Der Untertan
Aber es wäre unnütz, euch zu raten. Die Geschlechter müssen vorübergehen, der Typus, den ihr darstellt, muß sich abnutzen: dieser widerwärtig interessante Typus des imperialistischen Untertanen, des Chauvinisten ohne Mitverantwortung, des in der Masse verschwindenden Machtanbeters, des Autoritätsgläubigen wider besseres Wissen und politischen Selbstkasteiers. Noch ist er nicht abgenutzt. Nach den Vätern, die sich zerrackerten und Hurra schrien, kommen Söhne mit Armbändern und Monokeln, ein Stand von formvollen Freigelassenen, der sehnsüchtig im Schatten des Adels lebt...
Heinrich Mann 1911
Dieses Buch Heinrich Manns,
heute, gottseidank, in aller Hände, ist das Herbarium des deutschen Mannes.
Hier ist er ganz: in seiner Sucht, zu befehlen und zu gehorchen, in seiner
Rohheit und in seiner Religiosität, in seiner Erfolganbeterei und in seiner namenlosen Zivilfeigheit.
Leider: es ist der deutsche Mann schlechthin gewesen; wer anders war, hatte
nichts zu sagen, hieß Vaterlandsverräter und war kaiserlicherseits angewiesen,
den Staub des Landes von den Pantoffeln zu schütteln.
Das
erstaunlichste an dem Buch ist sicherlich die Vorbemerkung: «Der Roman wurde
abgeschlossen Anfang Juli 1914.» Wenn ein Künstler dieses Ranges das schreibt,
ist es wahr: bei jedem andern würde man an Mystifikation denken, so
überraschend ist die Sehergabe, so haarscharf ist das Urteil, bestätigt von
der Geschichte, bestätigt von dem, was die Untertanen als allein maßgebend
betrachten: vom Erfolg. Und es muß immerhin bemerkt werden, daß die alten
Machthaber — ach, wären sie alt! — dieses Buch von ihrem Standpunkt aus mit
Recht verboten haben: denn es ist ein gefährliches Buch.
Ein
Stück Lebensgeschichte eines Deutschen wird aufgerollt: Diederich Heßling, Sohn
eines kleinen Papierfabrikanten, wächst auf, studiert und geht zu den
Korpsstudenten, dient und geht zu den Drückebergern, macht seinen Doktor,
übernimmt die väterliche Fabrik, heiratet reich und zeugt Kinder. Aber das ist
nicht nur Diederich Heßling oder ein Typ.
Das
ist der Kaiser, wie er leibte und lebte. Das ist die Inkarnation des deutschen
Machtgedankens, das ist einer der kleinen Könige, wie sie zu Hunderten und
Tausenden in Deutschland lebten und leben, getreu dem kaiserlichen Vorbild,
ganze Herrscherchen und ganze Untertanen.
Diese
Parallele mit dem Staatsoberhaupt ist erstaunlich durchgearbeitet. Diederich
Heßling gebraucht nicht nur dieselben Tropen und Ausdrücke, wenn er redet wie
sein kaiserliches Vorbild — am lustigsten einmal in der Antrittsrede zu den
Arbeitern («Leute! Da ihr meine Untergebenen seid, will ich euch nur sagen, daß
hier künftig forsch gearbeitet wird.» Und: «Mein Kurs ist der richtige, ich
führe euch herrlichen Tagen entgegen.») — er handelt auch im Sinne des
Gewaltigen, er beugt sich nach oben, wie der seinem Gotte, so er seinem
Regierungspräsidenten, und tritt nach unten.
Denn
diese beiden Charaktereigenschaften sind an Heßling, sind am Deutschen auf das
subtilste ausgebildet: sklavisches Unterordnungsgefühl und sklavisches
Herrschaftsgelüst. Er braucht Gewalten, Gewalten, denen er sich beugt, wie der
Naturmensch vor dem Gewitter, Gewalten, die er selbst zu erringen sucht, um
andere zu ducken. Er weiß: sie ducken sich, hat er erst einmal das <Amt>
verliehen bekommen und den Erfolg für sich. Nichts wird so respektiert wie der
Erfolg; einmal heißt es gradezu: «Er behandelte Magda mit Achtung, denn sie
hatte Erfolg gehabt.» Aber wie wird dieser Erfolg geachtet! Würde er es mit
nüchternem Tatsachensinn, so hätten wir den Amerikanismus, und das wäre nicht schön.
