den Rat, die
Vollzugsorgane anzuweisen, allen Fremden mit "anständiger
Höflichkeit" zu behandeln, gleichgültig ob es Christen oder Juden seien.
1763: Lübeck kauft das Gut Moisling für 90.000 Reichstaler.
1767: Der Rat beauftragt die Vollzugsorgane mit der
Aufklärung, warum "die Stadt so sehr mit Juden angefüllt wurde".
1768: Die Krämer beschweren sich erneut über den
Schleichhandel der Juden.
1792: Großbrand in Moisling. Lübeck finanziert den
Wiederaufbau mit solidem Baumaterial.
1801: Auf Einspruch der Bürgerschaft ordnet der Rat die
Ausweisung von zwei Juden an, wobei beleidigende Abwertungen wie
"Judengeschmeiß" und "Schandgezücht" benutzt werden.
1802: Dänemark überträgt Lübeck die Landeshoheit über
Moisling, Niendorf (im Lübschen) und Reecke. Das Oberrabbinat in Altona ist
damit für Moisling nicht mehr zuständig.
1806: Der 1802 mit Dänemark geschlossene Vertrag wird
ratifiziert.
1808: Am 23. Februar bitten die Juden aus Moisling den Rat
um freien und unentgeltlichen Eintritt nach Lübeck.
1808: Der Rat gestattet den Moislinger Juden freien Zutritt.
Der Handel bleibt ihnen aber verboten.
1811: Nach Napoleons Eroberungskriegen wird Lübeck am 1.
Januar in das französische Kaiserreich eingegliedert.
1813: In den Befreiungskriegen gegen die napoleonische
Fremdherrschaft kämpfen acht Freiwillige in der Hanseatischen Legion.
1814: Der Lübecker Rechtsanwalt Dr. Carl August Bucholz
(christlicher Konfession) setzt sich für die Gleichberechtigung der Juden ein
und veröffentlicht die Schrift "Über die Aufnahme der jüdischen
Glaubensgenossen zum Bürgerrecht".
1814: Der Polizeidiener Hirsch wird erster Jude in
städtischen Diensten Lübecks.
1814: Die liberaleren Vorschriften aus der Franzosenzeit
werden aufgehoben und die alten - für die Juden nachteiligen - Bestimmungen
wieder in Kraft gesetzt.
1814: Die Bürgerschaft will den 66 jüdischen Familien das
Aufenthaltsrecht in Lübeck entziehen.
1814: Auf dem am 1. November eröffneten Wiener Kongreß
wendet sich Lübeck gegen die Gleichberechtigung der Juden.
1815: Die bürgerlichen Kollegien wollen mehrheitlich, dass
die Juden wieder aus der Stadt vertrieben werden sollen.
1815: Elf jüdische Familien werden ausgewiesen.
1816: Weitere 42 jüdische Familien müssen Lübeck verlassen.
1817: Die Ladengeschäfte jüdischer Händler werden
versiegelt.
1818: Den Juden wird der Handel in der Stadt Lübeck
verboten.
1821: Alle seit 1810 zugezogenen Juden müssen Lübeck nach Anordnung des Senats
verlassen. Davon sind 45 Familien betroffen und nur acht Familien dürfen
bleiben.
1827: Die Stadt Lübeck errichtet für 9.000 Courantmark eine
(neue) Synagoge in Moisling.
1830 - 1837: Streit in der jüdischen Gemeinde zwischen
orthodoxen und liberalen Strömungen bezüglich der Elementar-Schule.
1837: Am 27. November wird in Moisling eine jüdische
Elementar-Schule mit zwei Klassen für 100 Schüler eröffnet.
1839: Erneutes Großfeuer in Moisling. Die Bürgerschaft
behebt die Obdachlosigkeit von 22 jüdischen Familien durch die Bewilligung vom
9.200 Courantmark.
1839: Der Senat verpflichtet die Handwerksämter, auch
jüdische Lehrlinge auszubilden.
1848: Der Senat regelt das Namensrecht der Juden
(unabänderlicher und vererblicher Familienname). Von 68 wählen 36 einen neuen
Familiennamen.
1848: Vorbehaltlose Gleichstellung der Juden durch Senat und
Bürgerschaft in Folge der Gesetze der Nationalversammlung in der Frankfurter
Paulskirche.
1851: Mit dem Gemeindediener Samuel Marcus wird der erste
Jude in die Bürgerschaft gewählt.
1859: In der Wahmstraße wird eine jüdische Elementar-Schule
eröffnet.
1862: Erneuter Erwerb des 1822 verkauften Grundstücks in der
St.-Annen-Straße 13 zur Errichtung einer Synagoge.
1878: Zur Errichtung der neuen Synagoge bewilligt die
Bürgerschaft ein zinsloses Baudarlehen von 22.000 Mark.
