Alte Sozialdemokraten
Nach der Ermordung des österreichischen
Thronfolgers und seiner Gemahlin wuchs die Spannung zwischen den großen Mächten
Europas in bedrohlichem Maße. Auch in Lübeck machte sich Nervosität und
Erregung bemerkbar. Vor der Kriegserklärung Österreichs an Serbien war es bei
der Abfahrt von Torpedobooten aus Travemünde am 26. Juli 1914 zu patriotischen
Kundgebungen gekommen, bei denen "Deutschland, Deutschland über
alles", "Heil Dir im Siegerkranz" und andere patriotischen
Hymnen gesungen worden waren. Am Jahresanfang 1914 war in den Lübeckischen
Blättern zu lesen gewesen: "Der Erbfeind ... bedräuet uns mit unsern
Neidern mehr denn je ... Auch unsere Zeit, und wenn es sein muß, das kommende
Jahr wird die deutschen Männer finden, die für ihre und des Vaterlandes Ehre
freudig das Leben darangeben". Am Tage der Kriegserklärung Österreichs
gegen Serbien, dem 28. Juli, fand im Gewerkschaftshaus eine Kundgebung der
Sozialdemokraten statt, auf der Theodor Schwartz (1841‑1922) und Johannes
Stelling (1877‑1933) gegen eine kriegerische Unterstützung Österreichs
durch Deutschland, für einen friedlichen Ausgleich und für Völkerversöhnung
eintraten. Sie wiesen auf die unabsehbaren, schrecklichen Folgen eines Krieges
hin. Auch in Stockelsdorf, Bad Schwartau, Sereetz und Eutin fanden sozialdemokratische
Friedensdemonstrationen statt. Scharf reagierte dagegen die bürgerliche Presse.
So warfen die Lübeckischen Anzeigen den Sozialdemokraten vor, sie verstießen
gegen die klarsten Forderungen der politischen Vernunft, sie machten mit ihrem
verbrecherischen Treiben die Männer an ihrem Gewissen und an ihrer Ehre irre,
ja sie fielen damit dem deutschen Volke in den Rücken. Als dann die
Mobilmachung und die Kriegserklärungen erfolgten, gaben die Sozialdemokraten
der kaiserlichen Regierung ihre Unterstützung. Ihre Kritik fand damit auch in
Lübeck ein Ende und der patriotische Rausch der Mobilmachungstage riß die
gesamte Bevölkerung mit.
Quelle: "Lübeckische Geschichte", herausgegeben von
Antjekathrin Graßmann, Lübeck 1988, S. 677 f
Anmerkung: Die Geschichte hat gezeigt, daß die ursprüngliche Haltung der
Sozialdemokraten richtig war. Sie hätten sich dem Gift der heute irrational
erscheinenden nationalistischen Euphorie konsequent entziehen sollen.