Maxime politischer Verhaltenslehre
Wollte ich nun, im Rückgriff
auf die Maximen und Reflexionen solcher Krisenliteratur, eine Art politische
Verhaltenslehre formulieren, die aus meiner Untersuchung der 68er Bewegung und der
prekären Stellung der Intellektuellen in den wechselnden Machtkonstellationen
zu begründen wäre, dann würden mir zehn Empfehlungen einfallen:
1. Versuche nie, mit der
Breitseite der Gewalt Probleme zu lösen; schon Hegel wußte, daß sie den Gegner
nicht schwächt, sondern ihm zusätzliche Gegenständlichkeit seiner Kraft
verschafft. Wirkliche revolutionäre Gewalt besteht unter hiesigen Verhältnissen
aus gewaltfreiem Widerstand; es ist Maulwurfsarbeit.
2. Stehst Du vor der Aufgabe,
kontroverse Positionen zu vermitteln, bediene Dich der List des Zeitgewinns,
nicht zum Zwecke der Täuschung (man wird sie bemerken), sondern zur Herstellung
konkreter Abarbeitungsmöglichkeiten zwischen den betreffenden Positionen.
Vertage mit Arbeitsaufträgen, die sachlich begründet sind und für die sich,
weil fast alle an der friedlichen Beilegung des Konflikts Interesse haben,
immer Menschen finden lassen. Verzichte auf die Befriedigung,
Mehrheitsentscheidungen auf der Grundlage von Zufallskoalitionen
herbeizuführen. Sie haben immer zur Folge, daß die Konflikte unbearbeitet
bleiben und das offene Feuer zum Dauerzustand eines Schwelbrandes geworden ist.
Wer Zeit sparen will, wird mit Zeitverlust bestraft.
3. Erwecke nie den Anschein
einer prinzipiellen Kompromißlosigkeit. Die ehrenwerte Haltung »Hier stehe ich,
ich kann nicht anders« ist keine Arbeitseigenschaft des politischen Menschen,
sondern Ausdruck des starken Identitätszwanges in Kirchen und Sekten. Zeige
Dich vielmehr offen, biete Kompromisse jedoch nur dort an, wo sie die eigenen
politischen Ziele nicht gefährden. Vermeide jede Radikalität, die Du selbst
nicht durchhalten kannst, sonst ruinierst Du nachhaltig Deine Glaubwürdigkeit
und Dein politisches Ansehen.
4. Wo immer die Möglichkeit
besteht, daß Deine eigenen Gedanken von anderen besser formuliert und
öffentlich überzeugender vertreten werden können, gebe ihnen den Vortritt. Du
wirst sehen, daß es der Sache immer dienlich ist, meist kommt es auch Deiner
geistigen und politischen Erfahrung zugute. Bei unübersichtlichen Revierkämpfen,
die augenblicklich nicht zu gewinnen sind, halte Deine eigentlichen Kräfte in
der Kulisse und dränge Dich nicht in den Vordergrund.
5. Stelle Eitelkeiten,
besonders bei Intellektuellen, in Rechnung, und überprüfe genau, ob die darin
enthaltene Besetzungsenergie in gegenständliche Tätigkeit umgewandelt werden
kann. Mache Arbeitsangebote, und vermeide es tunlichst, solchen Eitelkeiten mit
Erfahrungen der eigenen Lebensgeschichte zu begegnen, die den zweifelhaften
Vorzug der Überlegenheit haben.
6. Mißtraue Menschen, die in
ihrem Denken oder Verhalten erst aufwachen und lebendig werden, wenn sie einen
Feind gefunden haben. Es ist zu befürchten, daß sie ihre Selbstsicherheit aus
abgeleiteter Identität beziehen und deshalb kleinste Differenzen selbst in der
eigenen Gruppe als Anlaß für Ausgrenzungen benutzen.
7. Verhalte Dich skeptisch
gegenüber auftrumpfenden Vertretern von Sachzusammenhängen, aus denen alle
Spuren der lebendigen Tätigkeit von Menschen getilgt sind. Dieses
Sachlichkeitspathos fördert die Neigung, Entwicklungen als unabwendbar
hinzunehmen. Wo allerdings der Versuch gemacht wird, Politik in der ersten
Person Einzahl zu betreiben, also alles aus Lebensgeschichten zu begründen, ist
Skepsis ebenso angemessen. Beide Vereinseitigungen verfehlen den Begriff des
Radikalen, der darin besteht, das Übel an der Wurzel, das heißt an den von den
Menschen selbst erzeugten, ihnen aber entglittenen Verhältnissen zu packen.
8. Wirst Du als
Intellektueller im Tonfall der Abwertung angesprochen, so nimm das als eine
Aufforderung, selbstbewußt Deine eigene Produktionsweise zu erläutern.
Herrschaft lebt von Nichtöffentlichkeit und von Fragmentierung der
Verhältnisse. Wer Herrschaft überwinden will, muß also darauf bedacht sein, von
seiner Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen und durch Herstellung von
Zusammenhang, der nur durch Theorie gestiftet werden kann, Unglück von
einzelnen und vom Gemeinwesen abzuwenden. Der Legitimationsgrund von
politischen Intellektuellen liegt also in der Notwendigkeit ihrer
unverwechselbar eigensinnigen Produktionsweise, über die zu verfügen sonst
niemand stolz sein darf.
9. Achte darauf, daß selbst
unter günstigsten objektiven Bedingungen die Art und Weise, wie sich die
Menschen zueinander verhalten, ob sie im zwischenmenschlichen Krieg leben oder
sich pfleglich und solidarisch aufeinander beziehen, wesentlich von deren
Charakterstrukturen abhängt. Das Subjekt ist kein bloßer Faktor, den man auch
auswechseln könnte, sondern absolut bestimmend für das, was eine freie und gerechte
Gesellschaft ausmacht.
10. Sollte die Situation
entstehen, daß Du überhaupt keine politischen Handlungsmöglichkeiten und nur
schmale Auswege siehst, dann nimm Dir die Zeit zum assoziativen Nachdenken und
zur Bilanz. Damit Du Dich nicht ganz von den Sicherheiten der Welt im Stich
gelassen und um alles betrogen fühlst, was Dich sonst wärmte, nimm einen Text
Brechts zur Hand. Ich empfehle Dir die Keuner‑Geschichten, vor allem die
Sentenz mit dem Titel »Überzeugende Fragen«; sie eröffnet ein weites Feld
produktiver Gedanken‑ und Erinnerungsarbeit: »>Ich habe bemerkt<,
sagte Herr K., >daß wir viele abschrecken von unserer Lehre dadurch, daß wir
auf alles eine Antwort wissen. Könnten wir nicht im Interesse der Propaganda
eine Liste der Fragen aufstellen, die uns ganz ungelöst erscheinen?<«
Das wäre, unter heutigen
Voraussetzungen, eine sinnvolle Aufgabe für kritische Kopfarbeiter.
Quelle: Oskar Negt: "Achtundsechzig - Politische Intellektuelle und
die Macht", Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 1998, S. 401-403
Anmerkung: Das Buch von Oskar Negt ist das wohl beste über unsere
68er-Bewegung und gehört in jeden Bücherschrank.