Typisch lübsch (143)
Lübeck pfeift auf die UNESCO
Sich regen bringt Segen
Zunächst die gute Nachricht:
Einige Gesellschafter und Steuerabschreiber, einige Architekten und Baulöwen
werden am Projekt "LN‑Passage" schönes Geld verdienen.
Dann die schlechte: Für diese
erfreuliche Aussicht wird ein Teil der Lübecker Altstadt weggeräumt, der ganz
unbezweifelbar zu jener Baumasse gehört, die 1987 als "Weltkultur-Erbe"
in die UNESCO‑Schutzliste aufgenommen wurde.
Wie es dazu kommen konnte?
Ganz einfach: Die Grundstücksverkäufer (das sind die Gesellschafter der "Lübecker
Nachrichten"), der Grundstückserwerber (ein niederländischer Investor) und
die Vertretung der Gemeinde (Bürgermeister und Senat) waren sich einig
geworden. Weil dies Privatsache ist, ging das die Öffentlichkeit nichts an. Die
pro forma für die weitere Planung von der Gemeinde einzuhaltende
"Bürgerbeteiligung" war vom Baudezernat offensichtlich als Farce
verstanden und auch so inszeniert worden. Die "Lübecker Nachrichten"
begeisterten sich für die Segnungen des projektierten neuen Einkaufsparadieses
und verschwiegen die damit verbundenen Implikationen. Eine Form von engagiertem
Journalismus.
Um nicht vorgeworfen zu
bekommen, dies sei eine emotional‑moralisierende,
also unsachliche Darstellung, wird klargestellt: Alles, was auf dem LN‑Gelände
passiert, ist rechtens. Das Passagenprojekt liegt im "MK-Gebiet",
darf als "Kerngebiet" also total überbaut und zu 100 Prozent
gewerblich genutzt werden.
Daß diese Nutzungsausweisung,
vor Jahren beschlossen, falsch ist, tut jetzt nichts zur Sache. Wichtiger ist
dies: Um einen gerichtlichen Prozeß zu vermeiden ‑ der Lübeck, so befürchtete man, teuer
zu stehen kommen würde ‑, hat die Stadt "in Abwägung der privaten
und öffentlichen Interessen" sich ohne Not für die Begünstigung des
Privatinteresses entschieden, indem es dies zu einem öffentlichen Interesse
erklärte. Damals, 1988-1990, war aber schon absehbar, daß eine
"City‑Verdichtung"
im Bereich der Altstadt nicht mehr im öffentlichen Interesse und damit auch
nicht mehr zu verantworten sein würde; die Innenstadt war damals so
"voll" wie heute, die Entlastung in Richtung Bahnhof hätte
städtische Marschrichtung sein können. Erkennbar war außerdem, daß weder
arbeitsmarktpolitische noch die Lübecker Wirtschaft fördernde Impulse von
diesem Projekt ausgehen würden: Es wird kein geschultes Personal für die
zukünftige Konsum‑ und Dienstleistungslandschaft vorhanden sein; hier
geschaffene Arbeitsplätze müssen anderswo abgebaut werden. Und vom 100‑Millionen-Mark-
Investitionskuchen profitiert nur eine Lübecker Firma: ein Abbruchunternehmen.
Im "Gegenzug" hat die Stadt Lübeck ihrem Stadtplanungsamt die
Möglichkeit genommen, hier für eine vernünftige "Stadtreparatur" zu
sorgen, und sie hat das Amt für Denkmalpflege und die Archäologen des Amts für
Vor- und Frühgeschichte daran gehindert, ihre "dienstlichen Obliegenheiten
nach pflichtgemäßem Ermessen" zu erfüllen.
Versäumnisse der Denkmalschützer?
Die "Lübecker
Nachrichten" verließen die Redaktionstische im Oktober 1991; die vom Amt
für Denkmalpflege beauftragten Bauforscher und Restauratoren begannen ihre
Untersuchungen frühestens Ende Dezember. Der im Amt bekannte Zeitplan sah den
Abbruch der Häuser an der Königstraße schon bis Ende Januar 1992 vor; daß unter
solchen Bedingungen überhaupt noch gearbeitet wurde, spricht für den Ernst der
Sache oder für ein schlechtes Gewissen, zumal davon auszugehen war, daß eine
Änderung der Planung nicht mehr zu bewirken sein würde. Eine Not‑Dokumentation
also. Dies nährt den Verdacht, daß die Jahre vorher nicht effektiv genutzt
wurden, um sich ein umfassenderes Bild vom erhaltenen Bestand zu verschaffen -
das politische Gewicht des "Oberen Denkmalpflegers" Bürgermeister Bouteiller hätte dies zumindest für die Forschung erbringen
müssen.
