Schallende Ohrfeigen für überhebliche Richter
Wiedersehen mit der Justiz
Kurt Tucholsky
Wenn man das drei Jahre lang
nicht genossen hat: die moabiter Justizfabrik und die unhöflichen
Gerichtsdiener und diese Richterköpfe und die kleinen verschreckten Schöffen,
Mikrozephalen oder Kolonialwarenhändler, und die artigen Verteidiger, die immer
ein bißchen etwas vom Komplicen an sich haben, und die Angeklagten, die nicht
wissen, wie ihnen geschieht ‑ wenn man das drei Jahre lang nicht genossen
hat, so darf man erfreut feststellen, daß noch alles da ist, Justitia ... Ein
Vormittag, und die Binde sitzt hinten.
Das letzte Mal stand ich vor
den Talaren neben Siegfried Jacobsohn und bewunderte seine kluge Zurückhaltung
und überlegene Kälte einem Geschöpf gegenüber, das einundeinehalbe Stunde, ohne
Atem zu holen, sprach: da hatte das Abonnement des <Berliner Lokal‑Anzeigers> treffliche Früchte getragen,
und die Stunde patriotischen Anschauungsunterrichts, die wir bekamen, war
gratis. Und umsonst.
Was ich in letzter Zeit in
Moabit und am Alexanderplatz vor den Gerichten zu sehen bekommen habe, zeigt
wieder das alte Bild: die Strafen sind gar nicht einmal so grauslich, so
drakonisch, so ganz und gar unsinnig, und vom Standpunkt eines Verteidigers,
dem es lediglich auf das Resultat anzukommen hat, kann sich im allgemeinen der
deutsche Angeklagte nicht mehr beschweren als irgendeiner seiner ausländischen
Schicksalsgenossen. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß die deutschen Richter
gut richten. Sie richten schlecht.
Da ist der redende Richter:
jener Typus, der die Angeklagten, Zeugen und. Verteidiger überhaupt nicht zu
Worte kommen läßt, sondern der für sie alle spricht. Ganz abgesehen von den
äußeren Ungehörigkeiten, die sich diese Richter dauernd zuschulden kommen
lassen: (während der Aussagen und der Plädoyers nicht zuzuhören, Akten zu
schmieren, ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch herumzutrommeln, wenn der
Verteidiger etwas zu sagen wagt), ganz abgesehen von solchen kleinen
Äußerungen, die trefflich auf das Innere schließen lassen, ist der ganze
Wahnwitz von Überheblichkeit, Folgen einseitiger Auswahl und Kastengeist immer
noch da.
Vor allem wirkt der deutsche
Richter wie einer, der seinen Beruf als Berufsstörung auffaßt. Man hat von
diesen zweifellos zu schlecht bezahlten Beamten den Eindruck, daß sie ihre
Arbeit unlustig tun und daß sie nichts als das eine und einzige Bestreben
haben: möglichst rasch fertig zu werden. Es kommt nicht so sehr darauf an, in
welcher Weise eine solche Sache erledigt wird, wie darauf, daß sie erledigt
wird. Auf dem Wege zur <Erledigung> von Prozessen und Personen liegen die
Steine des Anstoßes, die da stören: ausführlicher Zeugenbericht, Plädoyers,
unvorhergesehene Anträge ... kurz, alles, was über die angesetzte Zeit
hinausgeht. Daher mürrisches, eiliges Wesen, hochfahrende Handbewegungen,
Wegräumung aller Schwierigkeiten, die Zeit kosten können.
Zweiter Wahnwitz: confessio regina
probatorum. Was das Mittelalter mit Hängegewichten und Daumenschrauben
erzielte: das Geständnis, dieses Kronjuwel aller Beweismittel, das erzwingt der
deutsche Richter mit dem weder materiell‑rechtlich noch prozessual zu
begründendem Satz: «Ich mache Sie darauf aufmerksam, Angeklagter, daß Sie durch
ein Geständnis Ihre Lage verbessern!» Hinter dieser Fibelpsychologie steckt in
erster Linie Bequemlichkeit. Einem geständigen Angeklagten braucht nichts
nachgewiesen zu werden, Zeugenaussagen fallen fort oder werden doch wesentlich
vereinfacht, und die ganze Sache kann rasch zu Ende sein. Der rechtlich
unzulässige Satz beruht ferner auf der kindlichen Annahme, daß Reue eine simple
Empfindung sei, jederzeit herzustellen, jederzeit greifbar, und solche Annahme
entspringt eben dem gottähnlichen Getue von Funktionären, die da glauben, sie
hätten das Recht zu strafen, das heißt also: moralische Urteile zu fällen wie
jenes imaginäre Wesen, das die Zeugen im Eid anrufen, weil sie ‑ entgegen
den Bestimmungen ‑ meist niemand darauf aufmerksam macht, daß diese
religiöse Formel durchaus vermeidbar ist. Der Richter hat aber lediglich die
Aufgabe, die Gesellschaft, so wie sie heute ist, vor Menschen zu schützen, die
die Sicherheit dieser Gesellschaft bedrohen. Davon ist in Moabit und am
Alexanderplatz nichts zu merken. Dort wird gestraft. Wie wird gestraft ‑?
