Die Juden in Moisling und Lübeck

 

Drei zusammenfassende Darstellungen, ein ergreifender Bericht aus der Zeit des Nationalsozialismus' und eine Zeittafel der wichtigsten Ereignisse

 

von Michael Winter

 

 

1) Anstelle einer Einleitung

 

Am 6. Dezember 1941 wurden etwa 90 Lübecker Juden ‑ Männer, Frauen und Kinder ‑ in das Konzentrationslager Jungfernhof bei Riga deportiert und dort ermordet; nur drei überlebten die Schrecken des Lagers. Damit endete eine Zeit christlich‑jüdischen Miteinanders in Lübeck: Einer zweihundertjährigen Phase der Unterdrückung bis zur Emanzipation im Jahre 1849 folgte eine fruchtbare Symbiose kulturellen Austauschs, brutal und endgültig zerstört durch das nationalsozialistische Regime.

 

Die Hansestadt Lübeck will das Unrecht, das ihren jüdischen Bürgern angetan wurde, nicht in Vergessenheit geraten lassen.

 

(Aus dem Vorwort des damaligen Kultursenators Ulrich Meyenborg zu "...dahin wie ein Schatten" Aspekte jüdischen Lebens in Lübeck, von Ingaburgh Klatt)

 

 

2) Bernhard Brilling

 

In der Nachbarschaft der großen, zu Beginn des 17. Jahrhunderts gegründeten Judengemeinde von Altona entstand etwas später in demselben Jahrhundert eine kleine jüdische Gemeinde in dem vor den Toren Lübecks liegenden Dörfchen Moisling, das damals ‑ ebenso wie Altona ‑ zu Dänemark gehörte. Über die Geschichte dieser Dorfgemeinde und der daraus hervorgegangenen Gemeinde Lübeck, die kaum 100 Jahre alt wurde, waren urkundliche Quellen jüdischer und nichtjüdischer Provenienz vorhanden. Das Archiv der beiden jüdischen Gemeinden, das heute wohl zum größten Teil verlorengegangen sein dürfte, konnte der ehemalige Lübecker Rabbiner Dr. Salomon Carlebach für seine 1898 erschienene "Geschichte der Juden in Lübeck und Moisling" verwenden. Gemäß seinen Unterlagen behandelte er besonders die inneren Verhältnisse beider jüdischen Gemeinden, mit spezieller Berücksichtigung der älteren Gemeinde von Moisling. Das Quellenmaterial nichtjüdischer Provenienz lag hauptsächlich im Staatsarchiv Lübeck, dessen Benutzung ihm nicht gestattet worden war. Wie Carlebach in der Vorrede seines Buches angibt, war der Grund für diese Verweigerung "keineswegs eine den Juden übelwollende Gesinnung, im Gegenteil"; die Behörden wollten verhindern, daß die schlechte Behandlung der Juden durch die Lübecker, die bis ins 19. Jahrhundert anhielt, bekannt würde.

 

Nach dem ersten Weltkrieg wurde die Benutzung der Akten des Staatsarchivs freigegeben. 1922 veröffentlichte der durch seine Arbeiten über Hamburg

 

und andere Hansestädte bekannte Direktor der Hamburger Commerzbibliothek Ernst Baasch in der "Vierteljahrschrift für Sozial‑ und Wirtschaftsgeschichte" auf Grund des im Lübecker Staatsarchiv liegenden Archivs der Schonenfahrer einen Aufsatz über "Die Juden und der Handel in Lübeck", in dem die starke antijüdische Einstellung der Lübecker Kaufmannschaft geschildert und als Grund dafür sogar eine gewisse Rassenabneigung" vorgebracht wird. Später begann der 1921 zum Rabbiner von Lübeck gewählte Dr. David Alexander Winter (dessen von Dr. H. Ch. Meyer verfaßte Biographie seinem Buche vorangestellt ist) sich mit der Geschichte der Juden in Lübeck und Moisling zu befassen. Seit 1927 erschienen darüber Arbeiten von ihm, die zuerst auf Grund der jüdischen Gemeindeakten geschrieben wurden, später aber begann er auch die Akten des Lübecker Staatsarchivs durchzuarbeiten. Da das von Dr. Winter bearbeitete Archivmaterial bisher aus der Kriegsauslagerung zusammen mit weiteren Beständen des Lübecker Archivs noch nicht nach Lübeck zurückgebracht wurde, haben heute die von Dr. Winter gemachten Auszüge bzw. seine auf diesen Materialien beruhende Arbeit, auf die Dr. H. Ch. Meyer aus Haifa die Stadt Lübeck aufmerksam gemacht hat, fast Quellenwert. Das Archiv der Stadt Lübeck und die Hansestadt Lübeck verdienen volle Anerkennung dafür, daß der Druck dieses Buches trotz finanzieller Schwierigkeiten ermöglicht wurde, und so ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Juden in Norddeutschland vom 17. bis 19. Jahrhundert erscheinen konnte.

 

 

Die vorliegende Arbeit von Dr. David Alexander Winter: "Geschichte der jüdischen Gemeinde in Moisling/Lübeck" (= Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck, herausgegeben vom Archiv der Hansestadt, Bd. 20, Lübeck 1968) enthält eine ausführliche, auf archivalischen Unterlagen begrün­dete Geschichte der Juden von Lübeck und Moisling für die Zeit von ca. 1650 bis ca. 1850. Daher fehlen darin sowohl Kapitel über die Geschichte der Lübecker Juden von 1850 bis zur Vernichtung der Gemeinde im Jahre 1942, als auch Angaben über die Zeit vor 1650. Ich meine mit letzterem Hinweis die einzige mittelalterliche Erwähnung von Juden in Lübeck aus dem Jahre 1350, die zwar in dem Buch von Carlebach vorkommt, aber nicht im 2. Band der in Tübingen (1968) erschienenen Germania "Judaica", der die Zeit von 1238 bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts umfaßt und keinen Artikel über Lübeck enthält. In dem von Carlebach erwähnten Schreiben des Lübecker Rates an den Herzog Otto von Braunschweig/Lüneburg vom Juli 1350 ‑ also aus der Zeit des Schwarzen Todes, der damals als eine von Juden verursachte Epidemi betrachtet wurde ‑ wird ein "Geständnis" eines gewissen Tidericus oder Dietrich gebracht, dem zwei Juden, Aron in Dassel (bei Einbeck) und Moses, dessen Bekanntschaft er in einer Herberge zu Lübeck gemacht haben will, Geld und Gift zur Vergiftung von Brunnen gegeben haben sollen. Da der Lübecker Rat diese Aussage ohne Beanstandung berichtete, scheint er die Angabe über den Aufenthalt eines Juden in Lübeck zur damaligen Zeit nicht bezweifelt zu haben.

 

Nach diesem Zeitpunkt aber hat es bis zum 17. Jahrhundert, mit dem das Buch von Winter beginnt, wohl keine Juden mehr in Lübeck gegeben, und zwar wegen der ablehnenden Haltung der Lübecker gegenüber den Juden, die sich erst seit dem 30jährigen Krieg etwas änderte.


 

1656 erschienen in Lübeck jüdische Flüchtlinge aus Rußland und Polen, die vor den Verfolgungen der Kosaken und vor den Pogromen im Gefolge der Kriegshandlungen geflohen waren und eine neue Heimat suchten. Ein Teil von ihnen ließ sich wohl in den unter dänischer Herrschaft stehenden Orten Altona und Moisling nieder, während der größte Teil weiterwandern mußte. Nun erkannte der Rat, daß es unter den neuen Verhältnissen, d. h. nach der Niederlassung von Juden in Schleswig‑Holstein, die unter dem Schutz des dänischen Königs standen, unmöglich geworden war, diese Juden auch weiterhin von Lübeck fernzuhalten. Dafür sprachen sowohl politische (das Eintreten Dänemarks für seine jüdischen Untertanen) als auch wirtschaftliche Gründe, da man die Juden, die jetzt im Handel Schleswig/Holsteins tätig wurden, nicht ganz vom Zutritt nach Lübeck ausschließen konnte. So war der Lübecker Rat trotz der weiter bestehenden antijüdischen Stimmung der Kaufmannschaft zu Kompromissen gezwungen, und zwar sowohl bezüglich der Zulassung der Juden nach Lübeck überhaupt, als auch speziell bezüglich der Moislinger Juden.

 

Im ersten Kapitel des Buches "Die Juden in Moisling und die Reichsstadt Lübeck" wird der Kompromiß betreffs der Moislinger Juden behandelt, die um immer größere Möglichkeiten für einen Aufenthalt in Lübeck kämpften. Auf das Einschreiten der dänischen Regierung und der Besitzer der Herrschaft Moisling mußte den Moislinger Juden schließlich die Erlaubnis zum vorübergehenden, wenn auch zeitlich sehr begrenzten Aufenthalt zwecks Einkaufs von Lebensmitteln erteilt werden, wobei allerdings die Zulassung auf wenige bestimmte Personen beschränkt wurde, die jeweils Lübeck zum Einkauf aufsuchen durften. Erst im Jahre 1808 erhielten die Moislinger Juden, die inzwischen Lübecker Untertanen geworden waren, den freien Zugang zur Stadt. Damals lebten mit den sogenannten "Schutzjuden" zusammen etwa 11 jüdische Familien in Lübeck. Ihnen folgten nach der Einverleibung Lübecks in Frankreich im Jahre 1811 und der dadurch eingetretenen Gleichberechtigung der Juden weitere Familien aus Moisling, die diesen kleinen und zurückgebliebenen Ort gern mit der größeren Hansestadt vertauschten. Durch die den Juden ungünstige Auslegung eines Beschlusses des Wiener Kongresses vom 8. Juni 1815 wurde es der Stadt Lübeck (ebenso wie Bremen) ermöglicht, die Gleichberechtigung aufzuheben und die Juden aus Lübeck wieder zu vertreiben. Auf Grund des Austreibungsediktes vom Jahre 1821 mußten die Juden Lübeck verlassen bzw. wieder nach Moisling oder anderswohin ziehen. In Lübeck blieben 1824 nur 8 Familien zurück, die als "Schutzverwandte" galten und bereits vor 1810 in Lübeck gewohnt hatten.

