Erziehung
Rede an die Abiturienten des Johanneums zu Lübeck
Oberstudienrat Wohlers - 1972
Sie sind in das Johanneum
gekommen, um Ihr Entlassungszeugnis zu erhalten, für das einige unter Ihnen
beträchtliche Mühen aufgewendet haben; diese Anstrengungen werden Sie belohnt
sehen, wenn Sie den Ihnen gemäßen Werdegang mit Umsicht zu beschreiten beginnen.
Natürlich fängt Ihre Ausbildung nicht erst jetzt an, denn in der langen,
mindestens dreizehnjährigen Schulzeit, haben Sie sich entwickeln müssen, ob vornehmlich als
Persönlichkeit oder als ein Könner und Spezialist, das mag ungeklärt bleiben.
Dem geistigen Wachstum als einem Prinzip der menschlichen Natur waren Sie auf
weiten Strecken notwendigerweise unterworfen, und der einmal durchlaufene
Lebensabschnitt trägt den Stempel der Unwiderruflichkeit.
Trotzdem vermögen hoffentlich recht viele aus Ihrem Kreise auf dem kürzeren
Abschnitt der Berufsausbildung einschneidende, sinnvolle Veränderungen an sich
selbst und ihrer Umgebung durchzusetzen; der Anstoß dazu könnte durchaus aus
Ihnen selbst kommen. Dem Prinzip der Unwiderruflichkeit des Wachsenmüssens kann
das Prinzip der relativen Korrigierbarkeit Ihrer weiteren Formung an die Seite
gestellt werden. Das Abitur bildet bei diesem Prozeß gleichsam einen
Wendepunkt, denn die Maßstäbe Ihres auf die Zukunft gerichteten Lebenslaufes
müssen von nun an die Prinzipien der Selbstkorrektur und des Wachsenwollens
sein.
Heute müssen Sie den umhegten
Raum der im ganzen noch notdürftig funktionierenden Oberschule verlassen; Sie
werden sich in einem Gebiet bewegen, dessen Topographie eine Reihe von Jahren
unübersichtlich erscheinen wird, es sei denn, Sie setzen die Brille der
verzerrenden Vorurteile und der Denkschemata auf. Wir wären enttäuscht, wenn
das Abitur von Ihnen nur als ein fühlbarer Schnittpunkt in der Veränderung der
äußeren Lebensformen empfunden würde oder gar als ein Non plus ultra, das Sie
zum erstarrenden Ausruhen einlädt.
Um diesen Gefahren und anderen
Mängeln zu begegnen, haben wir unseren Schulversuch unternommen, an dem viele
aus Ihrer Mitte tatkräftig mitgearbeitet haben, denn trotz der Abgeschiedenheit
der lübischen Position vermögen wir uns Rechenschaft über die gegenwärtigen
Tendenzen zu geben. Es erübrigt sich, mit Schlagwörtern aus Bildungsprogrammen
aufzuwarten, denn sie verhindern eine saubere Diagnose; eine Therapie ist dann
vollends ausgeschlossen. Es genügt, zu wissen, daß auf Leistung nicht
verzichtet werden kann, auch wenn einige unter Ihnen sich persönlich zu einem
solchen Verzicht aus irrationalen Erwägungen bekennen; es genügt, zu wissen,
daß Sie Bindungen eingehen müssen, also auch Verantwortung und Selbständigkeit
werden tragen (und vielleicht auch ertragen) müssen.
