Die Domina

 

(1652). Im Johanniskloster war es vor alters Sitte, daß die geistliche Jungfer, welche zur Äbtissin gewählt ward, erst Frau werden mußte. Dabei ging es so zu: Die Neugewählte mußte die erste Nacht in der am Chor zur Rechten gelegenen Kammer mit ihren Totenkleidern angetan unter Fasten und Gebet zubringen; sobald aber der über dem Altar befindliche Zeiger (d.i.: Kirchenuhr) zwölf schlug, trat sie hinaus und steckte dem hölzernen Bilde des heiligen Johannes, welches nah am Heiligtum stand, einen goldenen Reif mit dem Kreuze an den Finger. Danach war sie Frau und ward von allen als Domina oder Herrin anerkannt, wiewohl einige sagen, daß diesen Wort do‑my‑na, d.h. "tue mir nach!" bedeutet habe.

 

Nun lebte vor mehreren hundert Jahren eine Jungfer namens Hartje im Kloster, die war habgierig und herrschsüchtig, zumal der Pater ihr zugesprochen, wenn sie Äbtissin würde, wolle er ihr zum Fürstenthron helfen, weil das Kloster eigentlich ein Fürstentum sei. Durch Lug und Trug brachte sie es endlich auch dahin, daß sie zur Äbtissin gewählt ward; als sie aber Frau werden sollte, weigerte sie sich dessen mit Hand und Fuß, und nur auf eifriges Zureden ihrer Ohrenbläser ging sie zur Nacht in die Kammer. Da sie nun mit dem Schlage zwölf hinaustrat und den goldenen Reif an den Finger, welcher auf das Lamm hinwies, tun wollte, streckte das Bild beim Schein der ewigen Lampe die geballte Faust gegen sie aus. Verwegen wie sie war, packte sie es an; da stürzte die ganze Puppe mit greulichem Getöse zur Erde und in tausend Stücke. Dessen erschrak sie doch nicht wenig, besonders als sich nicht ein einzig Spänchen fand, auf das der Ring gepaßt; endlich zerbrach sie diesen und warf ihn unter die Splitter.

 

Da man nun am anderen Morgen in feierlicher Prozession zum Chor kam, um sie heimzuholen, sah man mit großem Schrecken, was geschehen war. Aber die Leute, welche schon lange vom Papst und seinem Gesinde abgelassen, legten es bald zu ihren Gunsten aus, zumal sie eine herrliche Kanzel erbauen und gegen den Götzendienst hat predigen lassen. Als sie jedoch ihren Prozeß wegen des Fürstentums anfing, fuhr sie mit Pauken und Trompeten ab, und das Kloster ward noch untertäniger denn zuvor.

 

Quelle: "Lübische Geschichten und Sagen" von Ernst Deecke, S. 226

 

Anmerkung: Hochmut kommt vor den Fall. Vertraut auf die himmlische Gerechtigkeit. Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.