1914 - 1918: Im Ersten Weltkrieg opfert die jüdische
Gemeinde den Kupferbelag der Synagogenkuppel. Insgesamt 106 jüdische Soldaten
stehen im Feld, von denen 15 fallen und 36 - teilweise schwer - verletzt
werden.
1921: Dr. David Alexander Winter tritt die Nachfolge von
Rabbiner Dr. Joseph Carlebach an und wird letzter Rabbiner der Jüdischen
Gemeinde in Lübeck.
1923: Die Jüdische Gemeinde Lübeck wird Körperschaft des
öffentlichen Rechts und erhält damit den gleichen Status wie die evangelische
und die katholische Kirche.
1933: Am 30. Januar wird der für seinen fanatischen
Antisemitismus bekannte Adolf Hitler - österreichischer Herkunft - vom
Reichspräsidenten Hindenburg zum Reichskanzler ernannt.
1933: Da der Rabbiner Dr. A. Posner Deutschland verläßt,
übernimmt der Lübecker Rabbiner Dr. Winter auch die Seelsorge in Kiel.
1933: Am 6. März übernehmen die Nationalsozialisten auch in
Lübeck die Macht.
1933: Am 11. März wird Dr. Fritz Solmitz verhaftet und in
das Konzentrationslager Hamburg-Fuhlsbüttel gebracht. Dr. Solmitz ist Jude,
SPD-Bürgerschaftsmitglied und Redakteur beim "Lübecker Volksboten".
1933: Die polizeiliche Durchsuchung der Synagoge hat kein
belastendes Material erbracht.
1933: Die jüdischen Rechtsanwälte treten aus dem Lübecker
Anwaltsverein aus um einem Ausschluß zuvor zu kommen, nachdem dieser eine
"Säuberung von jüdischem Einfluß" gefordert hat.
1933: Das Reichsgesetz zur Wiederherstellung des
Berufsbeamtentums vom 7. April beabsichtigt auch den Ausschluß jüdischer
Beamter.
1933: Lübecks Oberschulbehörde ordnet am 30. April an, daß
jüdische Schriftsteller nicht mehr Gegenstand des Deutschunterrichts sein
dürfen.
1933: Ende Mai werden auf dem Buniamshof Bücher verbrannt.
Darunter befinden sich auch solche der Gebrüder Heinrich und Thomas Mann und des
Juden Erich Mühsam.
1933: Am 19. September wird Dr. Fritz Solmitz erhängt in
seiner Zelle vorgefunden. Er wurde höchstwahrscheinlich ermordet, wobei ein
Selbstmord nur vorgetäuscht wurde. Zuvor war er im KZ mehrfach schwer
mißhandelt worden.
1933: Die jüdischen Notare Dr. Meyer Jacobssohn, Dr. Haun,
Dr. Cantor und Dr. Geister werden aus ihrem Amt entlassen.
1934: Die NSDAP-Kreisleitung verbietet ihren Mitgliedern, in
Uniform oder mit Parteiabzeichen in jüdischen Geschäften zu kaufen.
1934: Im April wird eine achtklassige jüdische Volksschule
gegründet und von dem Rabbiner Dr. David Alexander Winter geleitet.
1934: Am 11. Juli wird der jüdische Schriftsteller,
Anarchist und ehemalige Schüler des Katharineums Erich Mühsam nach grausamen
Martyrium im Konzentrationslager Oranienburg (bei Berlin) ermordet.
1935: Am 19. August werden vier Juden in Schutzhaft
genommen, nach dem es in der Lübecker Innenstadt zu Tumulten vor jüdischen
Läden gekommen war.
1935: Am 11. Oktober wird Baruch Langser (vgl. den obigen
Abschnitt aus dem Buch von Rolf Winter) zu vier Monaten Haft verurteilt, weil
er angeblich die Ehre eines deutschen arischen Mädchens beleidigt habe.
"Der Stürmer" - ein pornographisches und wüst antisemitisches
Hetzblatt des Julius Streicher - tituliert Baruch Langser als "Scheusal
von Lübeck".
1937: Im August überfallen etwa 60 SA-Männer jüdische
Geschäfte, um diese zu demolieren und die Inhaber unter Prügeln durch die
Innenstadt zu treiben.
1937: Seit Herbst jenes Jahres werden jüdische Betriebe und
sonstige Besitztümer im ganzen Reich flächendeckend "arisiert", was
bedeutet, dass viele Deutsche sich praktisch als Hehler betätigen und den
schwer eingeschüchterten Juden ihre Habe oft nur "für ein Butterbrot"
abnehmen.
1938: Am 12. August begeht der Bürstenfabrikant Albert Asch
in Untersuchungshaft Selbstmord. Sein Betrieb wird als letzter in Lübeck
"arisiert". Er hatte vielen Lübecker Juden einen Arbeitsplatz
geboten.
