Lübeck pur

 

Wo ist Lübeck pur, wo trifft man das reine Lübeck in pulverisierter Form?

 

Es kann nur innerhalb des amtlich festgelegten Gebietes des Weltkulturerbes sein. Außerhalb, etwa in Travemünde oder Stockelsdorf, wo es über Stock und Stein geht, kann es nicht liegen, das wäre bekannt geworden und Bad Schwartau gehört zu Eutin, das fällt auch aus. Also ist klar, wo auf jeden Fall nicht - obwohl man dem Lübecker Doppeladler nicht vorschreiben kann, wo er fliegen soll und wo nicht. Aber wo ist es nun innerhalb der politischen Einheit des Geländes des Weltkulturerbes am lübschesten?

 

Ist es in dem kleinen Stück Mengstraße, wo man eingeklemmt zwischen den hohen Backsteingiebeln steht? Oder in der Vorhalle, des Heiligen‑Geist‑Hospitals oder auf den Bänken links und rechts vom Eingang zum Rathaus, wo man leicht feststellen kann, ob der Bürgermeister da ist und ob er was tut ‑ und wo in den Buddenbrooks die schöne Szene mit der Revolution spielt.

 

Das deutet an, daß es eine engere Wahl gibt von Orten, an denen es urlübsch zugeht. Würden also solche Äußerlichkeiten nicht zu finden sein, wären sie vielleicht in den Herzen im Gemüt zwischen Marzipan und Rotwein und vielleicht bei den Nowgorodfahrern in dem Moment, wo die Kupferdeckel zur Labskaus‑Orgie gehoben werden und es so gut riecht. Daß es da irgendwo sein könnte ‑ dieses Gefühl hatte ich, als ich wieder an dem kleinen Tisch am Fenster saß, zu zweit natürlich, und auf die Hüxstraße sah und den vorbeidefilierenden Kaufwilligen in ihrer romantischen Verkleidung vom Turnschuh bis zum Rucksäckchen nachsah.

 

Hier zwischen Lokal und Hüxstraße ­kommt es mir persönlich am lübeckischsten vor, weil man auch angesichts der festen Mark nicht das Gefühl hat, daß sich etwas ändern müsse. Unverwandt betrachte ich jedesmal die Fassade gegenüber ‑ ein holländischer Import als Billigfassade, die mich bereits zu einem ganzen Themenkomplex inspiriert hat. Mit Genuß gleitet mein Blick über das unvergleichliche Gegenüber aus Kunstgewerbe, Änderungsschneiderei, Reißverschlußzentrale und Brautmoden ‑ während ich auf der Herrentoilette mir beim Pinkeln immer wieder das Blatt von Kandinsky "Two Black Touch" ansehe von 1922. So genau habe ich mir noch nie ein Kunstwerk angesehen.

 

Vielleicht setzt sich Lübeck pur aus lauter so kleinen Erfahrungen zusammen, die man nicht kaufen kann, auch nicht mitnehmen und auch nicht auf Dosen ziehen kann, sondern nur selbst leben ‑ das ist vielleicht der spezifische Reichtum des Ortes jenseits jeder Denkmaltopographie, daß er darin reich ist. Es ist schon genug davon verschwunden.  Prof. Jonas Geist in LSZ v. 14.9.1999