Es scheint ganz so, daß die
Lübecker Denkmalpflege entweder ihre berechtigten und per Gesetz
festgeschriebenen Ansprüche und Kompetenzen nicht genügend zur Geltung gebracht
oder bei der Umsetzung geltend gemachter Ansprüche nicht genügend insistiert
hat. Auch ein millionenschwerer Stillhalte‑Vertrag zwischen LN, Investor
und Stadt dürfte den "Brandparagraphen" 7 des Denkmalschutzgesetzes
nicht außer Kraft gesetzt haben ‑ weil dies Rechtsbeugung wäre. § 7 macht
eine "vorläufige Unterschutzstellung" bei Aufdeckung schützens‑notwendiger
Befunde im Verlauf von Abbruch‑ und Bauarbeiten möglich ‑ mit dem
Ziel der dauernden Erhaltung durch Eintragung ins Denkmalbuch.
Natürlich trat genau diese
Situation ein. Das Haus Königstraße 51 entpuppt sich 1991/1992 als historisches
Dielenhaus mit hochmittelalterlichen, großflächig bemalten Brandwänden, mit
spätgotischem, an Decke und Wänden Renaissance‑Malerei aufweisenden
Flügelanbau und weiteren Resten historischer Ausstattung. Die Brandwände von
Nummern 49, 53 und 55 erweisen sich ebenfalls als gotisch, auch hier findet
sich Malerei. Die Struktur der Hausreihe an der Königstraße entspricht damit
genau dem, was die UNESCO ausdrücklich als "Welterbe" geschützt
wissen wollte: typische hochmittelalterliche, im Baubefund dokumenthaft
erhaltene Parzellen, Ursprung und Vorbild der Städtebildung im Ostseeraum des
Mittelalters.
Vielleicht war der
Denkmalpfleger von Anfang an zu zögerlich: Weil er zuwenig vom tatsächlichen
Bestand wußte, weil er jahrelang nichts Handfestes an Befunden vorzuweisen
hatte, hielt er sich ‑ als Wissenschaftler ‑ mit Forderungen
zurück. Er ignorierte dabei die "verdächtige" historische Struktur
des Blockes; vielleicht versäumte er auch, seine Vorbehalte eindeutig zu
formulieren. Nun ist die Kenntnis der spezifisch Lübecker Baugeschichte von Investoren,
Architekten und Rechtsämtern nicht zu erwarten: nur der Denkmalpfleger hat
dafür die inhaltliche Kompetenz, die es ihm ermöglicht, dem Investoren
Vorschläge für eine Altstadt-verträgliche, gleichwohl "lohnende"
Alternative zu machen.
Zu Recht muß die Lübecker Öffentlichkeit
sich fragen, ob unsere Denkmalschützer nicht von vornherein die Latte viel zu
niedrig angebracht haben. Schützenswert sind nämlich alle Häuser in der
Königstraßenfront gewesen. Zum Beispiel Nummer 49 mit einem völlig erhaltenen spätbiedermeierlichen Durchbau zu großzügigen
Etagenwohnungen nebst einem repräsentativen Treppenhaus, dessen Mahagoni‑Handlauf
und formschöne Docken auch dem Unwissendsten "Qualität"
signalisierten. Oder Nummer 57, das im späten Jugendstil einheitlich neu errichtete
"ColemanHaus" mit getäfelten Sälen,
Parkettböden und einer eleganten Treppenanlage, die bereits die Sachlichkeit
der 20er Jahre ahnen ließ. Daß von diesem Haus für Generationen Information und
Meinungsbildung des Lübecker Bürgertums ausgingen, ist vergessen. "Was du
ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen" ‑ Goethe
wurde hier von der Lübecker Geldaristokratie offenkundig nicht befolgt.
Vielmehr hielt man sich an den eigenen Spruch: "Sich regen bringt
Segen" ‑ weil er auf der Fassade prangt, bleibt er erhalten, denn
nur die Fassade wird vom zukünftigen Kaufhaus übernommen.