Ob wir Ihnen allen die Sinne
auch ein wenig für diese Grundlagen sozialen Verhaltens haben schärfen können,
entzieht sich unserer exakten Kenntnis. Es gibt für mich aber keinen Zweifel
darüber, daß Sie und wir, aufs Ganze gesehen, zu Formen der Arbeit miteinander
gefunden haben, die auch den menschlichen Kontakt und Umgang einbezogen. Ich
glaube, behaupten zu können, daß sowohl Sie Ihr Rollenverhalten als
"Pennäler" in hohem Maße als auch viele Herren des Kollegiums ihre
berufsspezifischen Verhaltensweisen haben abstreifen können. Einschränkungen
gehören auch hier zur wahrheitsgetreuen Bestandsaufnahme. Ich führe diese
günstige Entwicklung, die sich vor allem in O 1 (Oberprima) vollzogen hat, auf unsere Praxis einer bewußten und
verantwortlich verstandenen Einwirkung auf Sie zurück. Es ist nämlich absurd,
zu meinen, die Tätigkeit des Lehrers lasse sich sinnvoll ausschließlich auf die
Vermittlung von Information beschränken, und Erziehung habe zu unterbleiben. Eine solche Auffassung weiß nichts
über den Entwicklungsprozeß bei jungen Menschen. Um meine Gedanken zu
verdeutlichen, benutze ich einen Aphorismus von Bertholt Brecht: Wenn Herr K.
einen Menschen liebte. "Was tun Sie", wurde Herr K. gefragt,
"wenn Sie einen Menschen lieben?" "Ich mache einen Entwurf von
ihm", sagte Herr K., "und sorge, daß er ihm ähnlich wird."
"Wer? Der Entwurf?" "Nein", sagte Herr K., "der
Mensch."
Diesem
Text lassen sich drei Thesen abgewinnen:
1.
Der "Entwurf" (das Modell, der Plan)
ist eine Skizze eines bestimmten "Menschen".
2. Der Mensch ist auf jenen exakt umrissenen
"Entwurf"
hin formbar (These der Veränderbarkeit des
Menschen).
3. Nur derjenige ist nach dem "Entwurf"
formbar, der
einer persönlichen Beziehung gewürdigt wird
und des
fördernden Verständnisses sicher sein kann
(These von
der Funktionalität der Erziehung).
In der zuletzt formulierten
These ist eines der Grundgesetze der Erziehung überhaupt enthalten. Ändern wir
die Perspektive und blicken vom "Schüler" auf den "Lehrer",
dann gilt: Nur derjenige vermag sich auf ein bestimmtes, jeweils erneut
festlegbares Ziel, auf eine Gestalt hin zu entwickeln, der in das
Kraftfeld personaler Bindungen gerät. Alle anderen aber, die aus verschiedenen
Gründen außerhalb jenes Feldes verharren, verzichten auf ein wesentliches
Element des menschlichen Umganges nicht etwa nur zwischen "Schülern"
und "Lehrern", sondern zwischen allen Angehörigen von Gemeinschaften,
die der Gesellschaftlichkeit, der "Menschenfreundlichkeit", kurz der
Sozialität des Menschen dienen.
Unter der Voraussetzung, daß
der "Mensch" veränderbar ist (These 2) ‑ und die recht
verstandene Erziehung muß diese Voraussetzung machen, sonst könnte sie
überhaupt nicht als verantwortliches Tun bezeichnet werden ‑ läßt sich
die Überzeugung vertreten, daß er auf ein bestimmtes aus ihm selbst gewonnenes
Ziel hin formbar sei. Das Entscheidende ist die unauflösliche Verbindung des
Zieles mit der Qualität des Menschlichen. Fällt dieses aus der anzustrebenden
Form heraus, dann haben ideologische Marktschreier aller Schattierungen mit ihren Indoktrinationen leichtes Spiel. Von
der behutsamen Entwicklung eines menschenwürdigen Daseins, dessen Interesse
zunächst in ihm selbst zu liegen scheint, kann nicht mehr die Rede sein. Obenan
muß aber unangefochten, zumindest der Absicht nach, die Suche nach den im
menschlichen Dasein angelegten Möglichkeiten stehen, oder anders gesagt, die
Suche nach einer relativen Wahrheit.
Alle diese Vorgänge betrachtet
Brecht als einen Prozeß (These 1), der sich in die Zukunft hinein erstreckt,
dessen Ablauf schon nicht klar beschrieben werden kann, geschweige denn dessen
Ausgang.
