Marlene und Heinrich

 

Marlene, die preußische Offizierstochter, war nie in Lübeck - ich versuche mir vorzustellen, wie sie auf hohen Absätzen am Arm von Heinrich über das Kopfsteinpflaster stolpert, um Drehorte für den Untertan zu suchen ...

 

Sie zog es mehr auf die Alm. Sind die Alpen mit ihren Naturschauspielern also das Gegenbild zur stolzen Hansestadt, obwohl ihre Verkörperung des sündigen Engels in einer der Gruben sie der Stadt ganz nahe brachte?

 

Denn Thomas ist das Edle und Heinrich das Unanständige, sie verkörpern die zwei Seelen auch in der Lübecker Brust. Der eine beschreibt den Untergang der alten Werte, der andere die Geburt der neuen Werte und Marlene verkörpert beides - klar, daß sie nicht erst gewartet hat, bis sie rausgeworfen wurde als Verkörperung der privaten Sündhaftigkeit, sondern schon 1930 gegangen ist in die moderne Fassung des gelobten Landes, aus dem jetzt die leuchtenden Türme eines nächsten Alltages für alle kommen, der wie ein Schondeckchen allen überzogen wird.

 

Auch Sternheim erinnert sich nicht, in Lübeck gewesen zu sein, nur daß Hitler das Negativ des Films vernichten ließ, aber sich heimlich eine Kopie behielt und sie in seinem Heimkino immer wieder ansah.

 

Hoffentlich kommt nicht noch jemand auf die Idee, in der Ehrwürdigen auch für sie noch ein Festival etwa rings um die Marienkirche einzurichten.

 

Doch hier ein paar Zeilen aus den dickleibigen Erinnerungen ihrer Tochter, einer Enzyclopädie des Mutter-Tochter-Verhältnisses, die ihre Wahl für die Verkörperung des blauen Engels belegt:

 

"Was wolltest du gerade sagen, Mutti?" fragte mein Vater in jenem höflichen Tonfall, der bei ihm leichte Verstimmtheit anzeigte. Sie stopfte sich einen halben Kanten Roggenbrot in den Mund und murmelte etwas, das wie ein Name klang.

 

"Ich und das Kind können warten - bis du fertiggekaut hast."

 

"Ich sagte", meine Mutter wählte ihre Worte genau und artikulierte jede Silbe mit übertriebener Betonung, "daß - ein - ganz - wichtiger Regisseur aus Amerika, der den Ufa-Tonfilm mit Emil Jannings machen will, heute Abend im Theater sein soll ..."

 

 

 

"Warum?" Mein Vater konnte ausschweifende Reden nicht ertragen. Er wünschte, klar und präzise informiert zu werden.

 

Meine Mutter räumte die Teller ab. "Was weiß ich? Man sagt, er hat schon in ganz Berlin nach der Hure für den Film gesucht ... vielleicht meint er, daß ..."

 

"Du?" lächelte mein Vater und nahm sich noch etwas Käse. Verärgert darüber, daß er immer noch nicht mit dem Essen fertig war, reichte meine Mutter ihm seinen Teller zurück.

 

"Unsinn - kannst du mich in der Rolle eines billigen Flittchens sehen?"

 

"Ja."

 

Meine Mutter warf ihm einen scharfen Blick zu und hob mich vom Stuhl herunter. Es war Zeit für Bett und Schienen. In aller Ruhe aß mein Vater seinen Liptauer zu Ende und trank seinen Wein.

 

Quelle: Professor Jonas Geist - Lübeck / Berlin