Weshalb
hat das Amt hier keine Forderungen gestellt? Das Coleman‑Haus hätte
nach Meinung sachkundiger Architekten andernorts ‑ etwa in Hamburg ‑
schon
längst unter Denkmalschutz gestanden. Um so mehr empört die vom Amt praktizierte Ungleichbehandlung: Weshalb wird
dem kleinen Privatsanierer ‑ zu Recht ‑ die Erhaltung jeder Fenstersprosse,
jedes Beschlags, jedes Farbfleckchens auf Holzwerk und Mauern mit der geballten
Wucht amtlicher Omnipotenz aufgedrückt, während man Groß‑Investoren die
Vernichtung kompletter historischer Häuserzeilen nachsieht? Sind dies denn
"läßliche Sünden", unvermeidliche Nebensächlichkeiten von "gentleman's agreements"?
Soll man wirklich bereit sein, sich zu einer "wirtschaftlichen
Vernunft" zu bekennen, die ganz offensichtlich das Ergebnis von
Opportunismus, Amoralität und Ignoranz ist?
Die Zeit läuft gegen die Archäologie
Den undankbarsten Part im LN-Passagenpuzzle
müssen die Archäologen vom Amt für Vor‑ und Frühgeschichte spielen. Sie
wissen, wie wir alle, daß man den Lübecker Untergrund ‑ nach Maßgabe der
UNESCO Bestandteil des "Welterbes" ‑ am besten dadurch schützt,
daß man nicht gräbt. Nachdem die Stadt jedoch sich von den Projektanten aus
freien Stücken über den Tisch hatte ziehen lassen, war Amtsleiter Prof. Dr. Fehring klar: Notgrabung unter verschärften Bedingungen.
Das Planungsgebiet umfaßt etwa
7500 Quadratmeter, davon sind etwa 3500 Quadratmeter "unberührte"
Fläche mit einer 4 bis 5 Meter mächtigen Kulturschicht über dem anstehenden
Boden. Für eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Grabung in dieser
Größenordnung müßten 2 1/2 bis 3 Jahre
veranschlagt werden. Zum Vergleich: die Großgrabung zwischen Alf‑ und
Fischstraße umfaßte 2300 Quadratmeter und dauerte über 3 Jahre.
Ab Mitte 1990 wurde in
Teilbereichen in Häusern und Hofgebäuden an der Fleischhauerstraße gegraben,
1991 konnte man eine große, etwa 1000 Quadratmeter einbeziehende Fläche in Angriff
nehmen, die bis Ende August 1992 abgeschlossen sein muß. Die verbliebenen 2500
Quadratmeter (will heißen: 10.000 bis 12.000 Kubikmeter Boden voller Scherben,
Funde und aussagefähiger Hinweise) werden, so der Zeitplan, bis Ende September
"weitgehend weg-gebaggert sein" (Prof. Fehring); den Archäologen wird nichts anderes übrigbleiben,
als dem Bagger in und unter die Schaufel zu gucken. Die untersten Schichten, in
denen die städtebau‑historisch wichtige Zeit zwischen 1160 und 1300
konserviert ist, hofft Prof. Fehring zum Schluß doch
"ordnungsgemäß" erschließen zu können. Manche Beobachter sehen auch
diese letzte Chance schwinden, weil sie sich fragen, ob nicht mit der ‑
kargen ‑ Finanzhilfe des Investors ein Verzicht der Bodendenkmalpfleger
auf Anwendung des erwähnten § 7 Denkmalschutzgesetz gekoppelt war: können die
Archäologen, falls sie sich unerwarteten und bedeutsamen Befunden
gegenübersehen, überhaupt noch Still-Legungen, Bauverzögerungen veranlassen
oder ist ihnen "der Schneid abgekauft" worden?
Was kostet es, die UNESCO zu ignorieren?
Das Projekt "LN‑Passage"
war der Prüfstein: Lübecks Verantwortungsträger und Wirtschaftsvertreter haben
nicht begriffen, was der Eintrag in die "world heritage list" bedeutet. Oder sie wollen es nicht
begreifen. Sie haben Verständnis-Probleme mit dem "Welterbe": sie
glauben, "irgendwie ausgezeichnet" worden zu sein für "ihre
schöne Altstadt". Zumindest die Politiker haben Unterschriften geleistet
und müßten es besser wissen: die UNESCO-Konvention verpflichtet zu Erhaltung
und Pflege der in die Liste aufgenommenen Areale. Wenn Bürgermeister und LN‑Geschäftsführer
als Vertragspartner nicht wie naive Ignoranten dastehen wollen, müssen sie
zugeben, wissentlich gegen die UNESCO-Auflagen verstoßen zu haben.
Anstatt der Welt das Welt‑Erbe
zu bewahren, läßt Lübeck es weg‑baggern. Damit
verspielt Lübeck die internationale Anerkennung und die Unterstützung durch die
moralische Integrität der Kultur-Weltorganisation.
