Wallstreet-Piraten

 

"Auch nach dem für Europa unheilvollen Rückzug der USA aus ihrer weltpolitischen Verantwortung nach 1920 blieb der Wilsonsche Idealismus in Deutschland verfehmt ‑ nunmehr als abfällige bis feindliche Haltung dem Völkerbund gegenüber. Für diese weit verbreitete Tendenz zeugt ein Artikel mit dem Titel "Amerikanischer Imperialismus und deutsche Vorkriegspolitik" (1922). Der Verfasser Emil Daniels legt dar, der Völkerbundsgedanke sei zu nichts anderem geeignet, als das Nationalgefühl zu schwächen und den patriotischen Geist zu einer vagen Schwärmerei zu verwässern. »Wahrlich ‑ dieses plutokratisch‑ochlokratische Amerika hat Staatsmänner, von denen die schlauesten Monsignore der Kurie im Zeitalter der Dragonaden und der kaiserlichen Seligmacher noch hätten lernen können.« Friedrich Naumann zufolge erfüllte der Völkerbund in dem nunmehr etablierten System angelsächsischer und imperialistischer Vorherrschaft ‑ ein regelrechtes »Syndikat« ‑ ausschließlich die Aufgabe, Rivalitäten unter den Konkurrenten auszugleichen. Der Weltfriede, der durch den Völkerbund garantiert werden solle, diene nur der Sicherung des »Weltrentenbetriebes«. Krieg paraphrasiert Berg die Auffassung Naumanns ‑, werde in Zukunft einem Aufstand gegen die Profite der Herrschaftsvölker und ihrer Trabanten gleichkommen. Diese ganze neue Weltordnung sei eine angelsächsische Erwerbsordnung, und Deutschland werde in ihr die Stellung des Heimarbeiters der Nationen zugewiesen. Der für die 30er Jahre so wichtige Gegensatz zwischen »jungen Völkern« und »alten Völkern« (Möller van den Bruck) bzw. den als "have" und "have nots" bezeichneten Nationen, findet hier seinen ideologischen Vorsprecher. Auf diesem Humus bildet sich eine antikapitalistische und antikoloniale Rhetorik von rechts aus, die unter dem Nationalsozialismus allgemein werden wird.

 

Ernst Fraenkel hat das Wort geprägt, Wilson-Legende und Dolchstoß‑Legende seien in ihrer politischen Wirkung so etwas wie ein antidemokratisches »siamesisches Zwillingspaar« gewesen. Die "Dolchstoß‑Legende" richtete sich gegen die Marxisten, Pazifisten und Juden nach innen; die Wilson‑Legende (seine Charakterisierung als angelsächsischer Heuchler, der damit das Wesen von Puritanismus und Kalvinismus offenbarte) zielte nach außen. In beiden Legenden haben die Verderber Deutschlands gemeinsame Attribute: Sie stehen für die Macht des Geldes, für Zins, Börse und Zirkulation ‑ für den Kapitalismus schlechthin. Für dieses weltanschauliche Bewußtseinsphänomen beginnt nun die Verschränkung von Antiamerikanismus und Antisemitismus bezeichnend zu werden. In radikaler Ausformung werden die USA gar als eine vorgeschobene Bastion jüdischer Weltherrschaft phantasiert. Was unmittelbar nach dem Weltkrieg als Produkt alldeutscher Traditionslinie entsteht, wird später bei den Nazis zu einem geschlossenen Weltbild.

 

Es wurde zum Gemeinplatz, Amerika ‑ nach den Worten Werner Sombarts ‑ als "Judenstaat" zu kennzeichnen. Besonders seit der Präsidentschaft Tafts hatte nach dieser Auffassung der »jüdische« Einfluß im öffentlichen Leben der USA überhand genommen. Die Juden kontrollierten danach die Gewerkschaften, andere Zentren von Macht und Einfluß als »Drahtzieher«. Während des Weltkrieges sei es ihnen gelungen, ins große Kapital vorzurücken. Außerdem hätten sie maßgeblich an den Kriegskrediten für die Alliierten verdient. Auch der ideelle Einfluß der Juden sei erheblich. In der frühen völkischen Literatur werden etwa die Vierzehn Punkte Wilsons als Ausfluß jüdischer Mentalität hingestellt. Daß ihnen auch die »Versklavung« Deutschlands zuzuschreiben sei, daran bestand kein Zweifel. Nicht umsonst habe Wilson den Juden und Finanzmagnaten Bernard Baruch zum Minister sowie zu seinem Chefberater auf den Pariser Vorortkonferenzen erkoren. Der Nazi‑Schriftsteller Giselher Wirsing wußte später zu berichten, die »finanziellen Bestimmungen des Versailler Diktats zur Ausblutung Deutschlands« seien im wesentlichen Baruchs Werk gewesen. Eine in den Vierzigern vom »Reichsführer SS« herausgegebene Broschüre mit dem programmatischen Titel: »Amerikanismus ‑ eine Weltgefahr« ‑ hat diese Version noch weiter ausgeführt. Dort wird Bernhard Menasse (sic!) Baruch als »Wallstreet‑Pirat Nummer Eins« geführt: Er war »einer der berüchtigten Organisatoren der Blockade gegen Deutschland im ersten Weltkrieg. Als einer der Hauptratgeber Roosevelts hetzte er auch diesmal zum Kriege, um als 'Spekulant größten Stils' neue Millionen zu verdienen und die jüdische Weltherrschaft aufzubauen.« Das Bild vom jüdischen Verderber Deutschlands gemahnt im übrigen an eine andere Person ‑ den späteren Finanzminister Roosevelts im Zweiten Weltkrieg ‑ Henry Morgenthau, dem man unterstellte, er habe aus Rachedurst heraus die ökonomische Vernichtung Deutschlands angestrebt. Roosevelt seinerseits wird in der späteren Nazi‑Zeit mit Invektiven bedacht, die bislang Wilson vorbehalten waren. Die Kontinuität der Bilder läßt an eine Art von Wiederholungszwang denken.

 

Neben dem Anti‑Wilson‑Element spielte ein weiterer Topos eine wichtige Rolle für die amerikafeindliche Agitation: der von der extremen Linken wie von rechts her gleichermaßen beschworene "Imperialismus". Das Argumentationsmuster setzte dabei wesentlich bei einer polemischen Interpretation des erwähnten Dawes‑Planes an. Dieser hatte die Verminderung der deutschen Reparationslast zum Ziel und wollte außerdem die Konjunktur durch amerikanisches Anlagekapital antreiben. Die deutsche Volkswirtschaft geriet dadurch notwendig in stärkere Abhängigkeit von den USA, was die extremistische Agitation als Beweis nationaler Unterwerfung und Knechtung stilisierte.

 

Quelle: "Verkehrte Welten - Antiamerikanismus in Deutschland" von Dan Diner, Frankfurt am Main 1993, S. 70 - 73