Bildung - Lernen mit aller Gewalt?

 

Bildung - plötzlich das heiße politische Thema. Kein Wunder, schließlich war da zum einen das Drama von Erfurt, das viele Fragen aufwarf - wobei die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen für so viel Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit seltsamerweise schnell wieder vergessen wurde. Das mag an Pisa liegen, jenem neuen Reizwort, das schlagartig die mangelnde Qualität des deutschen Bildungswesens beleuchtet und in der Leistungsgesellschaft die Angst vor internationalem Abstieg schürt.

Nun überschlagen sich Politiker mit Konzepten, wollen sogar Geld fließen lassen, alles mit dem einen Lernziel: Deutschland und seine Schulen sollen beim nächsten Vergleich besser dastehen, möglichst in der Spitzengruppe der OECD-Länder, die sich an der Vergleichsstudie beteiligt haben.

An die Schüler denken die Politiker dabei zumeist nicht - und auch viele Eltern wissen keinen anderen Ausweg als den Ruf nach mehr Leistung, mehr Kontrolle, mehr Drill. Die Schule von gestern als Vorbereitung auf die Welt von morgen?

Um doch noch einmal an Erfurt zu denken oder die anderen Gewalttaten an Schulen, die zuletzt Schlagzeilen machten: Aggressive Kinder sind ein Spiegelbild der Gesellschaft. Sie reagieren mit der gleichen Gewalt, die ihnen täglich widerfährt.

Man mag es kaum glauben, aber andere Studien, über die ungern geredet wird, ergaben: Über 80 Prozent der Kinder berichten, schon mindestens einmal Prügel erlitten zu haben. Wer mit heiler Haut davonkommt, dem droht Schaden an der Seele: Eine normale TV-Woche bietet rund 4000 Tote und 600 Mordszenen. Kein Wunder, wenn Kinder irgendwann die vorgelebte Gewalt kopieren.

Gewalt geschieht nicht nur körperlich. Sie wirkt auch strukturell - als ungerecht erlebte Noten, von Abschulungen, Sitzenbleiben, quälend ungemütlichem Mobiliar, überholtem, langweiligem Frontalunterricht. Besonders eine Gruppe übt etwas aus, was es offiziell gar nicht gibt: Die Rede ist von Lehrergewalt.

Dabei gehe es nicht um Einzelfälle, erläutern Schulleiter K. Hoos oder sein Kollege H. Kasper. Sie kennen viele Fälle von Erniedrigung, Schikanen. Schmähungen, kollektiver Entmutigung bis hin zu körperlicher Züchtigung, obwohl diese längst nicht mehr zulässig ist.

Eine aktuelle Umfrage unter 450 Hamburger Lehramtsstudenten zeigt, dass diese Zahlen keineswegs von gestern sind: 80,8 Prozent gaben an, in ihrer noch nicht lange zurückliegenden Schulzeit bedroht und beleidigt worden zu sein, jeder vierte berichtete gar über körperliche Gewalt durch Lehrer.

Wieso lassen sich Kinder und deren Eltern - solche Zustande gefallen? Die meisten scheuten den Protest, hat der Münchner Professor für Pädagogische Psychologie, Kurt Singer, erfahren, weil "jeder fürchtet, nächstes Opfer zu sein und sich die Noten zu verderben". Was Hunderttausende Kinder bedrücke, ängstige und buchstäblich kränke, sei kein öffentliches Thema und werde geleugnet.

Die bitteren Lernerfahrungen der Kinder: Kein Erwachsener steht ihnen in dieser Lage bei und: Gewalt ist offenbar zulässiges Mittel bei der Durchsetzung eigener Ziele, denn Lehrer dürfen sie ja ungestraft anwenden.

Dabei kann dümmer kaum handeln, wer Kindern wirklich etwas beibringen und sie nicht nur auf Leistungen trimmen will die nach der Prüfungssituation schnellstmöglich wieder vergessen werden.

Denn: Wer Angst hat bis hin zum Hass auf Schule, hat damit schon ein Lernhandicap, das schulischen Erfolg fast unmöglich macht. Denn bei Angst und Stress werden Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet - chemische Substanzen, die Kontakt zwischen den Synapsen im Gehirn erschweren oder sogar verhindern und somit einen kreativen Denkprozess komplett unterbrechen.

