Heilung vom Antisemitismus

von Heinrich Mann (1928)

Die selbstbewußtesten Völker unseres Kulturkreises sind am wenigsten antisemitisch. Der Antisemitismus beginnt dort, wo man an Erfolge nicht lange genug gewöhnt ist und die eigene Stellung in der Welt noch als Problem empfindet. Er artet aus, wo ein Volk geknechtet ist. Er erhält sich in mehr oder weniger bösartiger Form nach nationalen oder politischen Befreiungen, die zwar im Äußeren vollzogen, aber innerlich noch nicht erworben sind.

Der deutsche Antisemit oder vielmehr der "national" genannte Menschentyp, der die meisten Antisemiten stellt, war Franzosenfresser, bis der Zwischenfall eines deutschen Sieges über Frankreich ihn in dieser Hinsicht erleichterte. Er verlegte sich auf den Haß Englands, bis der Weltkrieg ihm die Wohltat erwies, ganz Europa, auch England, im Wert herabzusetzen. Sieger, denen selbst nicht allzu wohl ist, zehren immerhin weniger an seinem ungefestigten Selbstbewußtsein, als vor der Niederlage. Die Qual dagegen, die sein Judenhaß ihn bereitet, kann der deutsche Antisemit durch gewalttätige Ereignisse nicht loswerden. Das wäre Selbstzerstörung, denn er hat mit seinen Juden alles gemein, das Land, die Wirtschaft, die Art zu denken und zu leben, seine Haltung vor Fremden, vor den Aufgaben der Welt, und sogar die Güte seines Selbstbewußtseins.

Man hält die jüdische Selbstironie für den Rest einer gedrückten Daseinsform. Auch der deutsche Antisemit hat in seinem Blut noch immer die einstige Benachteiligung des historischen Deutschlands. Er ist unter den deutschen Typen der mit dem hartnäckigsten nationalen Gedächtnis. Sein Gedächtnis bildet in ihm einen "Minderwertigkeitskomplex". Er kann die Zeiten der nationalen Unterlegenheit nicht vergessen. Er braucht daher die Überbetonung des nationalen Wertes, mögen andere ihn längst als selbstverständlich empfinden. Unentbehrlich ist ihm der Haß, und unentbehrlich die Nähe des Gehaßten, ein sichtbarer, täglich erreichbarer Gefährte, an dem er sich ausläßt, mit dem er um die Palme streitet. Denn Antisemitismus ist nicht nur die Ablenkung eigener innerer Nöte. Er ist auch der schwierige Vollzug einer Angleichung oder der bittere Verzicht auf sie.

In der Vorstellung der Antisemiten ist der Jude der schlaueste und härteste Lebenskämpfer. Jeden, der Erfolg hat, ist er zuerst geneigt, als Juden anzusprechen. Man frage nicht lange, was der Antisemit am liebsten auch seinerseits wäre und in gelungenen Fällen wirklich wird. Er wird genau das, was er jüdisch nennt. Ihm entgeht freilich zumeist der Anteil des Juden an der gerade vorhandenen Geistigkeit, - und eben dies ist ein wichtiges Geheimnis der jüdischen Erfolge. Der Antisemit wäre konkurrenzfähiger, wenn er weniger Geringschätzung hätte für Werte, die nicht sogleich Geld ergeben. Er täte gut, seine Begier nach Macht auf die Ideen auszudehnen. Sie sind große Mächte.

Wenn der Antisemit denken lernte, würde er erstens Zusammenhänge entdecken, die ihm noch fehlen, so die hier genannten. Wie erst, wenn er besser denken lernte als die Juden, die darin heute auch nicht Meister sind! Er würde sich selbst samt seinen Juden über die Landesgrenzen hinweg in eine umfassende, bei weitem wichtigere kulturelle Gesamtheit einreihen. Der Gedanke an seine Nation wäre ihm kein Grund zur Gereiztheit mehr, keine Qual mehr. Er wäre zugleich bescheidener und stärker. Er würde sich vor der Welt nicht mehr brüsten, mit dem Juden sich nicht mehr messen wollen. Er würde, um leben zu können, des Hasses nicht mehr bedürfen. Er wäre glücklicher. Er wäre daher kein Antisemit mehr.

Anmerkung: Nicht immer hatte der große Heinrich Mann diese souveräne Einstellung zum Judentum und zur Dümmlichkeit des Antisemitismus, wie er sie in dem vorstehenden Text im Alter von 57 Jahren offenbart. Bis März 1896 war Heinrich Mann Herausgeber der Monatsschrift "Das zwanzigste Jahrhundert, Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt", Berlin, eine "militant völkische Zeitschrift" (Joachim Fest, 1985). In dem dort erschienen Beitrag "Jüdischen Glaubens" sagt Heinrich Mann den Untergang der Kultur voraus, solange man die Juden, "die wilden Tiere im freien Spiel der Kräfte, duldet, anstatt sie auszurotten oder in Käfige zu sperren." Wir sind uns darüber einig, daß eine solche Äußerung heutzutage eine - wahrscheinlich harte - Bestrafung wegen Volksverhetzung nach sich ziehen würde. Vielleicht war Heinrich Mann im Jahre 1895 noch nicht so erfolgreich, so daß er dem nämlichen Antisemitismus-Auslöser erlag, den er 33 Jahre später so trefflich beschrieb.

Auch Martin Luther, einer der Größten des letzten Jahrtausends, machte in bezug auf seine Einstellung zu den Juden stärkste Wandlungen durch; ging allerdings gegenüber Heinrich Mann den umgekehrten Weg. Während Bruder Martin in jungen Jahren ein für seine Zeit liberales und wohlwollendes Verhältnis zu den Juden praktizierte, wurde er mit zunehmenden Alter zu einem der schärfsten Antisemiten. Wenn uns Frau Justizministerin Professor Dr. Herta Däubler-Gmelin, die ihre Sache bis auf diese beschissene ZPO-Novelle sehr gut macht, einen antizipierten "Persil-Schein" ausstellt, würden wir gerne einmal veröffentlichen, was Bruder Martin in diesem Zusammenhang so alles vom Stapel gelassen hat.