 

Diese Schutzjuden oder Schutzverwandten, die im 2. Kapitel des Buches ("Das Schutzjudentum in Lübeck") behandelt werden, waren das Ergebnis eines Kompromisses, den der Rat bezüglich der Zulassung von Juden in Lübeck gegen den Widerspruch der Kaufmannschaft eingegangen war. Das Schutzjudentum, das 1701 offiziell als feste Institution durch den Rat eingeführt wurde und bis zum Jahre 1838 bzw. 1848 bestand, war als Reaktion auf die Versuche einzelner Juden eingeführt worden, die trotz aller Widerstände der Kaufmannschaft und Zünfte seit den letzten Jahren des 30jährigen Krieges Lübeck aufsuchten. Der erste seit dem Mittelalter in Lübeck weilende Jude war der sonst nicht näher bekannte Samuel Frank aus Hamburg, der nach seinen Angaben bereits seit 1645 ständig Lübeck zu geschäftlichen Zwecken aufgesucht hatte. Zehn Jahre später wurden bereits die ersten Beschwerden über den verbotenen Handel der Juden in Lübeck, und zwar vom Amt der Goldschmiede (1658), vorgebracht. Trotz der stetigen Angriffe auf ihn und trotz einer Vertreibung im Jahre 1658 kehrte Samuel Frank, in dem wir wohl den ersten Lübecker Juden erblicken dürfen, immer wieder nach Lübeck zurück, wo er anscheinend gute geschäftliche Beziehungen angeknüpft hatte. Am 4. Mai 1681 verlieh der Lübecker Rat den beiden Juden Samuel Frank und Nathan Siemsen (erwähnt seit 1677) ein gewisses Aufenthaltsrecht für Lübeck, und zwar gegen den heftigen Widerstand der Kaufmannschaft, die in ihrer antijüdischen Haltung auch von der evangelischen Geistlichkeit unterstützt wurde. Dieses Aufenthaltsprivileg vom Jahre 1681 war eine Art Vorläufer des Schutzjudentums, das allerdings seine juristische Festlegung erst 1701 erhielt, nachdem die oben erwähnten beiden Juden 1699 auf Veranlassung der Bürgerschaft vertrieben worden waren.

 

Das Schutzjudentum in Lübeck bestand darin, daß der Rat einen bestimmten Juden gegen eine jährliche Abgabe unter seinen Schutz nahm und ihm und seiner Familie nicht nur den Aufenthalt, sondern auch eine Reihe von Rechten gewährte, die er allen anderen Juden versagte. Der Schutzjude durfte sich mit Geldwechsel und Trödelhandel abgeben sowie Gelder auf Pfänder gegen die üblichen, Zinsen ausleihen. Es war ihm zwar gestattet, jüdisches Dienstpersonal in seinem Haus zu halten, aber es war ihm verboten, fremde Juden bei sich zu beherbergen. Er war sozusagen eine vom Senat eingesetzte Aufsichtsperson über die Juden und dem Rat gegenüber dafür verantwortlich, daß sich keine Juden (außer ihm) in Lübeck aufhielten. Er hatte den Behörden davon Mitteilung zu machen, wenn er etwas über den unerlaubten Aufenthalt fremder Juden in Lübeck erfuhr.

 

Dieses Schutzjudenamt war sehr begehrt. Nach Ruben Magnus aus Hamburg, der diesen Posten von 1701 bis 1738 bekleidete, blieb das Schutzjudenamt fast ein Jahrhundert in den Händen der aus Frankfurt am Main stammenden Familie Stern. Auf Meyer Isaak Stern (1738‑1761) folgte 1764 dessen Sohn Elkan Meyer Stern, der seinen Posten 1798 auf seinen Sohn Meyer Elkan Stern übertrug, dessen Schutzjudenprivileg 1834 durch den Senat aufgehoben wurde. An seiner Stelle wurde 1835 trotz des Widerspruchs der Krämer und der Bürgerschaft David Jacob Behrens aus Moisling vom Rat als Schutzjude aufgenommen. Er erhielt die alleinige Befugnis zum Betreiben von Geld- ­und Wechselgeschäften. Dagegen war ihm aller Handel mit Kaufmannswaren sowie das Speditionsgeschäft und die Pfandleihe untersagt. Da sich die geschäftlichen Erwartungen des Schutzjuden wegen dieser strengen Bestimmungen nicht erfüllten, kündigte er am 1. März 1837 das Schutzverhältnis. Seine Stelle wurde trotz der unverändert ablehnenden Haltung der Bürgerschaft am 7. Juli 1838 dem Raphael Levi Nathan aus Moisling übertragen, der der letzte Schutzjude war und dieses "Amt" bis zur Änderung der Verfassung im Jahre 1848 bekleidete.


 

Während in Lübeck nur der "Schutzjude" wohnen durfte, dem ausdrücklich die Abhaltung eines öffentlichen Gottesdienstes verboten war, d. h. die Errichtung einer Gemeinde, konnte in dem dänischen Moisling ungehindert eine jüdische Gemeinde gegründet werden, über die das 3. Kapitel "Der jüdische Gottesdienst in Lübeck und Moisling" ausführlich berichtet. Von Beginn an gab es dort alle Einrichtungen, die eine jüdische Gemeinde benötigte: einen Betraum (und später eine Synagoge für die Gottesdienste) und einen Friedhof sowie wahrscheinlich auch ein rituelles Badehaus. Die Gemeinde wurde von einem Vorstand geleitet, der aus dem Ältesten sowie zwei oder drei Vorstehern und zwei Kassenverwaltern bestand. Die Ältesten regelten die inneren Angelegenheiten und vertraten auch die Interessen der Gemeinde gegenüber den Besitzern der Gutsherrschaft Moisling, der Stadt Lübeck und dem König von Dänemark. Sie stellten auch die Gemeindebeamten an, während der Rabbiner wohl ‑ wie üblich ‑ von der ganzen Gemeinde, d. h. von den wahlberechtigten Mitgliedern gewählt wurde.

 

Über das Rabbinat von Moisling berichtet das 4. Kapitel. Zu dänischer Zeit waren die Rabbiner von Moisling nur Unterrabbiner, die dem Altonaer Rabbinat unterstellt waren. Sie waren nur für die Regelung von Zivilsachen bis zum Betrag von 10 Talern zuständig. Alles andere, darunter auch die Erbschaftsregelungen, fiel unter die Kompetenz des Altonaer Oberrabbinats, dessen Gerichtsbarkeit sämtliche Juden Schleswig‑Holsteins in der dänischen Zeit unterstanden. Die ersten Rabbiner von Moisling wurden daher auch nicht als Rabbiner angestellt und bezeichnet, sondern als Vorbeter, von denen der erste, namentlich bekannte ein Berndt Selig (Ber ben Jehuda Selig halewi) aus Lissa/Posen (um 1724) war. Da das Gehalt dieser Beamten sehr gering war, blieben sie nicht lange auf ihrem Posten und nahmen jede Gelegenheit wahr, um sie mit einer besser bezahlten Stelle zu vertauschen. Von 1724 bis 1800 sind acht solcher Vorbeter bzw. Unterrabbiner nachweisbar.

 

Erst im Jahre 1806, d. h. bei der völligen Unterstellung von Moisling unter die Landeshoheit von Lübeck, wurden die Moislinger Rabbiner vom dänischen Altona unabhängig und durften nun den Titel Oberrabbiner tragen. Ihre Zuständigkeit auf zivilrechtlichem Gebiete, die sie jetzt erhielten, hörte aber mit der Gleichberechtigung, der Lübecker Juden, zu denen jetzt auch die Moislinger gehörten, auf. Seitdem waren die dortigen Rabbiner ‑ wie überall in den Ländern, wo die Juden gleichberechtigt waren ‑ nur noch für religiöse und innere Gemeindeangelegenheiten zuständig.

 

Der erste Oberrabbiner von Moisling war der 1805 gewählte, aus Breslau stammende Akiba Wertheimer, der einen solchen Ruf als Gelehrter genoß, daß ihm 1816 das berühmte Rabbinat von Altona übertragen wurde. Infolge der Wirren jener Zeiten wurde erst 10 Jahre später (1825) wieder ein Rabbiner in Moisling gewählt, nämlich der aus Hohensalza, (Inowrazlaw, Provinz Posen) stammende Ephraim Fischel Joel. In seiner Zeit waren die Wellen des innerjüdischen Streites zwischen der konservativen und der liberal­aufklärerischen Richtung, der damals in den jüdischen Gemeinden Deutschlands tobte und die Einheit der Gemeinden zu zerreißen drohte, auch nach der kleinen Gemeinde Moisling/Lübeck gedrungen, die bis dahin von diesen weltanschaulichen Streitigkeiten wegen ihrer Abgelegenheit kaum berührt war. Auch hier entbrannte der Kampf zwischen den Kräften im Judentum, die das Alte nicht aufgeben wollten, und den Aufklärern, die sich mit den alten Verhältnissen, die bis dahin im Judentum herrschten, nicht abfinden wollten, da sie glaubten, daß eine Veränderung in den Gesetzen des Judentums auch zu einer Veränderung im Verhalten der Nichtjuden gegenüber den Juden führen würde, d.h. der Kampf zwischen denen, die das Judentum in seiner alten überlieferten Form bewahren wollten, und jenen, die das Hauptgewicht auf die Erlangung der Emanzipation legten und durch Reformen innerhalb der Religion die Beseitigung der einer völligen Emanzipation entgegenstehenden Hindernisse (die nach ihrer Ansicht in den Gesetzen der jüdischen Religion lagen) herbeizuführen glaubten. Dabei ging es vor allem um die Erziehung der jüdischen Jugend, d. h. um die Führung und Gestaltung der jüdischen Schule, mit deren Eröffnung im Jahre 1838 der Konflikt innerhalb der jüdischen Gemeinde in Moisling ausbrach. Während der Rabbiner die orthodoxe Richtung im Judentum vertrat und diese auch in der Erziehung durchgesetzt wissen wollte, nahmen die zur aufgeklärten Richtung gehörenden Lehrer eine andere Stellung zur jüdischen Religion ein. Wie stark die weltanschaulichen, d. h. religiösen Gegensätze zwischen dem Rabbiner und den Lehrern waren, ergibt sich daraus, daß man dem Oberrabbiner das Recht auf die Schulaufsicht in der jüdischen Schule bestritt. Dieser mußte das staatliche Gericht anrufen, um sein Recht auf Teilnahme am Schulvorstand durchzusetzen. Wie in anderen jüdischen Gemeinden jener Zeit wurde der Streit zwischen den konservativen Kräften und den radikalen Reformern auch hier vor nichtjüdische Instanzen gebracht (Senat und Landgericht). Da sich der Senat verständlicherweise nicht für zuständig in innerjüdischen Religionsstreitigkeiten hielt, entschloß er sich, von bekannten jüdischen Persönlichkeiten Gutachten einzuholen. Er wußte aber nicht, daß diese von ihm angerufenen jüdischen Gutachter voreingenommen waren, da sie dem Flügel der "Aufgeklärten" angehörten. Es handelte sich dabei um den zu den radikalen Reformern gehörigen damaligen (1843) Schweriner Oberlandesrabbiner Dr. Holdheim und um den Juristen Dr. Gabriel Riesser aus Hamburg, der zu den Vorkämpfern der Judenemanzipation gehörte, dabei aber den Gedanken vertrat, "daß durch die Förderung der jüdischen Reform das Ziel der jüdischen Emanzipation schneller erreicht würde", daß also das Festhalten an den alten jüdischen Gesetzen und Traditionen der Durchführung der Emanzipation abträglich sei.