Da etliche Umfragen zeigen, dass viele Schülerinnen und Schüler buchstäblich mit Bauchschmerzen vor Angst zur Schule gehen, ist es kein Wunder, wenn Studien Deutschlands Bildungssystem schlechte Noten geben.

Dabei könnte man von den Pisa-Siegern lernen: Schulischer Erfolg gedeiht da, wo es keine Notengebung wie in Deutschland und auch kein Sitzenbleiben gibt, wo Kinder trotz unterschiedlichster Begabung möglichst lange zusammenbleiben.

Jeder Bildungspolitiker und jeder Pädagoge kennt - oder sollte kennen - die Problematik der Zensurengebung. Die Studien sind schon Klassiker, aber immer noch aktuell, in denen verschiedene Lehrer ein und dieselbe Arbeit mit allen Noten von "sehr gut" bis "unbefriedigend" bewerteten. Ja, sogar ein und derselbe Lehrer benotete dieselbe Arbeit nach einiger Zeit völlig anders als beim ersten Mal.

Wie ungerecht es zugeht, zeigt auch eine andere Untersuchung: Sie ergab, dass Lehrer bei "guten" Schülern im Diktat deutlich mehr Fehler "übersehen" als bei solchen, die sie als "schlecht" eingestuft haben.

Solche Notenwillkür bleibt Schülern nicht verborgen. Bildungsverantwortlichen sollte wiederum nicht verborgen bleiben, wie die Schüler darauf reagieren: mit starker Unlust, mit schwindender Sympathie für den Lehrer und/oder dessen Fach. Kurz, so Pädagogik Professor Volker Krumm: Die Lernbereitschaft und auch die Fähigkeit sinken rapide. Mit computertomographischen Untersuchungen ließ sich sogar demonstrieren, wie das Gehirn abschaltete, wenn sein Besitzer von Lehrkräften herabgesetzt wurde.

Das wahrhaft Bestürzende an unserer Schuldebatte: All diese Erkenntnisse sind keineswegs neu. Der Kybernetiker und Querdenker Frederic Vester wies schon vor vielen Jahren darauf hin, dass bei Prüfungen in einem angstfreien Klima die Probanden auf 100 Fragen 90mal die richtige Antwort wussten. Sorgten die Prüfer dagegen für angstbesetzte Stimmung, sank die Anzahl der richtigen Antworten rasch auf magere 50 Prozent.

Was lernen wir aus all dem? Das deutsche Schulwesen ist nicht mehr reformierbar - es müsste komplett neu konzipiert werden. Dabei müsste das Motto des auch bei den Bildungseliten so sehr verehrten Universalgenies Goethe gelten: "Überall lernt man nur von dem, den man liebt." Geld allein, folgerte da

raus die Zeitschrift "Scientific American", garantiert deshalb noch lange nicht ein erfolgreiches Bildungssystem.

Oder andersherum gesprochen: Orte, die mit Angst oder Unwohlsein verbunden sind, werden gemieden, Lektionen von Personen, die dieselben Gefühle auslösen, abgelehnt.

Nur vier Prozent der deutschen Abiturienten gehen gern zur Schule, ermittelte soeben Professor Kurt Czerwenka von der Universität Lüneburg. Kein Wunder, dass Lernen hierzulande oft ein geradezu verzweifelter Kraftakt ist, der langfristig ohne Folgen bleibt. Wir sollten die Kraft lieber aufwenden, um ein Bildungswesen zu schaffen, das die Freude am Lernen zurückbringt, die Kinder von Natur aus haben, die sie aber bisher spätestens dann verlieren, wenn "der Ernst des Lebens" beginnt.

 

Der Autor: Holger Strohm (59) studierte unter anderem Pädagogik an der Universität Hamburg. Er ist Autor von rund 80 Büchern und arbeitete als Berater des US-Senats und des Bundestages. Olof Palme beriet er in Erziehungsfragen. ("Lübecker Nachrichten" vom 25./26. August 2002)