Aus einer einzigen Sitzung:
Ein Schupomann nimmt einen
Betrunkenen auf die Wache mit; der Betrunkene fühlt sich, ob zu recht oder
unrecht, zu hart angefaßt und bittet während der Sistierung die Umstehenden,
ihm Zeugenadressen aufzuschreiben. Der Richter: «Das wäre ja noch schöner, wenn
jeder Sistierte unterwegs auf dem Wege zur Wache Anträge stellen könnte!»
Falsch: Abgesehen von der Papierredensart, die einen Besoffenen im Rinnstein
Anträge stellen läßt, hat natürlich jeder das Recht, sich Zeugenaussagen zu
erbitten. Der Richter zum Angeklagten: «Erst betrinken Sie sich, und dann
benehmen Sie sich dem Beamten gegenüber disziplinwidrig!» Falsch: Der Mann ist
dem Beamten überhaupt keine Disziplin schuldig. Wir leben nicht in einer
Reichswehrkaserne, und das einzige, was ein Polizeibeamter bei einer Sistierung
verlangen kann, ist etwas Negatives: nämlich das Fehlen von Widerstand gegen
die Staatsgewalt: Hier wird nicht befohlen; hier wird nicht gehorcht. Der
Richter zu dem Zeugen: «Haben Sie mit dem Angeklagten etwas getrunken?» Der
Zeuge: «Ich ja, er nicht.» Der Richter: «Er hat überhaupt nicht getrunken?» Der
Zeuge besinnt sich: «Doch, der Angeklagte hat zwei Glas Bier getrunken.» Der
Richter zum Angeklagten: «Also Sie haben auch getrunken!» Falsch: Der Konsum
von zwei Glas Bier hat nichts mit Trinken zu tun; der betreffende Richter würde
sich mit Recht beleidigt fühlen, wenn ihm jemand sagte, er <tränke> vor
der Sitzung, und diese Behauptung mit dem Konsum von zwei Glas Bier begründen
wollte.
Aus einer einzigen Sitzung:
«Das ist also dieselbe Geschichte, die wir eben gehabt haben ‑ wieder
Widerstand gegen die Staatsgewalt!» Der Angeklagte kann für die Reihenfolge der
angesetzten Termine nichts, und es ist eine Willkür, ihn die vorige Sache
entgelten zu lassen.
«Nach den jüngsten
Vorkommnissen auf den berliner Straßen sind wir Richter zu der Überzeugung gekommen,
daß es unsre Pflicht ist, die Beamten besonders zu schützen; das sind wir den
Beamten schuldig.» Grober Unfug: Der Richter sieht die letzten politischen
Vorkommnisse, die mit der kleinen Polizeiübertretung eben dieses Angeklagten überhaupt
nichts zu tun haben, so an, wie es eben ein Leser der <Täglichen Rundschau> tut, und läßt den Angeklagten einen
politischen Meinungskarnpf entgelten.
Dritter Wahnwitz: Anrechnung
der natürlichen Begleitumstände eines Delikts als strafverschärfend. Beispiel:
Ein Straßenhändler stiehlt seinem Freunde eine Summe von 42 Mark. «Als
strafverschärfend kommt hinzu, daß der Angeklagte einen Mann bestohlen hat, der
selber nicht in günstigen Vermögensumständen lebt und sich sein Brot sauer
verdienen muß.» Wahrscheinlich glaubt der Richter, daß sich Straßenhändler bei
Diebstählen an ein Vorstandsmitglied der Dresdner Bank zu halten haben oder
doch zum mindesten an einen gutverdienenden Filmschauspieler. Steigt ein
Einbrecher nachts heimlich in eine Wohnung, so donnert nicht nur der § 250 Ziffer
4 auf ihn herunter, sondern seine Heimtücke, seine Tätigkeit zur Nacht, seine
Hinterlist werden ihm außerdem noch als strafverschärfend angekreidet. Er wird
also bestraft, weil er sich zur Nachtzeit zur Begehung eines Raubes in ein
bewohntes Gebäude eingeschlichen hat, und dann noch einmal besonders dafür, daß
er sich zur Nachtzeit zur Begehung eines Raubes in ein bewohntes Gebäude
eingeschlichen hat. Nichts dümmer als die Begründung dieser Urteile.
Was in Moabit an Moral gelehrt
wird, gehört auf den Kehrichthaufen.
Es ist noch alles da. Eines
sogar ist hinzugekommen, das habe ich noch nie gesehn und sah es zum erstenmal:
den Schnellrichter. Der verfährt nach § 212 StPO.