 

Das angerufene Landgericht erkannte die Thesen von Dr. Holdheim und Dr. Riesser nicht an, die sich gegen den Rabbiner von Moisling ausgesprochen hatten. Die Entscheidung des Landgerichts ging dahin, daß die geforderte Absetzung des Rabbiners nicht vom Gericht beschlossen werden könne, da die vorgebrachten Gründe nicht genügend seien. Das Gericht erklärte, daß ein Rabbiner, der 1826 auf Grund seines Wissens und seiner Befähigung zum Rabbiner der Gemeinde gewählt worden sei, 1844 aus dem gegenteiligen Grunde nicht abgesetzt werden könne".

 

Nach dem Sieg des Oberrabbiners ging das Leben in der Gemeinde seinen Gang weiter, und das Rabbinat verblieb in den Händen der Konservativen. Als Nachfolger des angefeindeten Oberrabbiners Joel wurde sein Schwiegersohn Susmann Adler aus Schwebheim (Mittelfranken) gewählt, der von 1849 an als Stellvertreter und von 1851 an als Rabbiner in Moisling amtierte.

 

Mit der Ernennung Adlers zum Moislinger Rabbiner, der 1859 seinen Rabbinatssitz nach Lübeck verlegen mußte, schließt das Buch bzw. das 4. Kapitel, das ‑ wie aus der Überschrift ersichtlich ‑ nur das Rabbinat in Moisling selbst behandelt.

 

Es sei noch auf den wertvollen Anhang hingewiesen, der Judenlisten aus Lübeck und Moisling ‑ beginnend mit dem Jahre 1731 und schließend mit der Annahme der Familiennamen im Jahre 1848 ‑ enthält. Auch die dort gebrachte Statistik der Juden von Lübeck und Moisling ist bemerkenswert. Man ersieht daraus, wie schnell die Zahl der Juden in dem Dorf Moisling abnahm, das man ursprünglich nur zwangsweise als einen Zufluchtsort aufgesucht hatte, nachdem die Juden die Freizügigkeit erhalten hatten.

 

Die Zeit von 1850 bis zur Vernichtung der Lübecker Gemeinde in der NS-Zeit ist in dem vorliegenden Buch nicht behandelt worden, so daß die Möglichkeit für weitere, abschließende Forschungen über die Geschichte der Juden von Lübeck gegeben ist. Neben den Akten und Druckschriften (besonders der jüdischen Presse) aus diesem letzten Jahrhundert dürften als Quelle vielleicht auch die in der biographischen Einleitung erwähnten Erinnerungen des Verfassers dienen. Hoffentlich gelingt es auch, sie herauszugeben und dadurch einen weiteren Beitrag zur Geschichte der Juden in Lübeck zu leisten.

 

(Bernhard Brilling: "Zur Geschichte der Juden in Lübeck und Moisling" in "Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde", Band 49, 1969, S. 139 - 145)

 

 

3) Wolf-Dieter Hauschild

 

Im Zusammenhang mit der allgemeinen Furcht vor der Pest kam es wie im übrigen Reich auch in Norddeutschland, allerdings abgeschwächter als im Süden, erstmals zu Judenverfolgungen. Während Kaiser und Päpste früher die Juden als Bankiers gerne geduldet hatten, solange die Christen das kirchenrechtliche Verbot des Geldverleihs gegen Zinsen ernstnahmen, änderte sich das mit der allgemeinen Umstellung der Natural‑ auf Geldwirtschaft. Als religiös und sozial suspekte Minderheit erlitten die Juden seit dem 13. Jahrhundert vor allem im Rheinland erste Verfolgungen. Mit dem Aufkommen der Pest verbreitete sich nun allenthalben das Gerücht, die Juden hätten sie durch Brunnenvergiftung verursacht. Seit 1348 beunruhigten einzelne Fälle auch die wendischen und niedersächsischen Städte; es kam zu spontanen Ausschreitungen und obrigkeitlichen Hinrichtungen von Juden.

 

In Lübeck wurden 1349 zwei Personen aufgegriffen, die angeblich als Giftmischer mit den Juden unter einer Decke steckten und gestanden, daß diese überall in den Städten des Ostseeraumes die Christenheit vergiften wollten. Der Rat konnte freilich in der Stadt keine derartigen Vorkommnisse feststellen. Aber als die Ratsherren von Stralsund, Rostock und Wismar angesichts der drohenden Pest über ein gemeinsames Vorgehen gegen die Juden berieten und der Lübecker Rat aus Gotland und Thorn weitere Informationen über vermeintliche Giftpläne in niedersächsischen Städten bekam, intervenierte er bei Herzog Otto von Lüneburg mit der Bitte, die im dortigen Gebiet ansässigen Juden als Gefahr für die Christenheit auf dem Gerichtswege zu vernichten. Entsprechend schrieb er nach Rostock. In Lübeck kam es zu keinen Judenverfolgungen. Doch der ganze Vorgang ist wichtig, weil er die kollektive Hysterie während der Pestzeit illustriert und erstmals eine feindselige Einstellung gegenüber den Juden bezeugt. ...



Unruhen wegen der Juden 1696‑99

 

Die in Deutschland allmählich, aber nur partiell einkehrende Toleranz gegenüber den Juden war ein Zeichen der neuen Zeit, des Übergangs zu aufgeklärter Humanität. Während Hamburg dafür ein gutes Beispiel bot, beharrte Lübeck im Geist der alten Zeit. Seit Ende des 17. Jahrhunderts häuften sich die innerstädtischen Konflikte um die Zulassung der Juden. Bis zum Dreißigjährigen Krieg hatte man streng darauf geachtet, daß Juden die Ansiedelung in der Stadt verwehrt blieb. Als Nichtchristen konnten sie ohnehin kein Bürgerrecht erwerben, Handel und Gewerbe waren den Angehörigen der Zünfte reserviert. Seit 1648 ging der Judenschutz als bisher kaiserliches Recht in die Hoheit der Einzelstaaten über. Im Gegensatz zu Lübeck begünstigte Holstein die Ansiedlung von Juden, die aufgrund der Verfolgungen in Polen und Rußland hierher flohen und u. a. vor Lübecks Toren auf dem Gut Moisling Aufnahme fanden. Von dort kamen sie in die Stadt, um Handel zu treiben.

 

Erstmals im Jahre 1658 gab es Probleme, als das Amt der Goldschmiede sich über heimliche Hausiergeschäfte von Juden beschwerte. Daß der Rat den Juden daraufhin das Handeltreiben verbot, nützte nicht viel. Vereinzelt kamen sie zum Ärger der Bürger als unliebsame Konkurrenten wieder. Teilweise schritt sogar der Pöbel gegen sie ein und scheute auch 1665 nicht vor Übergriffen nach Moisling zurück. Daraufhin gewährte der Rat 1681 zwei in Lübeck ansässig gewordenen jüdischen Goldschmieden samt deren Familien als sog. Schutzjuden Toleranz. Da aber in der Folgezeit weitere Juden zuzogen, in ihren Häusern Gottesdienst hielten und Aufsehen in der Stadt erregten, wandte sich auch das Geistliche Ministerium 1691 in einem Memorial gegen die Eindringlinge, die den über ihnen liegenden Gottesfluch in die Stadt mitbrächten und darum das öffentliche Wohl gefährdeten.

 

Religiöse und soziale Vorurteile mischten sich in dieser ersten kirchlichen Stellungnahme zur Judenfrage. Neben dem Hinweis auf jüdische Blasphemien gegen Christus stand die Polemik gegen die betrügerischen Geschäftspraktiken. Der Rat war nicht gewillt, aufgrund von derlei Vorhaltungen allzu scharf durchzugreifen, woraufhin das Ministerium weiter protestierte. Die bei den Bürgern angestaute, durch die Predigten artikulierte Animosität gegenüber den Juden führte schließlich 1696‑99 zu einer nachhaltigen Kontroverse zwischen Bürgerschaft und Rat.

 

In einer Eingabe von 1696 beklagten sich die bürgerlichen Kollegien über das jüdische "Geschmeiß", das Lübeck wie eine Landplage verseucht hätte. Doch ihrer Forderung nach konsequenter Ausweisung kam der Rat nicht nach. Er plädierte für eine praktische Toleranz. Die Bürger ließen jedoch nicht locker. In einer erneuten ausführlichen Eingabe von 1698 beklagten sie sich, "daß diese von Gott verfluchte Nation anietzo mitten unter uns wohnet und ihrer heutigen Religion nach nichts anders thut als unsern Heyland und Seligmacher Jesum Christum zu lästern und zu schänden, ihrer profession und Handtierung nach aber nichts anders sucht, als die Christenleuthe zu betriegen". Konkurrenzangst und Unbehagen gegenüber fremdem Wesen mischten sich mit religiösen Motiven zu einer antijüdischen Einstellung, die sich nicht zuletzt auf Luthers Schriften gegen die Juden berief. Als der Rat auch jetzt nicht wie gewünscht reagierte, drohte die Bürgerschaft im Januar 1699 mit Selbsthilfeaktionen, um "diese christliche Stadt von diesem Teufels‑Geschmeis und Christ‑Schändern zu exoneriren und zu säubern".

 

Die Auseinandersetzung eskalierte nun, und die Bürger beschuldigten den Rat, den Rezeß von 1669 verletzt zu haben, welcher ihre Zustimmung zur Ansiedelung fremdreligiöser Einwohner vorsah. Das Ministerium unterstützte ihre Klage. Deswegen und angesichts der Gefahr innerer Unruhen nahm der Rat es schließlich hin, daß an einem Sabbat im März 1699 alle in Lübeck ansässigen Juden durch eine "Bürgerinitiative" unter tumultartigen Umständen aus der Stadt verjagt wurden. Das erregte im übrigen Deutschland einiges Aufsehen, und der Rat mußte sich gegenüber dem Kaiser deswegen verantworten.

 

Das Schutzjudentum und die jüdische Gemeinde in Moisling

 

Da das bislang der Familie Wickede gehörige Moisling infolge der Bürgerunruhen 1665 ff unter holsteinisch‑dänische Hoheit gestellt worden war, blieben die dort wohnenden Judenfamilien durch die dänischen Toleranzprivilegien geschützt, wie König Christian V. 1697 ausdrücklich bestätigte. Für ihren Lebensunterhalt blieben sie allerdings auf den Handel und damit auf den Zugang zur Stadt angewiesen. Der Rat verschärfte nun nach den Unruhen von 1699 zwar die Kontrollmaßnahmen an den Stadttoren, verfolgte aber seine Praxis des Schutzjudentums weiter, indem er 1701 erneut einem Juden den Zuzug gestattete. Wieder hagelte es Proteste seitens der Bürgerschaft und der Geistlichkeit, wobei letztere durch ein im Ton besonders polemisches Memorial sich den Tadel der Obrigkeit zuzog.

