Friedrich Engel

 

"Das hätte nicht sein müssen!"

 

Fast 60 Jahre nach der angeblichen Tat verurteilt das Landgericht Hamburg den ehemaligen Sturmbannführer Friedrich Engel (93) zu sieben Jahren Freiheitsstrafe.

 

Was ist zu erwarten am Ende eines Prozesses, in dem es um eine in der europäischen Weltkriegsgeschichte versunkene Tat im Jahre 1944 geht: das Aufscheinen historischer Wahrheit? Die Wiederherstellung von Gerechtigkeit gar? Oder das Eingeständnis, dass der Rechtsstaat an Grenzen geraten kann, die er nicht überschreiten sollte?

Friedrich Engel, zur Tatzeit SS-Sturmbannführer und Leiter des Sicherheitsdienstes (SD) der SS in Genua, ist wegen 59fachen Mordes nicht, wie vom Staatsanwalt gefordert, zu einer lebenslangen, sondern wegen der "unglaublich langen Zeit", die inzwischen vergangen ist, zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt worden. Die Tat, eine Vergeltungsaktion an Häftlingen der dem SD unterstehenden Abteilung des Genueser Marassi-Gefängnisses nach einem Partisanen-Attentat auf ein deutsches Soldatenkino am 15. Mai 1944, sei zwar nach der Praxis des Kriegsvölkerrechts zulässig gewesen, so das Gericht, ihr Ablauf aber sei als besonders grausam und daher als Mord zu bewerten. ....

 

Hochbetagte Zeugen hatten sich widersprochen, ihre Erinnerung erschien unzuverlässig. Nicht jedes der spärlichen Dokumente war von Qualität. Doch das Gericht hielt sich an den "Kernbereich"; dass Engel die Todeskandidaten auswählte, dass er Ort und Zeit der Erschießungen bestimmte, dass er den Transport zum Turchino-Pass organisierte, dass er den Ablauf der Aktion an Ort und Stelle überwachte.

Dies alles bestritt der Angeklagte nicht. Er habe darauf hingewirkt, dass die Repressalie "militärisch anständig" ablief, sagte er. Mitverantwortlich sei er gewesen, aber nicht schuldig...

 

Doch was gilt uns heute als grausam und was im Krieg, zu jenen, zu allen Zeiten. Der Krieg selbst ist das Grausamste. Nach Auffassung des Gerichts war bereits die Fahrt vom Gefängnis zum Pass grausam. "Eine furchtbare Erwartung begleitete die Gefangenen", sagte der Vorsitzende. Grausam der Fußweg bis zur Grube, an deren Rand sich die Männer aufstellen mussten, um "hineingeschossen zu werden". Grausam, dass sie die Gewehrsalven hörten, die ihre Leidensgenossen zuvor getroffen hatten ("Es gab keine lärmschluckende Vegetation"). Grausam, dass sie die Toten in der Grube sahen, in die sie gleich fallen würden.

Grausam auch, dass die Angehörigen nicht informiert wurden, dass es keine "würdige Bestattung" gab und keinen Arzt zur Dokumentation des Todeseintritts. Der Staatsanwalt: "Es musste nicht an einer Grube sein." Das Gericht: Eine "Nacht-und-Nebel-Aktion, die zu Ihrer Zufriedenheit" ablief. Das hätte nicht sein müssen."

Welch eine Konstruktion. Welche Alternative hatte Engel? Ist nicht jeder Tod im Krieg auf seine Weise grausam, egal, ob an einer Grube, an einer Mauer, im Schützengraben oder im Luftschutzkeller?

"Tausende und Abertausende Unschuldiger sind in Coventry gestorben, in Dresden und anderenorts. Frauen und Kinder hat man zusammengebombt. Doch da heißt es, das war eben Krieg. Und hier dreht man jedes winzige Detail um", sagt ein Zuschauer bedrückt. ...

 

Man wolle Herrn Engel nicht ins Gefängnis bringen, sagte die Anwältin einiger Opfer, es gehe um die Aufarbeitung von Vergangenem. Was dabei bestraft wird, oft ist es Lotterie. Die Verbrechen französischer Offiziere im Algerienkrieg oder die 350 000 Toten auf dem Balkan unter Mussolinis Gewaltherrschaft - vieles, zu vieles blieb ungesühnt.

 

Quelle: DER SPIEGEL 25 / 2002 / 40

 

Anmerkung: Wieder einmal ein herausragender Artikel von Frau Gisela Friedrichsen. Anklage und Urteil im Fall Engel sind ein Skandal! Nur in einem Punkt muß ich Frau Friedrichsen widersprechen. Sie erwähnt Grenzen, die der Rechtsstaat nicht überschreiten sollte. Die Bundesrepublik Deutschland behauptet zwar, ein demokratischer Rechtsstaat zu sein, tatsächlich handelt sich aber um eine halb-diktatorische Willkürherrschaft. Den Beweis dafür kann ich hundertfach antreten. Die Richterschaft, die eine Art unangreifbares Adelsregime anstrebt, hat maßgeblichen Anteil an dieser offen verfassungsfeindlichen Entwicklung.

