Ein Kapitel aus Lübecks Pressegeschichte

 

Am 19. September 1923 stellte in Lübeck infolge der Inflation ziemlich unbeachtet eine Zeitung ihr Erscheinen ein, die einst zu den führenden Tageszeitungen der Stadt gehört hatte und in der Periode 1865 bis 1921 das führende Sprachrohr des linken Liberalismus in Lübeck war.

 

Es waren die "Lübecker Neuesten Nachrichten", die Verleger Charles Coleman damals neben seinem vielgelesenen "General‑Anzeiger" erscheinen ließ. Sie waren 1921 aus der altbekannten "Eisenbahnzeitung" hervorgegangen,

 

Ein Artikel "Am Grabe einer Zeitung" in den "Lübschen Blättern" von 1923 drückt treffend das Bedauern über das Eingehen dieses traditionellen Blattes aus und spart auch nicht mit herber Kritik an Lübecks damaliger Kaufmannschaft, die es nicht verstanden habe, in Lübeck ein Blatt zu retten, das im "Politischen das Organ Lübecks war, das sich zu einem konsequenten Standpunkt der bürgerlichen Mitte bekannte und das von je auf dem Boden der Koalition stand, die die Reichsgeschicke in diesen Zeiten lenkt" also der "Großen Koalition" unter Stresemann von SPD bis zu Deutscher Volkspartei, die der Staatsverneinung der Kommunisten, Nazis und Deutschnationalen entgegenzuwirken versuchte.

 


Zum Verständnis dieser Zeitung ein Blick in ihre Geschichte:

 

Der Gründer der "Eisenbahnzeitung", Verleger Christoph Marquard Ed (Nachkomme einer aus Schweden geflohenen Familie "von Edmann") hatte sich in seinem langen Leben (1809‑1885) vom Buchdruckerlehrling bei Meißner in Hamburg zum bekannten Zeitungsverleger und Reichstagsabgeordneten für Lübeck (1880/81) emporgearbeitet. Er war auch der Vater der bekannten Lübecker Dichterin Ida Boy‑Ed. Ed hatte selbst Dramen und eine "Geschichte der Buchdruckerkunst" geschrieben. Er war mit führenden Hamburger Literaturgrößen befreundet, darunter Amalie Schoppe, Friedrich Hebbel und Karl Gutzkow. Als Correspondent war er für die "Augsburger Allgemeine" und die Cottaschen "Morgenblätter" tätig. Außerdem schrieb er mehrere Novellen unter dem Pseudonym "Stallknecht". Am 17. April 1842 konnte er sich endlich eine kleine Zeitung kaufen und zwar das "Bergedorfer Wochenblatt" des Verlegers Meldau. Bergedorf war damals noch gemeinsamer Besitz von Hamburg und Lübeck - man nannte das "beider‑städtisch" und kam erst 1868 ganz zu Hamburg. Durch den großen Hamburger Brand von 1842 wurde Ed finanziell schwer geschädigt, aber sein Zeitungsverlag in Bergedorf blieb verschont. Das Interesse an der gerade eröffneten Berlin-Hamburger Bahn in ihrer ersten Teilstrecke bis Bergedorf bewog C. M. Ed, seine Zeitung als Symbol des Fortschritts am 16. Februar 1843 in "Eisenbahn‑Zeitung" umzubenennen. Der damals aktuelle Titel (auch andere Zeitungen führten ähnliche, wie die "Lokomotive an der Oder" in Oels/Schlesien) trug der Zeitung später manche Mißverständnisse ein, da man sie mit einem Berufsblatt für Eisenbahner verwechselte.

 

Ed war ein Selfmademann mit Geschick, der in den ersten Jahren die Romane für sein Feuilleton selbst schrieb, d. h. er setzte sie gleich aus dem Kopf heraus in den Winkelhaken. Ed war auch stets sein eigener Redakteur, der bis zu seinem Tode 1885 mit seinem ältesten Sohn Carl Emil allein die Zeitung gestaltete, allerdings Hilfsredakteure der Lokalbeilage "Lübecker Nachrichten" (1866‑97) beschäftigte. Ed war von Anfang an ein entschiedener Liberaler, ein kompromißloser Verfechter des Rechtes von Minderheiten, in seinen ersten Jahren ein Anhänger Preußens, weil nur dieses ihm ein liberales, einiges Deutsches Reich zu garantieren schien. Vom 1. Januar 1860 erschien die Zeitung täglich und hatte damit ihren Platz unter den leitenden holsteinischen Organen erobert, da ihr Verbreitungsgebiet bereits weit nach Lauenburg und Mecklenburg hineinreichte. Ed umschiffte stets geschickt die Klippen der Hamburger Zensur, obwohl er gerade die Politik des mit Hamburg sympathisierenden Österreich häufig recht heftig kritisierte.