Die
Frage nach der "Gesetzesgrundlage" stellt allerdings nicht die Welt,
sondern die Provinz: Die Landesregierung in Kiel beispielsweise stellt sie sich
seit 2 1/2 Jahren: Die Lübecker
Altstadtinsel zum Grabungsschutzgebiet zu erklären, wie es Prof. Fehring als logische Folgerung aus dem Welterbe‑Status
beantragt hat, das will den Justitiaren nicht in den Kopf. Sperre auch bei
Lübecks Stadtvätern: Sie tun so, als ob sie nicht wüßten, daß Bauvorhaben in
Schutz-Arealen zur UNESCO nach Paris gemeldet und dort diskutiert werden
müssen. In Lübeck hielt man dies für nicht nötig. Hochmut oder politische
Dummheit?
Mit welchem Recht geht Lübeck
eigentlich in Bonn und Kiel für "ihre Bürde" Weltkulturerbe um
Millionen betteln, wenn die Stadt nicht einmal willens ist, die simpelste
administrative Bedingung zu erfüllen, nämlich endlich Priorität für
Denkmalschutzbelange in den UNESCO‑Schutzbereichen zu schaffen!
Nun hat die UNESCO gehandelt.
Ein UNESCO-Vertreter wird sich in Lübeck umsehen und sich informieren. Das
Statut sieht vor, daß in die "world heritage list" eingetragene Areale oder Objekte auch
wieder gestrichen werden können.
Trauer um vertane Chancen
Was hätte aus dem alten LN‑Areal
mit etwas gutem Willen werden können!
Vertan wurde die Chance, das
Gelände durch eine moderate Entkernung, mit der die historische
Bebauungsstruktur wieder erkennbar gemacht worden wäre, und durch behutsame
Sanierung und Modernisierung der Häuser am Blockrand zu rehabilitieren und
wiederzubeleben. Die 1. Planung sah dies vor und war deshalb vernünftig. Die
Denkmalpflege lehnte sie damals ab, weil der ‑ freilich arg störende ‑
sechsstöckige Betonklotz des LN‑Druckgebäudes stehen bleiben sollte. Das
Kaufhaus, das darin sozusagen "gemachte Betten" vorgefunden hätte,
sprengt nun die historischen Hauskörper an den Blockrändern.
Eine zurückhaltende
"Stadtreparatur" hätte auch weniger Geld gekostet. Wenn jetzt von
über 100 Millionen Mark die Rede ist, müssen die erwarteten Renditen
entsprechend hoch sein. Die Mieten für Ladenlokale, Bürofläche, Praxisräume und
natürlich auch für Wohnungen werden weiträumig gewaltig anziehen und alles
vertreiben, was nicht zahlen kann. Wer profitiert von solcher Entwicklung?
Vertan auch die Chance, durch
eine Diskussion mit der Öffentlichkeit zu Einsichten und vielleicht zu besseren
Lösungen zu kommen. Hier ging und geht es einzig und allein um viel, viel Geld,
Privatsache also. Fachleute, Gutachter aus Lübeck und von außerhalb,
Bürgerinitiativen ‑ alle blieben "außen vor".
Unbegreiflich auch, daß die
beauftragten Architekten ‑ Wettbewerbe kamen nicht in Frage! ‑ mit
Lübeck‑Besonderheiten nichts zu tun haben wollten; sie würden das Projekt
in gleicher Gestaltung auch in Essen‑Steele
oder in Dingolfing durchziehen. Die wenigen geretteten Ausstattungsreste, Malerei
an Decken und Wänden also, werden verkleidet, der zu erhaltende gotische
Flügelanbau wird hinter einer neuen glatten Mauer eingesargt. Eine beinharte
Mentalität: Bei dem genannten Investitionsvolumen "rechnen sich 100.000
Mark nicht für Nachdenken und Einlenken. Offenbar widerspricht Lübeckisches, Unverwechselbares, Ortstypik,
kurz: Geschichte dem Konzept besinnungsloser Konsum‑Verführung einer auf
Zeit und Verbrauch gestylten "schönen neuen Welt".
Wenn schlichte Gemüter und die
willfährige Presse von "Fortschritt" jubeln - und daß sie es tun werden,
ist so sicher wie das Amen in der Kirche ‑, hat Lübeck eigentlich tiefen
Grund zu trauern.
Quelle: Manfred Finke in den "Bürgernachrichten"
der BIRL (Bürger-Initiative "Rettet Lübeck") und als Vorabdruck in
"Lübeckische Blätter" 5/1992/63-65