Geheimnis und Psychologie der SS

 

Eines Tages wäre die nackte Machtgier, Arm in Arm mit der Hab­sucht, sicher allen offen zutagegetreten. In den ersten Jahren und wäh­rend des Krieges, als es mancherlei Rücksichten zu nehmen galt, war dies nicht gut möglich. Das System umgab sich daher mit einem dichten Tarn­netz des Geheimnisses. Es gab bei der SS wenig, was nicht »geheim« ge­wesen wäre. Am geheimsten war die Praxis der Konzentrationslager, die nur allgemein‑politisch der Verbreitung eines namenlosen Schreckens dien­ten. Zu welchen Sonderbarkeiten dieses System geführt hat, kann unter anderm aus der Tatsache ersehen werden, daß nicht einmal die Gestapo­-Beamten das Recht hatten, die Lager ohne Sondergenehmigung des RSHA, Abteilung IV, zu betreten, obgleich doch sie es waren, die Tausende von Menschen in die KL einwiesen. (Übrigens nicht selten aus Angst vor der ihnen vom RSHA aufgebürdeten Verantwortung für die staatspolizei­liche Sicherheit in ihrem Gebiet, für die der lokale Gestapo‑Chef mit seinem Leben haftete.) Die wenigsten Gestapo‑Beamten wußten daher im einzelnen, wie es in der Hölle aussah, zu der sie ihre Opfer verurteilten. Die Fragen an Entlassene, wie es ihnen ergangen sei, waren selten Fang‑, meistens tatsächlich Neugierfragen! Die Gestapo war eben die eine Organisationsform, das SS‑WVHA die andere. Beide hatten zwar ein gemeinsames Ziel, aber getrennte Wege und Mittel, die sie nach Möglichkeit sogar voreinander geheimhielten. Eine für Normalmenschen beinahe unfaßbare Organisations­-Wucherung kam hinzu, die alles vollends unübersichtlich machte. Die Gestapo kümmerte sich nicht im geringsten darum, wie das KL‑System des SS‑WVHA mit den Massen fertig wurde, die oft plötzlich an die Einlieferungstore geworfen wurden, ob Platz vorhanden war, Kleidung, Nahrung, Medikamente. Umgekehrt gab das SS‑WVHA nur in den seltensten Fällen einen Sklaven der Gestapo wieder heraus, den es einmal zu verwerten angefangen hatte. Verbunden wurden die beiden Großformen des Terrors durch den Macht‑ und Ausbeutungswillen der obersten Führung: Eicke ‑ Pohl einerseits, Müller ‑ Kaltenbrunner anderseits, jede Gruppe für ihren Herrn und Meister: Himmler.

 

Nach unten führte das weitverzweigte Nervensystem der Befehlsübermittlung, das in merkwürdiger Weise mit persönlicher Entscheidungsfreiheit und daher Verantwortlichkeit verbunden war. Die SS‑Führung erwartete vom Nachgeordneten Gehorsam und Selbständigkeit zugleich. Beide mußten vom Untergebenen sozusagen erfühlt werden. Als bestes SS‑Mitglied galt infolgedessen, wer »wußte, worauf es ankam«, nicht lange auf ausgesprochene Befehle wartete, sondern »im Geiste des Reichsführers‑SS« handelte. Dieser »Geist« war in der Regel, besonders wenn es sich um Maßnahmen gegen »Staatsfeinde« handelte, nicht schwer zu erraten. Eicke äußerte zum Beispiel, »daß ein KL‑Häftling lieber erschossen werden solle, als daß durch seine Flucht die Sicherheit des Reiches gefährdet würde«; um die Wachposten »nicht unsicher zu machen« (das heißt also, um sie sicher zu machen!), ordnete er an, daß sie, wenn sie einen Häftling »auf der Flucht« erschossen hätten, "von Vernehmungen möglichst zu verschonen seien". Initiative zum Gefangenen-­Abschuß zu entwickeln, der ja außerdem noch wegen der ausgestandenen seelischen und sonstigen Unbequemlichkeiten, die damit verbunden sein konnten, prämiiert wurde, hieß hier geradezu einen Befehl ausführen. Das große Schlagwort der SS: »Die Fehler der Justiz müssen korrigiert werden war es nicht ebenfalls eine Aufforderung, die dem Gestapo‑Beamten die Einweisungsbefehle und dein KL‑Arzt die Giftspritze förmlich in die Hand drückte? Der Gerichtsoffizier der SS‑WVHA, SS‑Obersturmbannführer Dr. Schmidt‑Klevenow, eine dunkle Gestalt aus Pohls unmittelbarer Umgebung, äußerte in einer Untersuchungssache: der Reichsführer-SS habe zwar einen Befehl gegen nichtangeordnete Häftlingstötung erlassen, es sei aber zu fragen, »ob er damit nicht den geheimen Vorbehalt (reservatio mentalis) verbunden habe, mit der Nichtbefolgung dieses Befehls einverstanden zu sein«! Man glaubt, ein Zitat aus einer Schmähschrift gegen den Jesuitenorden zu lesen, und hat doch einen augenzwinkernden, lokitreuen Wotansanbeter aus Berlin-­Lichterfelde, Unter den Eichen 125, vor Augen. Später, als allzu viele merken mußten, daß sie bei Schwierigkeiten, die sich ebenfalls ergaben, nicht gedeckt wurden, führte diese Praxis zum Gegenteil ‑ zur Verantwortungsscheu, die ohne schriftliche Anweisung überhaupt nichts mehr ausführen wollte. Vorerst aber entwickelte sich daraus eine eigenartige Mischung aus Gehorsamskult und Kontrollosigkeit. Wurde befohlen, so wurde auch blind gehorcht: mangels Befehls wurde jedoch »sinngemäß« gehandelt. Man könnte den echten SS-­Totenkopf‑Angehörigen ihrer Blütezeit mit einem auf Menschen dressierten Bluthund vergleichen, der in freier Jagd seinem Trieb nachgeht, sofort aber auf jeden entfernten Pfiff seines Herrn hört, sei es zum Kuschen, sei es zur Spezialattacke.

 

Alles, was die SS daher in den KL durchgeführt hat, der Einzelne sowohl wie das Rudel, ist psychologisch überhaupt kein Rätsel: es waren die Handlungen von Menschen, die so dressiert und in ein solches Feld gestellt worden sind, nachdem sie bestimmte Voraussetzungen intellektueller, emotioneller und sozialer Natur für ihre Verwendung mitgebracht hatten. Sie wurden darauf gedrillt, »Staatsfeinde« zu jagen, »Volksschädlinge« »entsprechend zu behandeln«, »Gegner des Führers fertigzumachen«. Was immer sie dabei oder dadurch an Brutalität, an Sadismus, an Habgier, an Korruptheit, an Übersättigung, an Feigheit, an Faulheit, an Wahn aller Art entwickelt haben, ist nicht in einem einzigen Punkte neu. Genauso haben, ganz oder teilweise, alle Barbaren der Weltgeschichte, alle Massenmörder, die Lustmörder, die primitiven Fanatiker gehandelt.

 

Quelle: Eugen Kogon in "Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager", Reinbek bei Hamburg 1974 (die ursprüngliche Fassung entstand 1945 unmittelbar nach Kogons Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald durch die Westalliierten; 1948 wurde das Kapitel "Der Terror als Herrschaftssystem" vorangestellt), S. 358 - 360