 

Der Rat widerstand diesmal (nicht zuletzt aus außenpolitischer Rücksichtnahme auf das Reich und Dänemark). So wurde das Schutzjudentum zu einer hinfort akzeptierten Institution, wonach jeweils eine jüdische Familie in Lübeck ansässig sein durfte, gegen eine Abgabe den obrigkeitlichen Schutz genoß und unbeschränkte Handelsrechte bekam, welche anderen Juden verwehrt blieben. Der Schutzjude war dem Rat für die Kontrolle darüber, daß keine weiteren Juden sich heimlich niederließen, verantwortlich.

 

Die Moislinger Juden erhielten seit 1709 unter strengen Beschränkungen Zugang zur Stadt, um hier Einkäufe zu tätigen (jeweils einer täglich durfte zum Holstentor gegen Vorlage eines Ausweises hereinkommen). Doch es kam schon bald deswegen wieder zu Streitigkeiten, und erst aufgrund einer dänischen Intervention, die der Moislinger Gutsherr von Wedderkopp erbeten hatte, regelte der Rat 1724 die Sache neu. Der Handel in der Stadt blieb weiterhin verboten. Doch da dieser nun einmal die Lebensgrundlage der Juden war, umgingen sie immer wieder alle Verbote und Kontrollen (die 1771 durch ein Kardinaldekret vergeblich bekräftigt wurden), so daß die Konflikte mit der Bürgerschaft während des ganzen 18. Jahrhunderts fortbestanden. Um Einfluß auf die Moislinger Verhältnisse zu bekommen, erwarb die Stadt 1763 das Gut, erhielt die staatliche Hoheit darüber aber erst nach langen Verhandlungen mit Dänemark 1802/6. Auf dieser neuen Rechtsgrundlage erlangten die Juden dann 1808 den freien Zutritt zur Stadt, keineswegs jedoch die erstrebte bürgerliche Emanzipation.

 

In Moisling praktisch im Ghetto, organisierte die jüdische Gemeinde, auch wenn sie unter kümmerlichen wirtschaftlichen Bedingungen leben mußte, aufgrund des dänischen Toleranzpatents von 1697 ihr religiöses Leben durch die Einrichtung eines Bethauses und einer Toraschule in Gestalt eines Lernvereins. Vor 1720 erhielt sie einen eigenen Rabbiner, eine kleine Synagoge sowie einen Friedhof, woraufhin die im benachbarten Holstein verstreut lebenden Juden hier ihren geistlichen Mittelpunkt fanden. In Lübeck blieb die jüdische Religionsausübung auf das Haus des jeweiligen Schutzjuden beschränkt, aber gelegentlich suchten die heimlich hier angesiedelten Juden synagogalen Gottesdienst zu halten, was polizeilich unterbunden wurde.

 

In religiöser wie in sozialer Hinsicht blieben sie eine von der Stadtgemeinschaft ausgeschlossene, diskriminierte Minderheit. Das änderte sich nur für diejenigen Juden, welche zum Christentum übertraten. Um solche Konversionen bemühten die lutherischen Geistlichen sich durchaus; so z. B. Superintendent Pomarius, der 1669 ein spezielles Unterweisungsbuch für Juden verfaßte und manchen von ihnen bekehrte. Mit der Taufe war für diese die volle Integration in die bürgerliche Gemeinde verbunden (beurkundet durch von Rat und Ministerium ausgestellte Zeugnisse). Von einem rassisch begründeten Antisemitismus konnte im 18. Jahrhundert keine Rede sein. Humanität und religiöse Toleranz gegenüber den Juden als eigenständiger Gruppe setzten sich jedoch trotz der Aufklärung nicht durch. Die unreflektierte Abneigung gegenüber fremdem Wesen und Abweichungen von der religiös‑sozialen Norm dominierte. Geistige Aufgeschlossenheit gegenüber dem Judentum oder gar Philosemitismus (so z. B. bei dem Superintendent Schinmeier) war in der Kaufmannsstadt Lübeck weniger verbreitet als in den kulturellen Zentren Deutschlands.


 

Reaktion gegen die Judenemanzipation

 

Einen besonderen Aspekt der Restauration bietet die Behandlung der Juden nach 1814. Die 1811 gewährte religiöse Toleranz und bürgerliche Gleichstellung war in dem humanistischen Geist der Aufklärung begründet, allerdings den Lübeckern durch französische Gesetzgebung aufgenötigt. 1813 lebten etwa 285 Juden (65 Familien) in der Stadt und erregten durch ihren blühenden Handel Konkurrenzneid, was die Krämerkompagnie veranlaßte, in einer ausführlichen Eingabe an den Rat vom 31. Mai 1814 die Ausweisung der Juden zu beantragen, womit sie ihre traditionell antijüdische Einstellung nach dem Umbruch erneut dokumentierte. Der Text dieser Eingabe ist deswegen bemerkenswert, weil er deutlich die rein wirtschaftlichen Motive dieses Händler‑Antisemitismus zeigt. Er polemisierte dagegen, daß die alten Rechte von Handel und Gewerbe (Ausschluß der Juden) unter Berufung auf allgemeine Menschenrechte und Grundsätze der christlichen Toleranz verletzt würden; infolge der jüdischen Geschäftsaktivitäten müßte der größte Teil der hiesigen Kleinhändler unvermeidlich verarmen. Antisemitische Töne begegnen hier nur in der Charakterisierung der jüdischen Händlerfähigkeiten.

 

Der Rat hatte zunächst Bedenken, die Juden wieder auszuweisen, sah allerdings die Lösung vor, die Bürgerrechte zu revozieren und nur 25 jüdische Familien als Schutzverwandte in der Stadt zuzulassen. Um dieser Gefahr zu begegnen, protestierten die Juden durch ihren Anwalt, den liberalen Lübecker Advokaten Dr. Karl Friedrich Buchholz (1785‑1843), den späteren Ratssyndikus, beim Wiener Kongreß, wo Buchholz insbesondere die Unterstützung des preußischen Ministers Hardenberg fand. Doch den vier freien Städten gelang es in gemeinsamem Bemühen, in der Deutschen Bundesakte von 1815 hinsichtlich der Judenemanzipation eine Formulierung durchzusetzen, die es ermöglichte, die französische Gesetzgebung rückgängig zu machen. Hardenbergs Versuche, den Rat für seine Toleranzpolitik zu gewinnen, fruchteten nichts; in diesem Punkte bahnte sich eine ernste Verstimmung zwischen Preußen und Lübeck an. Auf Betreiben der Bürgerschaft dekretierte der Rat schließlich 1816 die Ausweisung der Juden, doch Preußen und Österreich erwirkten, daß die Ausführung des Dekrets aufgeschoben wurde, bis die Angelegenheit vor dem Deutschen Bundestag in Frankfurt endgültig geklärt wäre. Damit geriet die Lübecker Judenfrage ins Licht der breiten Öffentlichkeit. Senator Johann Friedrich Hach, Lübecks Vertreter beim Bundestag, berichtete aus Frankfurt von der allgemeinen Animosität gegenüber Lübeck und fertigte im Auftrag des Rates eine eigene Schrift über die Juden in Lübeck an, um gewissermaßen Gegenpropaganda zu betreiben.

 

Hachs Schrift kommt über den damaligen politischen Zusammenhang hinaus grundsätzliche Bedeutung zu, weil sie ‑ anders als jene Denkschrift der Krämerkompagnie mit ihrem unreflektierten, ökonomisch begründeten Antisemitismus ‑ Ansätze einer religiös‑nationalistischen Begründung des Antisemitismus bietet, die im Blick auf die weitere Geschichte dieses Problems wichtig sind, nicht zuletzt auch deswegen, weil diese Ansätze bei einem so vorzüglichen Vertreter lübischer Bürgerlichkeit begegnen, den man gewiß nicht auf eine Stufe mit dem späteren Rassismus und Radauantisemitismus stellen kann. Wie es im 20. Jahrhundert zu den verhängnisvollen Auswirkungen des deutschen Antisemitismus kam, kann man ‑ ebenso wie bei den Wirkungen des Nationalismus ‑ nur dann verstehen, wenn man auf ihre lange Vorgeschichte, ihre theoretische Begründung in der bürgerlichen Intelligenz der Aufbruchszeit nach 1810 zurückblickt.

 

Bei Hach kommen das Ressentiment gegen die Folgen der Aufklärung (kulminierend in der französischen Revolution und der Unterdrückung Deutschlands) und die romantische Entdeckung der Eigenheiten der Nation zusammen: "Werden die Regierungen nicht auf die Volksstimme achten, welche allgemein sich gegen den Versuch sträubt, Christen und Juden zu Einem Volke zusammenzuschmelzen? Schon den Ungebildeten lehrt es der Instinkt, daß dann alles Volksthum, aus Christen und aus Juden, verschwinden müsse. Ihr Aufgeklärten, ihr Hoch‑ und Übergebildeten, ehret den Ausspruch des einfachen Natursinns. Man schätze und achte den Menschen auch in den Juden; aber eine Verbrüderung ungleicher Triebe läßt sich nicht erkünsteln!" Das ist keine rassistische Begründung, denn mit Volkstum (das er auch mit Christentum gleichsetzen kann) meint Hach die historisch gewordene, spezifische Identität der Kultur. Aber der Weg hin zum Rassismus war von solcher Redeweise aus möglich.

 

Die religiöse Begründung, die Hach seiner Ablehnung der Judenemanzipation gibt, ist ebenfalls aufschlußreich, weil Christentum hier als Synonym für deutsches Bürgertum erscheint: "Es ist historisch und dogmatisch erwiesen, daß im Judenthum überhaupt ein starkes Hinderniß des Wohlseyns christlicher Staaten liegt; daß insbesondere ein ächter Jude mit seinem Nationalgott, seiner Theocratie und seinem Rabbiner‑Aristocratismus, wodurch der verderblichste Staat im Staate gebildet wird, nie ein guter Bürger des von ihm bewohnten christlichen Staates sein kann; daß die Glaubenslehre des Juden der christlichen Religion feindselig gegenüber steht; daß es eine Blasphemie seyn würde, die christliche Moral mit den sittlichen Vorschriften des Talmud zusammenzustellen ... Was dagegen vorgebracht wird, beruht auf leerer Declamation von Toleranz und Humanität ... Nicht der Mensch, der sich zu einem besonderen Glauben bekennt, sondern die bürgerliche Schädlichkeit dieses Glaubens, nicht der Jude, sondern das Judentum ist der Gegenstand, dem die Regierungen entgegenwirken müssen, dem die Völker mit Widerwillen und Abscheu begegnen".

