Ehrgeiz und Macht
«Dieser edle Begriff von Macht ist sehr weit von dem entfernt, den sich
die weltlichen Mächte von ihm machen. Denn wie es so in der menschlichen Natur
liegt, für das Böse mehr als für das Gute empfänglich zu sein, so glauben auch
die Großen, daß ihre Macht mehr in Ruinen als in Wohltaten zum Ausdruck kommt.
Daher Kriege, daher Gemetzel, daher die stolzen Unternehmungen dieser
Landräuber, die wir mit dem Namen Eroberer belegen. Diese Helden, diese Sieger,
mit allen ihren Verherrlichungen, sind auf der Erde nur dazu da, den Frieden
der Welt durch ihren maßlosen Ehrgeiz zu stören; so hat sie uns Gott in seinem
Zorn gesandt. Ihre Siege verbreiten Trauer und Verzweiflung unter den Witwen
und Waisen: sie frohlocken über den Untergang der Völker und die allgemeine
Verwüstung — und so lassen sie ihre Macht über uns scheinen.»
Quelle: Jacques Bénigne Bossuet – Auszug aus
dem Traktat « Sermon sur l’ambition » (« Abhandlung, den Ehrgeiz
betreffend ») aus dem Jahre 1661
Anmerkung: Bossuet (1627 – 1704) war lt.
BROCKHAUS (1960) französischer katholischer Kanzelredner und
Geschichtsschreiber und seit 1681 Bischof von Meaux. Bossuet war ein eifriger
Gegner der Protestanten, Jansenisten und Mystiker, vertrat aber die Freiheit
der Gallikanischen Kirche gegenüber dem Papst.
Der obige Abschnitt sollte ursprünglich –
anlässlich eines Nachdrucks in Brügge im Jahre 1915 - der Zensur durch die
deutsche Kommandantur zum Opfer fallen, wurde schließlich aber doch
freigegeben. Kurt Tucholsky, der den Zensurversuch 1924 anläßlich einer
Ausstellung in der Pariser National-Bibliothek entdeckte, merkte zutreffend an,
daß sich jene Stelle „260 Jahre erstaunlich frisch gehalten“ habe. Auch in den
weiteren 83 Jahren hat Bossuets Einschätzung nichts an Wahrheitsgehalt und
Aktualität verloren.