Damit stehen wir erst vor den
entscheidenden Problemen, die die Erziehung und demzufolge den Umgang zwischen Angehörigen
von personal durchwirkten Spannungsfeldern teilweise so undurchschaubar machen.
Zunächst: Um was für einen "Menschen" handelt es sich? Brecht nennt
nur zwei Bestimmungen: den "Entwurf" und die personale Beziehung. Wie
komme ich von diesen beiden Kennzeichen aus zu einem Modell, das alle
Qualitäten des Menschen enthält? Hier stellt sich in aller Schärfe das
Erkenntnisproblem; oben streifte ich bereits das Problem der relativen
Wahrheit. Von beiden spricht Brecht ausdrücklich nicht. Dann hätte er auch die
zeitgenössische Pädagogik einiger Schwierigkeiten und Peinlichkeiten enthoben,
denn sie leidet immer noch an der Ungeklärtheit ihres Menschenbildes, der
anthropologischen Voraussetzungen.
Nicht nur richtige und falsche
Fragestellungen überschwemmen uns, nicht nur scheint auf einem gewissen Niveau geistiger
"Auseinandersetzung" eine theoretische Begründung für alles möglich zu sein; auch die
Popularisierungen gewisser Lautkombinationen, die als Modewörter die
Tagesdiskussion beherrschen, erschweren den Erkenntnisprozeß. Das wissen Sie aus eigener Erfahrung. Leerformeln
(Kritik, Progression, Demokratisierung und der Begriffsapparat der linken
Papageien zählen dazu), die Sie als Einweg-Konfektion von der Stange stehlen
können, bereiten außerordentliche Schwierigkeiten, weil Erkenntnis auf Wahrheit
aus ist und Erziehung es mit beiden zu tun hat.
Sie werden aufgefordert, die
Suche nach dem "Menschen" Brechts zu betreiben und die andrängende
Umwelt zu erkennen. Diese Tätigkeiten sind, ebenso wie unsere Erziehung an
Ihnen, mit Versuchen verantwortlicher Einwirkung auf andere verbunden. Daß es
hierbei zu Spannungen kommen muß, wissen Sie aus ihrer Erfahrung, wenn Sie auf
Ihre lange Schulzeit, besonders auf die letzten 2 oder 3 Jahre, zurückblicken. Prognosen erweisen sich gerade
heutzutage als unmöglich, sofern es sich um die Gestaltung des Daseins und die
Entwicklung der Wissenschaften in den nächsten Jahrzehnten handelt (Stichwörter
für beide Bereiche: Planbarkeit und Wirklichkeit). Allerdings läßt sich mit
Sicherheit voraussagen, daß an Sie als Heranwachsende und Erwachsene Ansprüche
herangetragen werden, welche sich auf die ethisch‑politische Sphäre
beziehen, und daß Sie an sich selbst Forderungen stellen müssen, um menschlich
sein zu können. Gemeint sind alle sozialen Pflichten, vorab
Verantwortungsgefühl. Eine entscheidende Rolle spielen Selbstachtung und Würde,
die vielen Deutschen schwer erringbar und kaum bewahrbar erscheinen, das
Selbstbewußtsein, das allzu häufig mit seinen Entartungsformen der Arroganz,
Ichbezogenheit und Taktlosigkeit verwechselt wird, und die Tapferkeit, die
Ihnen dem Begriffe nach als Zivilcourage und als Mut zur Erkenntnis durchaus
geläufig ist. Zuguterletzt schließe ich die Höflichkeit an, die im Grunde nicht
die Formalisierung des Umganges unter Menschen darstellt; ihr Kern ist nämlich
die Güte.
Mit sich werden Sie also
Kämpfe auszufechten haben; ebenso sicher ist auch, daß Sie unausweichlich in
Auseinandersetzungen innerhalb von Gruppen (Staat, Gesellschaft) hineingezogen
werden. Auch die jeweilige Zivilisation fordert Sie zu einer Antwort heraus.