 

Mehrfache Gesuche der Juden um Beibehaltung der Emanzipation nützten nichts, doch in der Hoffnung, daß außenpolitische Rücksichtnahmen ihnen weiterhin helfen könnten, blieben sie in der Stadt. Als der Rat daraufhin 1818/19 eine Reihe weiterer Restriktionen anordnete, um ihren Handel zu unterbinden, und die Bürgerschaft immer wieder drängte, endlich die Ausweisung zu vollziehen, richteten die Juden 1820 nach dem Vorbild ihrer Bremer Glaubensbrüder eine Eingabe an den Bundestag, aufgrund von Artikel 16 der Bundesakte ihnen gegenüber dem Rat die bürgerliche Gleichberechtigung zu erwirken. Dieser Vorstoß war aufgrund der Rechtslage zum Scheitern verurteilt, der Bundestag entschied zuungunsten der Juden, und so verfügte der Rat, daß bis zum 1. November 1821 alle in Lübeck seit 1810 zugezogenen Juden die Stadt zu verlassen hätten. Sie mußten zurück ins Moislinger Ghetto, einzelne persönliche Härten wurden nicht berücksichtigt, vielmehr achtete der Rat durch Verordnungen und Polizeimaßnahmen darauf, daß keine Verbindungen zur Stadt wachsen konnten. Trotz staatlicher Beihilfen zur Herrichtung der Wohnungen in Moisling und zum Neubau einer Synagoge (1825) blieb die soziale Lage der Juden skandalös. Der ganze Vorgang 1814‑21 ist ein schlimmes Beispiel für die Restauration nach 1814, für provinzielle Engstirnigkeit und Intoleranz.


 

Emanzipation der Juden 1848‑52

 

Durch die Einführung der Grundrechte waren Tendenzen zur Liberalisierung auf religionspolitischem Gebiet in Gang gekommen, die auch dann noch fortwirkten, als die Grundrechte formell wieder aufgehoben wurden. Die moralisch bedeutsamste Neuerung betraf die bürgerliche Gleichstellung der Juden, die ihnen 1821 nach langem Streit zuletzt verwehrt worden war. Auch sie wurde nicht durch die Situationsänderung von 1848 erzwungen, sondern von längerer Hand vorbereitet.

 

Da den Juden der Absatz ihrer Waren in der Stadt verboten blieb, mußten sie im Moislinger Getto ein erbärmliches Dasein fristen. Ihre Not brachte schließlich viele Einsichtige dahin, für die Gewährung der Gewerbefreiheit einzutreten. Die Neuen Lübeckischen Blätter setzten sich dafür ein, 1842 wurde schließlich eine Kommission unter Führung des Syndikus Karl August Buchholz, des alten Streiters für jüdische Rechte, eingesetzt. Sie gelangte nach Prüfung der Sachlage schon 1843 zu der einmütigen Empfehlung an den Senat, aus Gründen der Humanität und Gerechtigkeit ("zur Ehre unserer Stadt") den Juden die volle Gewerbe‑ und Wohnfreiheit zu gewähren, um so ihrer Verarmung aufzuhelfen. Doch der Senat zögerte, setzte 1847 erneut eine Kommission ein, erklärte sich aber im Januar 1848 wenigstens bereit, für die Juden deutsche Familiennamen vorzuschreiben.

 

Ihre bürgerliche Gleichberechtigung wurde im Zusammenhang der Verfassungsrevision, die den Unterschied zwischen Bürgern und Einwohnern aufhob, durch den Rats- und Bürgerschluß vom 8. Oktober 1848, welcher das Bürgerrecht allen Einwohnern "ohne Rücksicht auf das religiöse Bekenntniß" zugestand, implizit anerkannt. Denn bei dieser Gesetzgebung war auch die Judenfrage thematisiert worden, weil die Bürgerschaft sich zunächst dagegen gewehrt hatte, sie unabhängig von der gesamten Religions‑ und Kirchenfrage zu lösen, dann aber der Lösung zustimmte, daß die Juden, sollten sie in die Bürgerschaft gewählt werden, sich der Abstimmung über Angelegenheiten der christlichen Kirche zu enthalten hätten.

 

Ohne es durch ein ausdrückliches Gesetz zu fixieren, ging der Senat seit der Proklamation der Grundrechte 1849 davon aus, daß die Juden auch die gewerblichen Rechte hätten. Infolge dieser Praxis zogen die meisten Juden von Moisling in die Stadt, die Gemeinde kaufte sich schon 1850 ein Haus in der Wahmstraße, das ihr als Synagoge diente, aber bald schon viel zu eng wurde. In dem Rabbiner Alexander Adler bekam sie einen tatkräftigen Leiter, und seit der Wahl von 1851 war mit dem Gemeindediener Samuel Marcus auch ein Jude Mitglied der Bürgerschaft.

 

Die Aufhebung der Grundrechte stellte die ganze Entwicklung jedoch plötzlich wieder in Frage, weil die Emanzipation nicht positiv gesetzlich geregelt war. Allerdings war der Senat entschlossen, dieses Versäumnis nachzuholen, und nachdem auch eine Bürgerschaftskommission unter Leitung des Liberalen Crome, an welcher der Jakobipastor Klug, seit langem für die Judenfrage aufgeschlossen, beteiligt war, sich nachdrücklich gegen jede Beschränkung der gewerblichen Berechtigungen der Juden ausgesprochen hatte, trat am 16. Juni 1852 das Gesetz in Kraft, wonach "die Bekenner der jüdischen Religion ... mit den übrigen Staatsangehörigen so wie in staatsbürgerlicher so auch in gewerblicher Berechtigung" gleichgestellt sein sollten. Hinfort übte der Senat die Aufsicht wie über die christlichen Kirchen so auch über die jüdische Gemeinde aus.

 

(Wolf-Dieter Hauschild: "Kirchengeschichte Lübecks. Christentum und Bürgertum in neun Jahrhunderten", Lübeck 1981, S. 111, 351-353, 379-381 und 417 f)

 

 

4) Antjekathrin Graßmann, Franklin Kopitzsch, Gerhard Ahrens und Gerhard Meyer

 

17. Jahrhundert

 

Juden erschienen um die Mitte des Jahrhunderts aus dem Osten kommend in Lübeck. 1645 wird ein Samuel Frank aus Hamburg genannt, der vom An‑ und Verkauf von Gold und Silber lebte. Während er auf Drängen des Hamburger Rats nach einer zeitweiligen Verweisung aus der Stadt 1660 nach Lübeck zurückkehrte, wurden jüdische Familien in Moisling noch 1665 vertrieben. Sie durften sich dann aber geschützt durch ein Dekret des dänischen Königs Christian V. vom 27. Februar 1686 dort niederlassen und durch ein ergänzendes Edikt vom 16. Januar 1697 "in den Reichen und Fürstentümern des Königs Freiheit in Handel und Wandel" genießen. Einander widerstreitende Interessen ließen in Lübeck eine ähnliche Haltung nicht zu: Sah man einerseits den Nutzen der für die Juden traditionellen Handelsgeschäfte (Gold‑ und Silberhandel, Geldwechsel, Leihgeschäfte) ein, so fürchteten die Goldschmiede die Konkurrenz und die Obrigkeit den Schleichhandel. Ging man daher auch gegen die Moislinger Juden voller Mißtrauen vor und verbot ihnen den Aufenthalt oder insbesondere die Übernachtung, d.h. also im Grunde die Existenzgründung, in Lübeck, so waren durchreisende Juden geduldete Handelspartner. Die Ratspolitik war also zweigleisig. Erlaubte man einerseits den Juden Samuel Frank und Nathan Siemsen 1681 die Niederlassung in der Stadt, dem Letztgenannten 1686 sogar den Ankauf eines Hauses, so schränkte man andererseits diese Zugeständnisse 1687 wieder ein: Nur die beiden Genannten durften gegen Schutzgeldzahlung in Lübeck bleiben, alle übrigen mußten sie verlassen. 1699 mußte auf Druck der Bürgerschaft selbst diese Regelung abgeschafft werden. Man fand dann, wie in anderen Reichsstädten, die Lösung des Problems dadurch, daß seit 1701 wieder ein einzelner bestimmter Jude gegen ein sog. Schutzgeld angenommen wurde.

 

Die Beharrlichkeit, mit der die jüdischen Bewohner Moislings Möglichkeiten fanden, abgesehen von den oben genannten Gewerben, auch mit Hausier‑ und Trödelhandel, in Lübeck Fuß zu fassen, ist erklärlich, wenn man bedenkt, daß der Handel die einzige Grundlage ihrer Existenz war. Der Moislinger Gutsherr versuchte daher in zahlreichen Eingaben an den Lübecker Rat, freien Zutritt und Handel für seine Untertanen in der nahen Reichsstadt zu erreichen. Seit dem 1. Mai 1709 durfte ein Jude täglich gegen die Vorlage eines Erkennungszeichens durchs Holstentor in die Stadt kommen, "umb benöthigte provisiones und Lebensmittel vor sich und die anderen dort wohnenden Juden einzukauffen", jedoch nicht über Nacht bleiben. Beim Torschreiber mußte eine Liste über die in Frage kommenden Personen vorliegen und der Name des Einlaß Begehrenden immer genannt werden. Diese Regelung blieb in den Grundzügen das ganze 18. Jahrhundert hindurch maßgebend. Trotz dieser wirtschaftlichen Erschwernisse wuchs die jüdische Bewohnerschaft in Moisling: 1709: 12 Familien, 1735: 36 Familien, 1745: 42 Familien. Seit 1720 gab es auch sog. "Feste jüdische Gerechtigkeiten", die sich auf gottesdienstliche und gesellschaftliche Ordnung bezogen und von der Moislinger Gutsherrschaft genehmigt worden waren.

