Osterspaziergang 1919
Aus einer aufgefundenen <Faust>-Handschrift
Faust: Vom Eise befreit sind Strom
und Bäche
durch
des Frühlings holden, belebenden Blick;
das deutsche Volk zahlt des Krieges Zeche,
und
keiner bringt das Verlorene zurück.
Die
alten Monarchen, in ihrer Schwäche,
zogen
sich in die Versenkung zurück.
Von
dorther senden sie, fliehend nur,
ohnmächtige
Schauer körniger Reden.
Und
sie beschuldigen jeder jeden,
und
schütten Memoiren auf die Flur.
Überall
regt sich Gärung und Streben.
Alles
will sich mit Rot beleben.
Doch
an Blumen fehlts im Revier.
Nehmt
kompromittierte Führer dafür!
Kehre
dich um, von diesen Höhen
auf
das Land zurück zu sehen.
Aus
dem hohlen, finstern Tor
dringt
ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern:
die
Kriegsgesellschaft, der Stahlkonzern,
denn
sie sind wieder auferstanden
aus
Reklamierungs- und andern Banden,
aus
niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
aus
dem Druck von mitunter beschossenen Dächern,
aus
der Straßen quietschender Enge,
aus
der Kirchen ehrwürdiger Nacht
sind
sie wieder ans Licht gebracht.
Sieh
nur, sieh! wie behend sich die Menge
durch
die Dörfer zum Hamstern schlägt.
Mancher
bezieht manchmal etwas Senge,
weil
er zu wenig Geld hinlegt.
Hier
fühl ich wahrhaft mich erhoben:
Was
kümmert uns ein verlorener Krieg!
Amerikanisches
Mehl wird verschoben —
nur
der Schieber reitet den Sieg!
Hätten
wir nur genug zu essen,
war
das Alte mit Gunst vergessen;
Ludendorffen
entbieten wir Huld .. .
Keiner
ist schuld! Keiner ist schuld!
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
hier
ist des Volkes wahrer Himmel.
Zufrieden
jauchzt die Reaktion:
Keine
Angst! sie vergessen schon!
Wagner: Mit euch, Herr Doktor, zu
spazieren
ist
ehrenvoll und ist Gewinn;
Doch
würd ich nicht allein mich her verlieren,
weil
ich ein Feind von allem Rohen bin.
Das
Schreien und Sozialisieren
ist
mir ein gar verhaßter Klang;
das
will ja nur das Volk verführen —
uns
Reichen wird ganz angst und bang.
Wir
wollen wieder die alten Zeiten,
wir
wollen wieder die Menge leiten —
Zufrieden
jauchzt dann Groß und Klein:
Ich bin kein Mensch! Ich darfs nicht sein!
Kurt
Tucholsky (1919)