1938: Im September kann der Rabbiner Dr. David Alexander
Winter mit seiner Familie Lübeck verlassen und geht ins Exil nach London, wo er
am 13. Oktober 1953 verschied, um nach Überführung nach Jerusalem auf dem
Sanhedria-Friedhof seine letzte Ruhe zu finden.
1938: Am 9./10. November ereignet sich die sogenannte
"Reichskristallnacht". Fast 200 SA-Männer beteiligen sich an der
Verwüstung der Lübecker Synagoge. In letzter Minute gelang es eine Sprengung
und Brandlegung zu verhindern.
1938: Am 20. Dezember verhandelt das Landgericht Lübeck
erstmalig über einen Fall von "Rassenschande". Ein Hamburger Jude
wird wegen einer Beziehung zu einer "arischen" Lübeckerin zu zwei
Jahren Zuchthaus verurteilt.
1939: Am 23. Februar bietet die "Israelische Gemeinde
zu Lübeck" das Synagogengrundstück St.-Annen-Straße 13 für 50.000
Reichsmark zum Kauf an.
1941: Reichsmarschall Hermann Göring beauftragt Reinhard
Heydrich (Leiter von Gestapo und Sicherheitspolizei, SS-Gruppenführer), die
Vorbereitung für die Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet zu
treffen.
1941: Am 28. Oktober wird in einer Beigeordneten-Besprechung
der Stadt Lübeck erstmalig davon gesprochen, dass die Lübecker Juden ins
polnische Generalgouvernement abgeschoben werden sollen.
1941: Am 6. Dezember werden etwa 90 Lübecker Juden mit der
Eisenbahn in das Konzentrationslager Jungfernhof bei Riga (Lettland)
deportiert.
1942: Von Februar bis Juli werden weitere Juden in das
Konzentrationslager Theresienstadt (nördliches Böhmen) deportiert.
1943: Am 26. Februar wird eine kleine Gruppe älterer
Lübecker Juden in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Von dieser
Gruppe überlebte eine Frau.
1945: Am 8. Mai kapituliert die deutsche Wehrmacht
bedingungslos.
1950: Am 22. Februar werden fünf ehemalige SA-Männer vom
Lübecker Landgericht wegen der Verwüstungen an der Synagoge in der
"Kristallnacht" zu Haftstrafen zwischen sieben und vierzehn Monaten
verurteilt. Festgestellt wurden Verbrechen gegen die Menschlichkeit und
schwerer Landfriedensbruch.
1987: Am 17. September wird Rabbiner Felix F. Carlebach
Ehrenbürger der Hansestadt Lübeck.
7) Benutzte und beigezogene Schriften
Baasch, Ernst: "Die Juden und der Handel in Lübeck",
in: "Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte", Band
16 (1922), S. 370 - 398
Brilling, Bernhard: "Zur Geschichte der Juden in Lübeck und
Moisling", in: "Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte
und Altertumskunde", Band 49 (1969), S. 139 - 145
Guttkuhn, Peter: "150 Jahre israelitische Gemeinde in
Lübeck", in: "Vaterstädtische Blätter", Jahrgang 24 (1973), S.
18 f
Guttkuhn, Peter: "Lübecks jüdische Gemeinde gewinnt einen
Rechtsstreit. Intoleranz 'Im Weinrancken'", in
"Schleswig-Holsteinische Anzeigen" 1996, S. 98 - 100
Guttkuhn, Peter: "Die Geschichte der Juden in Moisling und
Lübeck. Von den Anfängen 1656 bis zur Emanzipation 1852", Lübeck 1999
Hauschild, Wolf-Dieter: "Kirchengeschichte Lübecks.
Christentum und Bürgertum in neun Jahrhunderten", Lübeck 1981
Klatt, Ingaburgh: "'...dahin wie ein Schatten' Aspekte
jüdischen Lebens in Lübeck", Lübeck 1993
Paul, Gerhard / Miriam Gillis-Carlebach (Hg.): "Menora
und Hakenkreuz. Zur Geschichte der Juden in und aus Schleswig-Holstein, Lübeck
und Altona 1918-1998", Neumünster 1998
Schlomer, Eisak Jacob / Peter Guttkuhn: "Erinnerungen aus
dem 'alten Moisling' von 1822-1860", Lübeck 1909/1984
Schreiber, Albrecht: "Wegweiser durch die Geschichte
der Juden in Moisling und Lübeck", Lübeck 1984
Schreiber, Albrecht: "Zwischen Davidstern und
Doppeladler. Illustrierte Chronik der Juden in Moisling und Lübeck",
Lübeck 1992
Winter, David Alexander: "Geschichte der jüdischen Gemeinde
in Moisling / Lübeck", Lübeck 1968
Winter, Rolf: "Hitler kam aus der Dankwartsgrube",
1991