 

Wegen der immer größeren Ausdehnung der Zeitung verlegte Ed sein Blatt in die Mitte Holsteins und entschied sich für Lübeck als neuen Druckort. Die Nummer 130 vom 6. Juni 1865 erschien als erste in Lübeck. Das Verlagsgebäude war von Anfang an bis in den Ersten Weltkrieg hinein das noch heute bestehende große klassizistische Eckgebäude in der Großen Petersgrube Nr. 29, das später der Firma Engel & Mitterhusen gehörte. Ida Boy‑Ed wuchs in diesem Hause auf. Ed sah sich nun 1866 veranlaßt, in Lübeck eine wöchentliche Lokalbeilage "Lübecker Nachrichten" zu begründen, die aber nur oberflächlich über vaterstädtische Angelegenheiten berichtete, wenn sie auch häufig genug in das "patrizische Wespennest" stach. Lübeck hatte seit dem Eingehen des "Volksboten" (1865) und der Rahtgenschen "Lübecker Zeitung" außer dem Inseratenblatt "Lübsche Anzeigen" keine einzige Zeitung; Ed füllte diese Lücke in lübeckischer Beziehung nicht immer voll. Besonders sah er sich Pressefehden der "Lübeckischen Blätter" und der "Gemeinnützigen" gegen ihn ausgesetzt, die ihm ‑ nicht ganz unberechtigt ‑ Verhöhnung Lübecks vorwarfen.

 

Andererseits muß man bedenken, daß Ed als erster in Lübeck mutvoll den Anschluß der Stadt an den deutschen Zollverein propagierte, der dann 1868 erfolgte. Ed war damals den gehässigsten Anfeindungen ausgesetzt, aber der Aufschwung des Lübecker Handels und der Bevölkerungszahl gaben ihm auf die Dauer recht. 1871 war er der erste deutsche Zeitungsmann, der der später berühmten Annoncenexpedition Rudolf Mosse, Berlin, Kredit einräumte. Mosse wurde später neben Ullstein und Scherl einer der Berliner "Zeitungskönige". Erster Vertreter Mosses in Lübeck wurde Eds Hilfsredakteur Theodor Pederzani, der 1864 im deutsch‑dänischen Krieg als Nachkomme einer alten italienisch‑tirolischen Juristenfamilie aus Wien nach Lübeck gekommen war. Pederzani war 1867‑1872 Eds einziger Mitarbeiter in Lübeck und mit den lokalen Verhältnissen bestens vertrauter Hilfsredakteur der "Lübecker Nachrichten". Er gründete am 1. Oktober 1872 mit seinem Freunde Dr. jur. Friedrich Crome die "Lübecker Zeitung" (Verlag Gebr. Borchers), mit der sofort ein heftiger Konkurrenzkampf entbrannte, da Ed deren Titel, Untertitel auch der "Eisenbahnzeitung", nicht dulden wollte,

 

Der Rechtsstreit endete 1874 negativ für Ed. Seitdem fiel dieser Untertitel wieder weg. 1880 bei den Ersatzwahlen für den ausgeschiedenen Lübecker Reichstagsabgeordneten Dr. Klügmann, der hanseatischer Gesandter in Berlin wurde, erreichte Verleger C. M. Ed seinen größten politischen Triumph: Er wurde zum Reichstagsabgeordneten Lübecks auf der Liste der Fortschrittspartei gewählt. Trotz der regelrechten Pressehetze, die besonders die "Lübeckischen Blätter" gegen ihn betrieben, erreichte er ein eindrucksvolles Stimmenergebnis gegen den Kandidaten der Nationalliberalen Dr. Adolf Brehmer. Die Verärgerung in den Hansestädten über Bismarcks Hinwendung zum Schutzzoll (1879) und auch manche Befürchtung hinsichtlich der Ausdehnung und des Mißbrauchs des "Sozialistengesetzes" von 1878 auch auf den Liberalismus war denn doch zu groß.

 

Am 17. Juni 1885 zeichnet im Impressum der "Eisenbahnerzeitung" der erste verantwortliche Redakteur, der nicht aus der Familie Ed stammte; es war dies Hugo Wienandt, der die Reihe bekannter deutscher Journalisten unter den Redakteuren der "EZ" eröffnete. Ed selbst war im April 1885 gestorben; der Verlag wurde von einer Erbengemeinschaft weitergeführt (ab 1891; Verlag C. J. Boy). Das geistige Gepräge gab der Zeitung von nun an Eds Tochter, die Dichterin Ida Boy‑Ed. Aus der Fülle der bekannten Chefredakteure sei hier nur einer genannt: Der Schriftsteller Telesfor v. Szafranski (1865‑1914), der die Zeitung von 1891‑99 mit großem Geschick leitete. Er schrieb vielgelesene Militärhumoresken und Romane unter dem Pseudonym, "Teo v. Torn". Von Szafranski erliegen im Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn zwei Briefe an den Altreichskanzler Bismarck von 1894, in denen er diesem seine Dienste für die von Bismarck inszenierte Pressekampagne gegen dessen Nachfolger Caprivi anbietet. Die Reaktion Bismarcks ist nicht bekannt