 

18. Jahrhundert

 

Während die Juden in Moisling an der Gutsherrschaft und der dänischen Regierung Rückhalt hatten, suchte der Rat, besonders von Goldschmieden und Krämern gedrängt, den Moislinger Juden den Zugang zur Stadt zu erschweren. Kamen sie zum Einkauf, so wurden sie von Soldaten begleitet. Durch Kauf kam Moisling 1762 an Lübecker, die es für die Stadt verwalteten, bis es 1810 deren Administration unterstellt wurde. Im Hoheitsvergleich zwischen Dänemark und Lübeck von 1802 war mittlerweile der Anschluß von Moisling und Niendorf‑Reecke an Lübeck vereinbart worden. Bis 1802/06 hatte Dänemark die Landeshoheit inne, so daß sich an der Situation der Juden nichts änderte. Die Krämerkompanie erklärte 1776 in einem Gesuch an den Rat, das den Schleichhandel betraf: "Die Juden brauchen nicht für Wohlstand zu sorgen, auch nicht ihre Kinder in Künsten und Wissenschaften zu erziehen, sie brauchen viel weniger und sind daher mit dem geringsten Verdienst zufrieden". David Alexander Winter hat dazu in seiner Geschichte der Juden in Moisling und Lübeck mit Recht festgestellt. "Der Antrag der Krämer ist ein wertvolles Kulturdokument für diese Zeit. Zuerst wandte man alle Maßregeln an, um die Juden in ihrer Entwicklung und Ausbildung zu hemmen und ihre Lebensbedürfnisse möglichst niedrig zu halten, dann aber klagte man über die selbst verursachte Wirkung". Ein Jahr später beschwerten sich die Ältesten und Vorsteher der "Altonaischen Juden Gemeinde" beim dänischen Residenten Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, daß der jüdische Vorsänger Mendel Bacherach von der Torwache in Lübeck schimpflich behandelt worden sei. Von Gerstenberg wandte sich an den Rat, der den Vorfall untersuchen ließ und die Schuldigen zur Rechenschaft zog. Die trotz aller Einschränkungen zunehmenden Wirtschaftsbeziehungen zwischen Lübeck und Moisling blieben nicht ohne Wirkung. 1790 reichte Jacob Meyer beim Rat ein Gesuch ein, sich in Lübeck niederlassen und eine Kattunfabrik errichten zu dürfen. Sieben der kaufmännischen Ratsherren befürworteten seinen Antrag, fünf lehnten ihn ab. Von den Kollegien verweigerten alle mit Ausnahme der Kaufleutekompanie ihre Zustimmung. Auf beiden Seiten wurden insbesondere wirtschaftliche Argumente angeführt. Doch gingen die Befürworter darüber hinaus und fragten, warum den Juden "nicht die Rechte der Menschheit" eingeräumt werden sollten. Offensichtlich hatten die Stellungnahmen bedeutender Aufklärer wie Gotthold Ephraim Lessing und Christian Wilhelm Dohm zugunsten der Juden, hatte das Beispiel Moses Mendelssohns auch in Lübeck eine gewisse Resonanz gefunden. Immerhin war es nach Berlin 1783 und Preßburg 1785 im Jahre 1788 die dritte Stadt, in der Lessings "Nathan der Weise" aufgeführt wurde. Breitenwirkung freilich blieb solchen Auffassungen noch versagt. 1801 forderten elf Kollegien die Ausweisung von vier fremden Juden. Zwei Juden mußten schließlich die Stadt verlassen. "Eine treffende Charakteristik der im Wesen unveränderten Gesinnung gegen die Juden findet sich", so Winter, "in den Notamina ad. Suppl. Eilf bürgerl. Collegiorum" des Rates: "Amplissimus Senatus hat oft und schon frühe mildere Gesinnungen und die auch wirklich besser mit der Politik bestünden, Eingang zu verschaffen gesucht; allein vergeblich. Ist gleich in neueren Zeiten der Ausdruck bürgerlicher collegiorum oder des Amts der Goldschmiede weniger inhuman, spricht man nicht mehr wie ehedem von Judengeschmeiß, Schandgezücht und dergl., melirt sich ein Ehrw. Ministerium in Christlichem Eifer nicht mehr darin, den Mund voll unchristlicher Injurien gegen die sogenannten Jesusschänder, die so ein hors de lois muß auf sich sitzen lassen, stehen gleich gegen einen jüdischen Einwanderer die Nachbarn mit zugehaltenen Nasen nicht mehr auf ‑ so ist dennoch im Wesentlichen alles so ziemlich das Alte". Sieben Jahre später, 1808, wurde den Moislinger Juden auf ihr ausführlich begründetes Gesuch hin ‑ "ein bedeutsames geschichtliches Dokument in ihrem Kampf um die elementarsten Menschenrechte" (Winter) ‑ der freie, unentgeltliche Zutritt zur Stadt gewährt. Die Zahl der Juden in Lübeck und Moisling war im Laufe des 18. und frühen 19. Jahrhunderts angestiegen, ein Anzeichen mehr für die wirtschaftliche Ausstrahlungskraft der Reichsstadt an der Trave. Lebten 1767 im Kreis der nach der Vertreibung von 1699 bereits 1701 wieder zugelassenen Schutzjuden vier Familien mit zwölf Personen in Lübeck, so waren es 1791 = 13 Familien mit 48 Personen. Die Zahl der in Moisling wohnenden Familien betrug 1709 = 12, 1735 = 36, 1745 = 42 und 1807 = 74.

 

1806 - 1914

 

Die Rücknahme der Judenemanzipation

 

Die Aufnahme Lübecks in den französischen Staatsverband hatte den Juden die bürgerliche Gleichstellung gebracht. In Verbindung mit der von nun an praktizierten Gewerbefreiheit hatte dies zur Folge, daß sie in großer Zahl das ihnen als Wohnort angewiesene Dorf Moisling verließen und sich im Stadtgebiet ansiedelten. Lebten 1811 noch 381 Juden in Moisling und nur 52 innerhalb der Mauern, so hatte sich das Verhältnis bis 1815 geradezu umgekehrt: nun wohnten 356 Gemeindemitglieder im Stadtgebiet und nur noch 140 in Moisling.

 

Mit dem Abzug der Franzosen war deren Gesetzgebung bis auf wenige Ausnahmen ausdrücklich aufgehoben worden. Der Rat zeigte freilich kein Interesse, die bürgerliche Gleichstellung der Juden ebenfalls rückgängig zu machen. Doch wirtschaftlicher Konkurrenzneid ‑ besonders ausgeprägt in den Reihen der Krämerkompanie ‑ verlangte nach entsprechenden Maßnahmen. Der eher halbherzig gemachte Vorschlag des Rats, das Bürgerrecht der Juden aufzuheben und ihnen erneut Moisling als Wohnsitz anzuweisen, dafür aber 25 Familien als Schutzverwandte im Stadtgebiet anzunehmen, wurde von der Bürgerschaft entschieden abgelehnt.

 

Inzwischen aber hatten sich die Juden der drei Hansestädte zusammengetan und dem lübeckischen Advokaten Carl August Buchholz (1785‑1843), dem späteren Syndicus des Rats, Vollmacht erteilt, ihre gemeinsamen Interessen auf dem Wiener Kongreß zu vertreten. Zwar stimmte dessen geschmeidige Argumentation im Kreise der dort versammelten Politiker und Diplomaten ganz mit den Intentionen Österreichs und Preußens überein, doch seine aufdringliche Agitation stärkte andererseits auch das Zusammenstehen der Freien Städte: Ihren Vertretern gelang es jedenfalls, im Artikel 16 der Bundesakte eine Formulierung zu verankern, die es den Mitgliedern möglich machte, die Judenemanzipation aufzuheben.

 

Das daraufhin 1816 auf Betreiben der Bürgerschaft erlassene Ratsdekret wurde zwar nach Einspruch der Großmächte wie auch Hamburgs zunächst nicht vollzogen, doch eine Vielzahl von Verordnungen hat fortan den Juden die Teilnahme am Wirtschaftleben erschwert. Als Folge solcher Maßnahmen verließen zahlreiche wohlhabende Juden den lübeckischen Staat, so daß die soziale Lage der Gemeinde immer dürftiger wurde. Als schließlich im November 1821 alle seit 1810 zugezogenen Juden zum Verlassen des Stadtgebiets aufgefordert wurden, mußte der Staat in Moisling Wohnraum für sie schaffen, der ihnen dann vermietet wurde. In der Stadt durften nur noch ‑ wie von alters her ‑ der angenommene Schutzjude mit seiner Familie und einige geduldete Glaubensgenossen wohnen; das waren 1824 nicht mehr als 31 Personen.

 

Das hier geschilderte Schicksal der jüdischen Bevölkerung in Lübeck im Zeitalter von Restauration und Reaktion ist mit Recht als "ein schlimmes Beispiel [ ... ] für provinzielle Engstirnigkeit und Intoleranz" (Hauschild) gebrandmarkt worden. Erst die Entscheidung der Frankfurter Nationalversammlung hat die Judenemanzipation im Oktober 1848 auch in Lübeck herbeigeführt; freilich mußten die Juden auch dann noch fast vier Jahre auf ihre Gleichstellung in Gewerbeangelegenheiten warten!

 

1914 - 1985

 

Da die Juden für die Nationalsozialisten als Urheber allen Übels galten, wurde durch Goebbels und Ley im ganzen Reich, also auch in Lübeck, am 1. April 1933 ein Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte veranstaltet. Das war der Anfang der Verdrängung der Juden aus allen Berufen. Das Leben wurde ihnen durch immer neue Schikanen ständig mehr erschwert. Hin und wieder kam es zu Plünderungen und Gewalttätigkeiten. Die Ermordung des deutschen Diplomaten Ernst von Rath durch den Juden Herschel Grynszpan in Paris bot den Vorwand für ein reichseinheitliches Pogrom in der sogenannten "Reichskristallnacht" vom 9. zum 10. November 1938. Über die Vorgänge in Lübeck berichtete der Lübecker Generalanzeiger am 11. November auf nur sieben Zeilen: "... auch in Lübeck kam es zu Beschädigungen jüdischer Geschäfte. Besonders wurden davon Globus in der Breiten Straße und Honig im Schüsselbuden betroffen. Weiter wurden Wagner in der Holstenstraße, Holzblatt in der Hüxstraße und das Wäschegeschäft Gazelle in der Breiten Straße beschädigt. Ebenso wurden in der Synagoge Beschädigungen angerichtet". Was hier verschämt mit Beschädigungen bezeichnet wurde, waren wüste Plünderungen, Raub und Mißhandlungen. Wenn die Synagoge nicht ‑ wie in anderen Städten ‑ in Flammen aufging, dann nur deshalb, weil das St. Annen‑Museum mit seinen Schätzen unmittelbar daran angrenzte. Doch wurde sie geschändet und 1939 der jüdischen Gemeinde für ein Spottgeld abgenommen. Das Gebäude gestaltete man gänzlich um und verwendete es unter der Benennung "Ritterhof" als Turnhalle, Kinderheim und Requisitenkammer der Städtischen Bühnen. Die zerstörten jüdischen Geschäfte durften nicht wieder eröffnet werden. Von den 497 Lübecker Juden des Jahres 1933 (weniger als 1/2 % der Bevölkerung) wanderten viele aus, so daß bei der Volkszählung am 17. Mai 1939 nur noch 203 gezählt wurden.

 

Unter den Verhältnissen des Krieges nahm der Druck auf sie noch zu. Ihr Leben wurde immer unerträglicher. Josef Katz, ein Überlebender, beschreibt, wie er mit etwa 90 anderen Leidensgefährten, meist Alten und Armen, die nicht hatten auswandern können oder wollen, am 6. Dezember 1941 in Viehwagen in das Konzentrationslager Fasanenhof bei Riga verfrachtet wurde. Alle bis auf zwei Männer kamen ums Leben. Die letzten Lübecker Juden wurden im April und Juli 1942 und im Februar 1943 ins Konzentrationslager Theresienstadt (Tschechoslowakei) deportiert. Von ihnen überlebte nur eine Frau.