Der Mann sitzt, um auch
äußerlich darzutun, was er ist, gleich im Berliner Polizeipräsidium, in einem
Zimmerchen, an dem die Stadtbahnzüge vorbeidonnern. Die Angeklagten werden ihm
unmittelbar aus der Haft vorgeführt. Nachteile: Der Richter kennt die
Aktenzeichen der Kommissare, weiß also, daß dieser Angeklagte von der Polizei
als ein gewerbsmäßiger Ladendieb angesehn wird und jene Frau als eine
gewohnheitsmäßige Kupplerin, und er richtet sich, hopp‑hopp‑hopp,
darauf ein. Der Schnellrichter ist ein Herr Krönker, ein Mann von der
Wasserkante, und es ist nicht unlehrreich, zu sehen, was dieser Landgerichtsrat
treibt.
Seine Urteile sind, soweit ich
das gesehen habe, nicht gar so schlimm wie etwa die des Herrn Siegert. Krönker
steht in dem Ruf, <noch nicht einer der Schlimmsten> zu sein. Aber wie
der Mann Recht spricht: das als Opfer zu erleben, gönne ich keinem seiner
Kinder, wenn er welche hat.
Erste Ungehörigkeit: Ton und
Haltung des Richters. Ein solches
Benehmen würde etwa einem Geschäftsmann alle Viertelstunde ein paar schallende
Ohrfeigen eintragen. Der Mann hat
eine Art, mit den Angeklagten, die er kaum ansieht, herrisch, hochfahrend und
ungezogen zu sprechen, die jedem Menschen auch noch den letzten Rest von
Ehrgefühl aus dem Leibe treibt. Es ist mir kein Paragraph der
Strafprozeßordnung bekannt, wonach ein Angeklagter verurteilt ist, solche
menschliche Erniedrigung zu erdulden.
Zweite Ungehörigkeit: Der
Schnellrichter weist nicht jeden Angeklagten darauf hin, daß er nach § 26 GVG
das Verfahren ablehnen kann. Nun stelle man sich die Lage solcher Proletarier,
immer ohne Verteidiger, vor: entweder macht der Richter den Angeklagten
überhaupt nicht auf die immerhin eigenartige strafprozessuale Lage aufmerksam,
oder er tuts in unzulänglicher Weise. «Wollen Sie lieber eine
Schöffengerichtsverhandlung?» Der Angeklagte, der in Haft ist, befürchtet nun,
weiter in Haft zu bleiben, wenn er die Schöffen verlangt, er wird auch so und
so oft weiter in Haft belassen und ist auf alle Fälle der Dumme.
Dritte Ungehörigkeit, und dies
ist die schlimmste: Nach Verkündigung des Urteils pflegt Herr Krönker die Leute
im Ton eines gereizten Feldwebelleutnants zu fragen: «Nehmen Sie das Urteil an,
ja oder nein?» Der Justizminister Doktor Schmidt wird in seinem Leben eine
Menge verwickelter juristischer Situationen gesehn haben, und es geht ihm der
Ruf eines anständigen Menschen vorauf. Ich frage ihn, ob er es für loyal hält,
wenn ein Richter wie dieser die Angeklagten nicht darauf aufmerksam macht, daß
sie das Recht auf Berufung haben, daß meist nach einer solchen Verhandlung
Verdunkelungsgefahr nicht mehr besteht und daß mithin Haftentlassung zu
erfolgen hat. Es ist vollständig gleichgültig, ob Herr Krönker durch
Bestimmungen verpflichtet ist, die Angeklagten in dieser Weise zu belehren oder
nicht: die einfachste richterliche Gewissenspflicht gebietet, Wehrlose über
ihre Rechte aufzuklären.
Das Schöffengericht taugt
schon nicht viel, weil die Siebung der Schöffen ganzen Volksschichten die
bürgerlichen Ehrenrechte abspricht; du und ich, wir werden niemals Laienrichter
werden. Was aber in diesem <Schnellgericht> getrieben wird, geht denn
doch noch über alles hinaus, was Moabit wagt. Es ist natürlich gleichgültig, ob
ein von der kapitalistischen Gesellschaft zermürbter lungenkranker Mensch wegen
Bettelns drei Wochen oder vier Wochen in Haft kommt: der Richter kann von sich
aus die soziale Frage nicht lösen, auch er ist nur ein Vollstrecker. Aber es
muß wohl verlangt werden, daß dieser Schnellrichter, daß die langsamen Richter
in Moabit vor allem einmal die einfachsten Menschenrechte respektieren.
Auf keiner Tagung des
Deutschen Richtervereins ist von den Schmerzen des Volkes etwas zu hören. Jedes
Volk hat die Richter, die es verdient. (1927)
Anmerkung: "Nichts Neues unter Gottes Sonne!" Auch zwei
Richtergenerationen nach Tucholskys Schilderung kann man beim Amtsgericht
Lübeck exakt das Gleiche erleben. Amtsrichter Andreas L. schaut während des Plädoyers
des Verteidigers gelangweilt aus dem Fenster, um dann auch noch den
Schlußvortrag des Rechtsanwalts zu unterbrechen, weil er offenbar nicht
aufmerksam zugehört hat. Amtsrichter Heinz W. trommelt wild mit den Fingern auf
der Tischplatte, allerdings nur wenn RA W. vorträgt, nicht jedoch
bei RA J; der ist ja auch Präsident der Notarkammer.