 

Wienandt kehrte nach Lübeck zurück

 

Durch die steigende Konkurrenz anderer Blätter kam die "Eisenbahnzeitung" um die Jahrhundertwende in Gefahr, an Niveau zu verlieren. Auf Intervention Ida Boy‑Eds kam daraufhin Redakteur Hugo Wienandt, der damals die angesehenen "Kieler Neuesten Nachrichten" leitete, wieder nach Lübeck. Unter seiner Chefredak­tion (1901‑1910) erlebte die Zeitung eine neue Glanzperiode. Wienandt war 1853 in Stolp/Pommern geboren und starb 1924 in Rostock. Er hatte seine journalistischen Fähigkeiten schon bei vielen Zeitungen, u. a. in Speyer, Halle/Saale, Halberstadt und Kiel bewiesen und trat 1901 gewisser­maßen die "geistige Nachfolge" des Zeitungsgründers C M. Ed an, da er als konsequenter linker Nationallibe­raler die Zeitung im freisinnigen Sinne ausbaute und sich auch nicht davor scheute, die Lübecker Kaufmannschaft und den Senat in berechtigten Fällen scharf zu kritisieren. Politisch war Wienandt enger Anhänger des Nau­mann‑Heuß‑Kreises und erwies sich in vielen seiner Leitartikel als besonders profilierter Gegner des damals auf­kommenden Antisemitismus der Rich­tung des Hofpredigers Stöcker. Ein Jahr, bevor Wienandt nach Lübeck kam, hatte die "Eisenbahnzeitung" ih­ren Titel der neuen Zeit angepaßt. Sie hieß nun "Lübecker Nachrichten und Eisenbahn‑Zeitung", um "unliebsamen Verwechslungen mit Fachzeitungen, die dem Eisenbahnwesen dienen" vor­zubeugen (30. 8. 1900). Die Zeitung entwickelte sich stetig, was um so be­achtlicher ist, als Lübeck damals mit ca. 100.000 Einwohnern drei große Tageszeitungen     ("Generalanzeiger", "Lübeckische Anzeigen" und eben "Lübecker Nachrichten/Eisenbahnzei­tung") besaß, wozu als Parteiorgan der Sozialdemokratie noch der 1894 ge­gründete "Volksbote" kam

 


Der linke Liberalismus hatte keine Chance

 

Am 21. Januar 1903 trat nun eine bedeutsame Änderung ein: Wienandt kaufte mit dem früheren Maschinenmeister der "Eisenbahnzeitung" Carl Willers die Zeitung von der Dichterin Ida Boy‑Ed, deren Mann ‑ damals schon krank ‑ 1904 starb. Nach sieben Jahren mußten beide Verleger die Zeitung jedoch 1910 verkaufen, weil einmal die enge Bindung an den linken Liberalismus (die Zeitung war Vereinsorgan des Berliner "Wahlvereins der Liberalen") für Lübeck, in dem damals nur die Alternative rechter Nationalliberalismus oder Sozialdemokratie bestand, ungünstig war, zum anderen der "Lübecker Generalanzeiger" unter Chefredakteur Mantau zu einer immer schärferen Konkurrenz wurde. Wienandt ging nach Rostock und wurde dort Herausgeber der angesehenen liberalen "Rostocker Zeitung".

 

Neuer Verleger wurde der Besitzer der "Lübecker Verlagsanstalt", Otto Waelde. Er war 1870 in Schwäbisch-Hall geboren und gab der Zeitung ein mehr nationalliberales Gepräge. Zuletzt hatte er die "Gummersbacher Zeitung" im Bergischen Land herausgegeben. Waelde war auch Mitglied der Lübecker Synode. 1921 mußte er das Blatt aus wirtschaftlichen Gründen an Verleger Coleman verkaufen.

 

Die Zeitung hatte ihr Ende erreicht. Das Erscheinen dieses letzten Ausläufers des alten, traditionsreichen Blattes, das das Lübeck des Kaiserreiches entscheidend mitgeformt hatte, endete am 15. September 1923. Verleger Coleman verschmolz es mit seinem "Generalanzeiger".

 

Die "Eisenbahnzeitung" hatte aufgehört zu existieren.

 

Quelle: KLAUS JODEIT 1974