 

Der schnelle wirtschaftliche Aufschwung, die Beseitigung der Arbeitslosigkeit und die Besserung der Lebensverhältnisse, andererseits die Aufhebung der im Versailler Vertrag verfügten militärischen Beschränkungen sowie die Eingliederung des Saarlandes, Österreichs, des Sudetenlandes und des Memelgebiets hatten einen beträchtlichen Zuwachs an Zustimmung für den Nationalsozialismus zur Folge.

 

Dem standen der wachsende Zwang, seine völlige Intoleranz und seine Gewalttaten gegen Gesetz und Moral gegenüber. Trotz schwerer eigener Gefährdung gab es aber auch immer solche, die sich nicht gleichschalten ließen, die sich wehrten. Die Geschichte des in Lübeck geleisteten Widerstandes bleibt noch zu erforschen: Heimlich trafen sich Gruppen von Sozialdemokraten und Kommunisten, die regierungsfeindliche Flugblätter verteilten. Es gab, wie erwähnt, Widerstand in den Kirchen. Vor allem aber lebte er in den Handlungen von Einzelnen. Sie reichen von der Nicht-­Anpassung bis zu Bemühungen zum Sturz des Hitler‑Regimes. 1985 wurden 51 Personen genannt, die für ihre Überzeugung den Tod erlitten. So wurden außer Leber und Solmitz auch die Bürgerschaftsabgeordneten Erich Klann, Dr. Moritz Neumark, Egon Nickel, Karl Ross, Paul Steen und Johannes Stelling Opfer des Nazi-Terrors. Andere emigrierten, wie der spätere Bundeskanzler Willy Brandt sowie Thomas und Heinrich Mann, alle in Lübeck geboren.

 

("Lübeckische Geschichte", herausgegeben von Antjekathrin Graßmann, Lübeck 1988 / S. 467f: "17. Jahrhundert" von Antjekathrin Graßmann / S. 508-510: "18. Jahrhundert" von Franklin Kopitzsch / S. 566-568: "1806-1914" von Gerhard Ahrens / S. 721f: "1914-1985" von Gerhard Meyer)

 

 

5) Rolf Winter

 

Ich sah Baruch Langsner erst 1938 aus der Nähe wieder, nachdem wir von der Dankwarts‑ in die Marlesgrube umgezogen waren. Ich sah ihn an dem Tag, nachdem meiner Mutter Partei (NSDAP, d.V.) auch in Lübeck die Synagoge abbrannte und Kaufhäuser von Juden demolierte, und dann holten sie Baruch Langsner ab. SA‑Leute hatten ihn in einen grotesk kleinen Handwagen gesetzt, in dem er hockte und immerzu mit erhobenem rechtem Arm »Heil Hitler« schrie, und er hatte sein merkwürdiges Lächeln nicht mehr im Gesicht, sondern nackte Angst, und auch seine Filzkappe trug er nicht mehr, und die SA‑Leute, die ihn zogen und die kleine Handkarre begleiteten, betrachteten ihn voller Verachtung, als transportierten sie ein Stück Dreck, das dringend auf die Müllhalde müsse.

 

Sie holten ihn nicht insgeheim, nicht bei Nacht und Nebel, sondern sie machten eine demütigende Demonstration aus seinem Exodus, ein Zeichen der Zeit, einen kleinen Triumphzug, und genossen die auf dem Trottoir der oberen Marlesgrube stehende Öffentlichkeit. Irgend jemand rief »Judenlümmel«, und jemand anders empörte sich darüber, daß »der Kerl« den Namen Hitlers mißbrauche, und Mutter sagte, daß sie ihn nicht unbedingt auf einer Handkarre hätten abholen müssen, »das war doch nicht nötig«, sagte sie ...

 

("Hitler kam aus der Dankwartsgrube" von Rolf Winter, 1991 / Rolf Winter war langjähriger Chefredakteur der Illustrierten STERN)

 

 

6) Zeittafel von den Anfängen bis 1987

 

1350 Juli: In einem Schreiben an den Herzog Otto von Braunschweig behaupten die Rathmannen (die Mitglieder des Rates) zu Lübeck, die Juden seien verantwortlich für den Pesttod von 80.000 bis 90.000 Menschen in Lübeck und Umgebung.

 

1500: Der Chronist Reimar Kock vermerkt, dass in Lübeck keine Juden sind.

 

1645: Der Jude Samuel Frank wird in Lübeck urkundlich erwähnt.

 

1656: Kosakenaufstände und Pogrome veranlassen Juden aus Osteuropa zur Flucht. Mehrere Familien, die vermutlich auf dem Seewege von Libau (Lettland) nach Lübeck kamen, finden in Moisling Aufnahme.

 

1658: Die Lübecker Goldschmiede beschweren sich über den Hausierhandel (Haustürgeschäfte) der Juden. Daraufhin beschließt der Rat die Ausweisung der Juden durch die Wette (Polizei).

 

1660: Auf weitere Beschwerde der Goldschmiede wird den Juden unter Androhung schwerer Strafen der Aufenthalt in Lübeck verboten.

 

1665: Bewaffnete Lübecker Bürger überfallen die in Moisling ansässigen Juden, weil sie die Konkurrenz und wirtschaftliche Nachteile befürchten.

 

1666: Die Schonenfahrer - maßgeblicher Faktor der Lübecker Kaufmannschaft - veranlassen Ausschreitungen gegen den Juden Samuel Frank, der mit Edelmetallen handelt.

 

1669: Rezeß (schriftlich niedergelegtes Ergebnis von Verhandlungen), wonach der Rat Menschen fremder Nationalität oder Religion nur mit Genehmigung der zwölf Kollegien und Ämter in Lübeck aufnehmen darf.

 

1683: Der Rat verbietet den Juden Samuel Frank und Nathan Siemsen den Ankauf von Gold, Silber und Perlen, weil sie als Hehler verdächtigt werden.

 

1686: Nathan Siemsen erwirbt offenbar als erster Jude ein Hausgrundstück in Lübeck.

 

1686: Der Dänenkönig Christian V. gestattet dem Moislinger Gutsherrn die Aufnahme von Juden, die auch eine Synagoge errichten dürfen.

 

1696: Die Bürgerschaft wendet sich gegen die Zulassung von Juden, da Lübeck im ganzen Reich durch die Juden "berüchtigt" geworden sei.

 

1698: Der Rat wird von allen Kollegien am 20. Dezember aufgefordert, "gleich nach den heiligen Feiertagen dies Judengeschmeis aus dieser Stadt" zu schaffen.

 

1699: Meinungsverschiedenheiten zwischen Rat und Bürgerschaft über die "Judenfrage".

 

1699: Am 4. März - an einem für die Juden heiligen Sabbat - werden diese aus Lübeck nach Moisling vertrieben. Es kommt zu Beleidigungen und Handgreiflichkeiten. Die Bürgerschaft schafft vollendete Tatsachen, ohne eine Verständigung mit dem Rat abzuwarten.

 

1701: Die Vertreibung von 1699 wird einigen Pastoren entschieden mißbilligt. Kaiser Leopold und der Markgraf von Bayreuth erheben Protest.

 

1708: Der Moislinger Gutsherr verlangt vom Rat für seine Juden die Erlaubnis, unter gewissen Voraussetzungen nach Lübeck kommen zu dürfen.

 

1709: Nach Intervention der dänischen Regierung darf ein Jude pro Tag nach Lübeck. Er muss sich bei der Torwache melden und ausweisen. Er wird von einem Wachsoldaten begleitet und beaufsichtigt.

 

1761: Vier Lübecker Ratsherren erwerben Moisling.

 

1763: Einschlägige Beschwerden veranlassen den Rat, die Vollzugsorgane anzuweisen, allen Fremden mit "anständiger Höflichkeit" zu behandeln, gleichgültig ob es Christen oder Juden seien.

 

1763: Lübeck kauft das Gut Moisling für 90.000 Reichstaler.

1767: Der Rat beauftragt die Vollzugsorgane mit der Aufklärung, warum "die Stadt so sehr mit Juden angefüllt wurde".

 

1768: Die Krämer beschweren sich erneut über den Schleichhandel der Juden.

 

1792: Großbrand in Moisling. Lübeck finanziert den Wiederaufbau mit solidem Baumaterial.

 

1801: Auf Einspruch der Bürgerschaft ordnet der Rat die Ausweisung von zwei Juden an, wobei beleidigende Abwertungen wie "Judengeschmeiß" und "Schandgezücht" benutzt werden.

 

1802: Dänemark überträgt Lübeck die Landeshoheit über Moisling, Niendorf (im Lübschen) und Reecke. Das Oberrabbinat in Altona ist damit für Moisling nicht mehr zuständig.

 

1806: Der 1802 mit Dänemark geschlossene Vertrag wird ratifiziert.

 

1808: Am 23. Februar bitten die Juden aus Moisling den Rat um freien und unentgeltlichen Eintritt nach Lübeck.

 

1808: Der Rat gestattet den Moislinger Juden freien Zutritt. Der Handel bleibt ihnen aber verboten.

 

1811: Nach Napoleons Eroberungskriegen wird Lübeck am 1. Januar in das französische Kaiserreich eingegliedert.

 

1813: In den Befreiungskriegen gegen die napoleonische Fremdherrschaft kämpfen acht Freiwillige in der Hanseatischen Legion.

 

1814: Der Lübecker Rechtsanwalt Dr. Carl August Bucholz (christlicher Konfession) setzt sich für die Gleichberechtigung der Juden ein und veröffentlicht die Schrift "Über die Aufnahme der jüdischen Glaubensgenossen zum Bürgerrecht".

 

1814: Der Polizeidiener Hirsch wird erster Jude in städtischen Diensten Lübecks.

 

1814: Die liberaleren Vorschriften aus der Franzosenzeit werden aufgehoben und die alten - für die Juden nachteiligen - Bestimmungen wieder in Kraft gesetzt.

 

1814: Die Bürgerschaft will den 66 jüdischen Familien das Aufenthaltsrecht in Lübeck entziehen.

1814: Auf dem am 1. November eröffneten Wiener Kongreß wendet sich Lübeck gegen die Gleichberechtigung der Juden.

 

1815: Die bürgerlichen Kollegien wollen mehrheitlich, dass die Juden wieder aus der Stadt vertrieben werden sollen.

 

1815: Elf jüdische Familien werden ausgewiesen.

 

1816: Weitere 42 jüdische Familien müssen Lübeck verlassen.

 

1817: Die Ladengeschäfte jüdischer Händler werden versiegelt.

 

1818: Den Juden wird der Handel in der Stadt Lübeck verboten.

 

1821: Alle seit 1810 zugezogenen Juden  müssen Lübeck nach Anordnung des Senats verlassen. Davon sind 45 Familien betroffen und nur acht Familien dürfen bleiben.

