Tabu Auschwitz

 

Gelegentliche Experimente, die ich in Seminaren angestellt habe, haben mich davon überzeugt, daß es sich bei 'Auschwitz' [als dem bekanntesten Tatort des Holocaust] tatsächlich um eines der wenigen Tabus im strengen ethnologischen Sinn handelt, die es in unserer 'tabufreien Gesellschaft' noch gibt. Während sie auf andere Stimuli überhaupt nicht ansprachen, reagierten 'aufgeklärte' mitteleuropäische Studenten, die keine Tabus mehr kennen wollten, auf die Konfrontation mit 'revisionistischen' [leugnenden] Texten über die Gaskammern in Auschwitz genau so 'elementar' (auch mit vergleichbaren physiologischen Symptomen) wie Mitglieder primitiver polynesischer Stämme auf eine Tabuverletzung reagierten. Sie gerieten förm­lich 'außer sich' und waren offenbar weder bereit noch fähig, über die dar­gebotenen Thesen nüchtern zu diskutieren. Für den Soziologen ist das eine sehr wichtige Erfahrung, denn in den Tabus eines Volkes gibt sich zu erken­nen, was ihm heilig ist. Sie verraten freilich auch, wovor es sich fürchtet. Zuweilen nimmt die Angst vor vermeintlichen Gefahren Formen an, die an die Ticks und Phobien von Zwangsneurotikern erinnern, aber andererseits ist nicht zu leugnen, daß zahlreiche Tabus die Funktion einer echten Gefahrenabwehr erfüllen. Auch wo Tabus an Personen haften, ist schwer zu sa­gen, ob sich die Macht der einen auf die Angst der andern gründet oder ob die Angst der einen auf die Macht der andern zurückzuführen ist. Daß Priester und Potentaten nie gezögert haben, Tabus zur Sicherung ihrer Herr­schaft einzusetzen, ist verständlich; es hat bislang keine Gesellschaft gegeben, die auf die besonders wirksame 'soziale Kontrolle' durch Tabus gänzlich verzichten konnte. In einer 'modernen Gesellschaft' vom Typ der Bun­desrepublik  [Deutschland]  spielen zwar formelle   Verhaltensregeln  und Sanktionen eine größere Rolle als bei den polynesischen Stämmen, wo euro­päische Entdecker zuerst auf die Tabus aufmerksam geworden sind, aber auch bei uns stößt man neben dem Verhalten, das durch ordinäre 'gesetzliche' Gebote und Verbote geregelt wird, auf Handlungen, die sich offenbar 'von selbst verstehen' oder 'von selbst verbieten'. Wenn solche Erwartungen gleichwohl enttäuscht werden, setzen - wie in Polynesien - quasi automati­sche Sanktionen ein, die keiner weiteren Begründung bedürfen. Eine 'mo­derne' Gesellschaft reagiert auf Tabubrüche oder Tabuverletzungen grund­sätzlich nicht anders als eine 'primitive': sie werden allgemein als 'Frevel' oder 'Greuel' empfunden und rufen spontan 'Abscheu' und 'Entsetzen' hervor. Am Ende wird der Missetäter isoliert, von der Gesellschaft ausge­schlossen und seinerseits 'tabuisiert'.

 

Quelle: Professor Dr. Robert Hepp, „Die Kampagne gegen Hellmut Diwald von 1978/79 – Zweiter Teil: Richtigstellungen“, in: Rolf-Josef Eibicht (Hg.), „Hellmut Diwald. Sein Vermächtnis für Deutschland. Sein Mut zur Geschichte“, Tübingen 1994, S. 140