Wenn Sie sich bei allem auch in das Detail versenken müssen, gewährleistet n u
r der Blick auf das Ganze, der von Pascal bezeichnete "Geist des
Feinsinns", daß Ihre Fragestellungen den Phänomenen entsprechen;
andernfalls entgleitet Ihnen mit Sicherheit Ihr Ich, oder innerhalb der Gruppen
leisten Sie der Barbarei der Gesinnungskämpfe Vorschub; die jeweilige Epoche
bleibt dann ein rätselhafter Wirrwarr oder gar ein erdrückendes Ungeheuer.
Was Ihre Eltern, Ihre Kameraden und das Johanneum für
Ihren weiteren Lebensweg bedeutet haben und was die Schule hat vermitteln
können, überblickt jeder einzelne von Ihnen erst sehr viel später; uns bleibt
es zumeist ganz vorenthalten, wenn nicht Glücksfälle wie die rückblickenden
Berichte in unserer Festschrift zum Jubiläum unserer Schule uns Aufschlüsse
gewähren. Mancher Beitrag enthält das Eingeständnis seines Verfassers, daß es
ihm auch trotz größter Anstrengung nicht gelungen sei, die Schulzeit aus sich
zu verbannen. Andererseits darf die Schule nicht verklärt werden, gewiß nicht;
das hieße sich in die Vergangenheit vergraben, sich lebensunfähig machen;
meinen Vorstellungen entspräche es, wenn Sie die Schule als Trittstein
betrachteten, der Ihnen dazu verhelfen könnte, sich so weit wie möglich von ihr
fortzuentwickeln auf Ihrem schwierigen Weg in eine unsichere Zukunft. Unsere
aufrichtigen und besten Wünsche begleiten Sie.
Wohlers
Quelle: DAS JOHANNEUM - Mitteilungen für die
Eltern/Schüler/Ehemaligen und Freunde der Schule / Heft 48 /Lübeck / Dezember
1972 / S. 28 f
Anmerkung: Diese brillante Rede (die "linken
Papageien" wollen wir "Butje" Wohlers nach Jahren der
Auseinandersetzung mit schwachsinnigen Entartungen der 68er-Bewegung in der
Provinz nachsehen) wurde gehalten fünf Jahre nach dem der Kulturredakteur von
"luebeck-kunterbunt" die "erste Anstalt" verließ. Auch er
genoß zeitweilig Unterricht bei Herrn Wohlers und zwar in der Mittelstufe, als
jener noch Studienassessor war. Es ging das Gerücht, daß Herr Wohlers
ursprünglich Diplomat hatte werden wollen, wobei dieser Plan jedenfalls nicht
an seinen Fähigkeiten gescheitert sei. Angeblich besaß er sechs (!)
Lehrbefähigungen für das Gymnasium. In Erinnerung geblieben ist mir noch sein
außerschulisches Engagement. Die Klasse nahm in freiwilligen
Nachmittagsschichten eine Vertonung von "Das Schiff Esperanza" vor.
Es handelte von einem Seelenverkäufer, der Flüchtlinge kurz vor der Küste der
USA auf einer Sandbank absetzte und dort jämmerlich ertrinken ließ. Edwin Wolf
sprach mit proletarischem Bariton einen Bootsmann der "Esperanza".
Immer noch der Klärung harrt die Frage, ob der "Deutschpauker"
und der "Justizquerulant" entfernt verwandt sind; war doch die
Urgroßmutter des Letzteren Katharina Jalandt geborene Wohlers und
"Wohlers" ist in Lübeck kein besonders häufiger Name. "Oma
Jalandt" war der letzte aktive Sproß einer drei Jahrhunderte tätigen
"Dynastie" von Gärtnern vor dem Holstentor. Sie starb 1954 und ihr
Gärtnerhäuschen fiel der damaligen Neugestaltung der Kreuzung / des
Kreisverkehrs Ziegelstaße / Steinrader Weg / Wisbystraße / Artlenburgerstraße
zum Opfer. Ihr Vater bewirtschaftete dort noch eine große Gärtnerei zwischen
Ziegelstraße und Schönböckenerstraße.