 

1827: Die Stadt Lübeck errichtet für 9.000 Courantmark eine (neue) Synagoge in Moisling.

 

1830 - 1837: Streit in der jüdischen Gemeinde zwischen orthodoxen und liberalen Strömungen bezüglich der Elementar-Schule.

 

1837: Am 27. November wird in Moisling eine jüdische Elementar-Schule mit zwei Klassen für 100 Schüler eröffnet.

 

1839: Erneutes Großfeuer in Moisling. Die Bürgerschaft behebt die Obdachlosigkeit von 22 jüdischen Familien durch die Bewilligung vom 9.200 Courantmark.

 

1839: Der Senat verpflichtet die Handwerksämter, auch jüdische Lehrlinge auszubilden.

 

1848: Der Senat regelt das Namensrecht der Juden (unabänderlicher und vererblicher Familienname). Von 68 wählen 36 einen neuen Familiennamen.

 

1848: Vorbehaltlose Gleichstellung der Juden durch Senat und Bürgerschaft in Folge der Gesetze der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche.

 

1851: Mit dem Gemeindediener Samuel Marcus wird der erste Jude in die Bürgerschaft gewählt.

 

1859: In der Wahmstraße wird eine jüdische Elementar-Schule eröffnet.

1862: Erneuter Erwerb des 1822 verkauften Grundstücks in der St.-Annen-Straße 13 zur Errichtung einer Synagoge.

 

1878: Zur Errichtung der neuen Synagoge bewilligt die Bürgerschaft ein zinsloses Baudarlehen von 22.000 Mark.

 

1914 - 1918: Im Ersten Weltkrieg opfert die jüdische Gemeinde den Kupferbelag der Synagogenkuppel. Insgesamt 106 jüdische Soldaten stehen im Feld, von denen 15 fallen und 36 - teilweise schwer - verletzt werden.

 

1921: Dr. David Alexander Winter tritt die Nachfolge von Rabbiner Dr. Joseph Carlebach an und wird letzter Rabbiner der Jüdischen Gemeinde in Lübeck.

 

1923: Die Jüdische Gemeinde Lübeck wird Körperschaft des öffentlichen Rechts und erhält damit den gleichen Status wie die evangelische und die katholische Kirche.

 

1933: Am 30. Januar wird der für seinen fanatischen Antisemitismus bekannte Adolf Hitler - österreichischer Herkunft - vom Reichspräsidenten Hindenburg zum Reichskanzler ernannt.

 

1933: Da der Rabbiner Dr. A. Posner Deutschland verläßt, übernimmt der Lübecker Rabbiner Dr. Winter auch die Seelsorge in Kiel.

 

1933: Am 6. März übernehmen die Nationalsozialisten auch in Lübeck die Macht.

 

1933: Am 11. März wird Dr. Fritz Solmitz verhaftet und in das Konzentrationslager Hamburg-Fuhlsbüttel gebracht. Dr. Solmitz ist Jude, SPD-Bürgerschaftsmitglied und Redakteur beim "Lübecker Volksboten".

 

1933: Die polizeiliche Durchsuchung der Synagoge hat kein belastendes Material erbracht.

 

1933: Die jüdischen Rechtsanwälte treten aus dem Lübecker Anwaltsverein aus um einem Ausschluß zuvor zu kommen, nachdem dieser eine "Säuberung von jüdischem Einfluß" gefordert hat.

 

1933: Das Reichsgesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April beabsichtigt auch den Ausschluß jüdischer Beamter.

 

1933: Lübecks Oberschulbehörde ordnet am 30. April an, daß jüdische Schriftsteller nicht mehr Gegenstand des Deutschunterrichts sein dürfen.

 

1933: Ende Mai werden auf dem Buniamshof Bücher verbrannt. Darunter befinden sich auch solche der Gebrüder Heinrich und Thomas Mann und des Juden Erich Mühsam.

 

1933: Am 19. September wird Dr. Fritz Solmitz erhängt in seiner Zelle vorgefunden. Er wurde höchstwahrscheinlich ermordet, wobei ein Selbstmord nur vorgetäuscht wurde. Zuvor war er im KZ mehrfach schwer mißhandelt worden.

 

1933: Die jüdischen Notare Dr. Meyer Jacobssohn, Dr. Haun, Dr. Cantor und Dr. Geister werden aus ihrem Amt entlassen.

 

1934: Die NSDAP-Kreisleitung verbietet ihren Mitgliedern, in Uniform oder mit Parteiabzeichen in jüdischen Geschäften zu kaufen.

 

1934: Im April wird eine achtklassige jüdische Volksschule gegründet und von dem Rabbiner Dr. David Alexander Winter geleitet.

 

1934: Am 11. Juli wird der jüdische Schriftsteller, Anarchist und ehemalige Schüler des Katharineums Erich Mühsam nach grausamen Martyrium im Konzentrationslager Oranienburg (bei Berlin) ermordet.

 

1935: Am 19. August werden vier Juden in Schutzhaft genommen, nach dem es in der Lübecker Innenstadt zu Tumulten vor jüdischen Läden gekommen war.

 

1935: Am 11. Oktober wird Baruch Langser (vgl. den obigen Abschnitt aus dem Buch von Rolf Winter) zu vier Monaten Haft verurteilt, weil er angeblich die Ehre eines deutschen arischen Mädchens beleidigt habe. "Der Stürmer" - ein pornographisches und wüst antisemitisches Hetzblatt des Julius Streicher - tituliert Baruch Langser als "Scheusal von Lübeck".

 

1937: Im August überfallen etwa 60 SA-Männer jüdische Geschäfte, um diese zu demolieren und die Inhaber unter Prügeln durch die Innenstadt zu treiben.

 

1937: Seit Herbst jenes Jahres werden jüdische Betriebe und sonstige Besitztümer im ganzen Reich flächendeckend "arisiert", was bedeutet, dass viele Deutsche sich praktisch als Hehler betätigen und den schwer eingeschüchterten Juden ihre Habe oft nur "für ein Butterbrot" abnehmen.

 

1938: Am 12. August begeht der Bürstenfabrikant Albert Asch in Untersuchungshaft Selbstmord. Sein Betrieb wird als letzter in Lübeck "arisiert". Er hatte vielen Lübecker Juden einen Arbeitsplatz geboten.

 

1938: Im September kann der Rabbiner Dr. David Alexander Winter mit seiner Familie Lübeck verlassen und geht ins Exil nach London, wo er am 13. Oktober 1953 verschied, um nach Überführung nach Jerusalem auf dem Sanhedria-Friedhof seine letzte Ruhe zu finden.

 

1938: Am 9./10. November ereignet sich die sogenannte "Reichskristallnacht". Fast 200 SA-Männer beteiligen sich an der Verwüstung der Lübecker Synagoge. In letzter Minute gelang es eine Sprengung und Brandlegung zu verhindern.

 

1938: Am 20. Dezember verhandelt das Landgericht Lübeck erstmalig über einen Fall von "Rassenschande". Ein Hamburger Jude wird wegen einer Beziehung zu einer "arischen" Lübeckerin zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt.

 

1939: Am 23. Februar bietet die "Israelische Gemeinde zu Lübeck" das Synagogengrundstück St.-Annen-Straße 13 für 50.000 Reichsmark zum Kauf an.

 

1941: Reichsmarschall Hermann Göring beauftragt Reinhard Heydrich (Leiter von Gestapo und Sicherheitspolizei, SS-Gruppenführer), die Vorbereitung für die Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet zu treffen.

 

1941: Am 28. Oktober wird in einer Beigeordneten-Besprechung der Stadt Lübeck erstmalig davon gesprochen, dass die Lübecker Juden ins polnische Generalgouvernement abgeschoben werden sollen.

 

1941: Am 6. Dezember werden etwa 90 Lübecker Juden mit der Eisenbahn in das Konzentrationslager Jungfernhof bei Riga (Lettland) deportiert.

 

1942: Von Februar bis Juli werden weitere Juden in das Konzentrationslager Theresienstadt (nördliches Böhmen) deportiert.

 

1943: Am 26. Februar wird eine kleine Gruppe älterer Lübecker Juden in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Von dieser Gruppe überlebte eine Frau.

 

1945: Am 8. Mai kapituliert die deutsche Wehrmacht bedingungslos.

 

1950: Am 22. Februar werden fünf ehemalige SA-Männer vom Lübecker Landgericht wegen der Verwüstungen an der Synagoge in der "Kristallnacht" zu Haftstrafen zwischen sieben und vierzehn Monaten verurteilt. Festgestellt wurden Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schwerer Landfriedensbruch.

 

1987: Am 17. September wird Rabbiner Felix F. Carlebach Ehrenbürger der Hansestadt Lübeck.

 

 

7) Benutzte und beigezogene Schriften

 

Baasch, Ernst: "Die Juden und der Handel in Lübeck", in: "Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte", Band 16 (1922), S. 370 - 398

Brilling, Bernhard: "Zur Geschichte der Juden in Lübeck und Moisling", in: "Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde", Band 49 (1969), S. 139 - 145

Guttkuhn, Peter: "150 Jahre israelitische Gemeinde in Lübeck", in: "Vaterstädtische Blätter", Jahrgang 24 (1973), S. 18 f

Guttkuhn, Peter: "Lübecks jüdische Gemeinde gewinnt einen Rechtsstreit. Intoleranz 'Im Weinrancken'", in "Schleswig-Holsteinische Anzeigen" 1996, S. 98 - 100

Guttkuhn, Peter: "Die Geschichte der Juden in Moisling und Lübeck. Von den Anfängen 1656 bis zur Emanzipation 1852", Lübeck 1999

Hauschild, Wolf-Dieter: "Kirchengeschichte Lübecks. Christentum und Bürgertum in neun Jahrhunderten", Lübeck 1981

Klatt, Ingaburgh: "'...dahin wie ein Schatten' Aspekte jüdischen Lebens in Lübeck", Lübeck 1993

Paul, Gerhard / Miriam Gillis-Carlebach (Hg.): "Menora und Hakenkreuz. Zur Geschichte der Juden in und aus Schleswig-Holstein, Lübeck und Altona 1918-1998", Neumünster 1998

Schlomer, Eisak Jacob / Peter Guttkuhn: "Erinnerungen aus dem 'alten Moisling' von 1822-1860", Lübeck 1909/1984

Schreiber, Albrecht: "Wegweiser durch die Geschichte der Juden in Moisling und Lübeck", Lübeck 1984

Schreiber, Albrecht: "Zwischen Davidstern und Doppeladler. Illustrierte Chronik der Juden in Moisling und Lübeck", Lübeck 1992

Winter, David Alexander: "Geschichte der jüdischen Gemeinde in Moisling / Lübeck", Lübeck 1968

Winter, Rolf: "Hitler kam aus der Dankwartsgrube", 1991