Juristisch handwerklich ist das Urteil ein Skandal, weil die Tat im Sinne des mordqualifizierenden Merkmals nicht "grausam" war. Die haarsträubenden Verrenkungen des Gerichts sprechen schon für den Laien eine deutliche Sprache. Als Totschlag aber war die Tat verjährt.

Rächen sich jetzt eventuell Fehleinschätzungen, denen der Bundestag innerhalb der Debatte zur Abschaffung der Verjährung in solchen Fällen unterlag? Vielleicht aber - und für Engel: hoffentlich - ist das alles nur ein abgekartetes Spiel zur Befriedigung ausländischer Rachegeister und ihrer inländischen Vasallen (ich nenne hier bewußt keine Rasse oder Nation) und der Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf oder lässt die Revision liegen, bis Engel vor seinen Herrgott tritt. Ich glaube, der hat noch mit ganz anderen ein Hühnchen zu rupfen.

DER SPIEGEL steht mit seiner kritischen Bewertung der Verurteilung Engels nicht alleine da, auch die Zeitschrift für Anwaltspraxis (ZAP) hält mit ihrem Unverständnis der Entscheidung nicht hinter dem Berg:

 

"Mord ist nicht gleich Mord

 

Mord ist nicht gleich Mord, auch wenn die den Mord qualifizierenden Merkmale in dem einen oder anderen Fall erfüllt sind. Deswegen haben es Richter schwer, wenn sie einen Angeklagten von den harten Fesseln des § 211 StGB befreien wollen, weil die Tat vor dem Hintergrund besonderer Umstände in einem milderen Licht zu sehen ist. Dem LG Offenburg ist es jetzt mit juristischer Raffinesse gelungen, die des Mordes an ihrem Ehemann, einem Haustyrannen der übelsten Sorte, angeklagte Ehefrau mit zwei Jahren Freiheitsentzug auf Bewährung aus dem Gerichtssaal zu entlassen.

 

Aber noch schwieriger scheint es zu sein, einen Täter an den qualifizierenden Mordmerkmalen zu messen, wenn es der Zeitgeist fordert. Das zeigt die Verurteilung des 93jährigen SS-­Sturmbannführers FRIEDRICH ENGEL durch die 21. Große Strafkammer des LG Hamburg. Nach einem Partisanen Attentat auf ein deutsches Kino im Mai 1944, bei dem sechs deutsche Soldaten getötet wurden, führte der Angeklagte den Führerbefehl einer Hinrichtung von Häftlingen des Marassi Gefängnisses von Genua aus. Die Hinrichtung der Gefangenen war nach Kriegsvölkerrecht zulässig. Gleichwohl wurde ENGEL wegen Mordes verurteilt. Nicht wegen des "Ob", sondern wegen des "Wie" der Tötung. Zu grausam sei alles vonstatten gegangen, hieß es in der mündlichen Urteilsbegründung.

 

Grausam war aus Richtersicht schon der Gefangenentransport vom Gefängnis zur Hinrichtungsstätte, weil die Gefangenen wußten, daß sie etwas Fürchterliches erwartete. Aber: Ist die letzte Nacht im bewußt grell gleißenden Licht der Todeszelle vor der Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl oder mit der Giftspritze in dem zivilisierten Amerika weniger grausam?

 

Grausam war aus Richtersicht der Fußweg bis zur Grube am Turchino Paß, an deren Rand sich die Männer aufstellen mußten, bevor sie erschossen wurden. Aber: Ist im berüchtigten Todestrakt eines US Gefängnisses der geradezu ritualisierte Fußweg von der Todeszelle zur Hinrichtungstätte weniger grausam?

 

Grausam war aus Richtersicht, daß die Gefangenen die Gewehrsalven hörten, die ihre Leidensgenossen zuvor getroffen hatten, weil es keine lärmschluckende Vegetation gab. Aber: Ist nicht schon der Krieg grausam, weil jeder Soldat, auch bei lärmschluckender Vegetation, das ohrenbetäubende Pfeifen der Granaten im Anflug hört?

 

Grausam war aus Richtersicht, daß die Gefangenen die Toten in der Grube sahen, in die sie gleich fallen würden. Aber: War die Schlacht von Verdun, in der die Soldaten über ihre toten Kameraden nur so stolperten, ehe sie selbst fielen, weniger grausam?

 

Grausam war aus Richtersicht, daß kein Arzt den Tod attestierte und keine würdige Bestattung stattfand. Aber: Ist das Mordmerkmal der Grausamkeit nicht zwangsläufig auf ein Verhalten gegenüber Lebenden beschränkt?

 

War es zur juristischen Bewältigung der großdeutschen Vergangenheit oder zur Wahrung der Rechtstaatlichkeit geboten, einem 93jährigen nach 60 Jahren den Prozeß zu machen, wenn man sich für ein Urteil juristisch so verrenken muß? Eine Alternative, wie es denn hätte vonstatten gehen sollen, haben die Hamburger Richter nicht aufgezeigt. Auch der mit der Revision befaßte BGH wird darauf keine Antwort wissen. Allerdings wird es interessant sein, zu lesen, was die Bundesrichter zwischen den Zeilen zum Ausdruck bringen, weil sie es wegen der Beschränkung der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht in den Entscheidungsgründen sagen dürfen.

 

Quelle: ZAP vom 4.9.2002, S. 973 f