Aber er wird geachtet auf ganz verlogne Art: man schämt sich der alten
Vergangenheit und beschwört die alten Götter, die den wirklichen Dichtern und
Denkern von einst noch etwas bedeuteten, zitiert sie, legt Metaphysik in den
Erfolg und donnert voll Überzeugung: «Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!»
Und appelliert an keine höhere Instanz, weil man keine andre kennt.
Das
ganze bombastische und doch so kleine Wesen des kaiserlichen Deutschland wird
schonungslos in diesem Buch aufgerollt. Seine Sucht, Amüsiervergnügen an Stelle
der Freude zu setzen, seine Unfähigkeit, in der Gegenwart zu leben, ohne auf
die Lesebücher der Zukunft hinzuweisen, und seine Unfähigkeit, anders als nur
in der Gegenwart zu leben, seine Lust am rauschenden Gepränge — tiefer ist nie
die Popularität Wagners enthüllt worden als hier an einer <Lohengrin>-Aufführung,
die voll witziger Beziehungen zur deutschen Politik strotzt («denn hier
erscheinen ihm, in Text und Musik, alle nationalen Forderungen erfüllt.
Empörung war hier dasselbe wie Verbrechen, das Bestehende, Legitime ward
glanzvoll gefeiert, auf Adel und Gottesgnadentum höchster Wert gelegt, und das
Volk, ein von den Ereignissen ewig überraschter Chor, schlug sich willig gegen
die Feinde seiner Herren») —, und vor allem zeigt Heinrich Mann, wonach eben
das Buch seinen Namen führt: die Unfreiheit des Deutschen.
Die
alte Ordnung, die heute noch genau so besteht wie damals, nahm und gab dem
Deutschen: sie nahm ihm die persönliche Freiheit, und sie gab ihm Gewalt über
andere. Und sie ließen sich alle so willig beherrschen, wenn sie nur herrschen
durften! Sie durften. Der Schutzmann über den Passanten, der Unteroffizier
über den Rekruten, der Landrat über den Dörfler, der Gutsverwalter über den
Bauern, der Beamte über Leute, die sachlich mit ihm zu tun hatten. Und jeder
strebte nur immer danach, so ein Amt, so eine Stellung zu bekommen — hatte er
die, ergab sich das Übrige von selbst. Das Übrige war: sich ducken und regieren
und herrschen und befehlen.
Die
vollkommene Unfähigkeit, anders zu denken als in solchem Apparat, der weit
wichtiger war denn alles Leben, die Stupidität, zwischen Beamtenmißwirtschaft
und Anarchie nicht die einzig mögliche dritte Verfassung zu sehen, die es für
anständige Menschen gibt: sie bildet den Grundbaß des Buches. (Und offenbart
sie sich nicht heute wieder aufs herrlichste?) Sie können alle nur ihre Pflicht
tun, wenn man sie ducken und geduckt werden läßt; unzertrennlich erscheint Bildung
und Sklaventum, Besitz und Duodezregierung, bürgerliches Leben und Untergebene
und Vorgesetzte. Sie fassen es nicht, daß es wohl Leute geben mag, die sachlich
Weisungen erteilen, aber nimmermehr: Vorgesetzte; wohl Menschen, die für Geld
ausführen, was andre haben wollen, aber nimmermehr: Untergebene. Das Land war —
war. .. — ein einziger Kasernenhof.
Und
noch eins scheint mir in diesem Werk, das auch noch die kleinen und kleinsten
Züge der Hurramiene mit dem aufgebürsteten Katerschnurrbart eingefangen hat,
auf das glücklichste dargestellt zu sein: das Rätsel der Kollektivität. Was der
Jurist Otto Gierke einst die reale Verbandspersönlichkeit benannte, diese
Erscheinung, daß ein Verein nicht die Summe seiner Mitglieder ist, sondern
mehr, sondern etwas andres, über ihnen Schwebendes: das ist hier in nuce
aufgemalt und dargetan. Neuteutonen und Soldaten und Juristen und schließlich
Deutsche — es sind alles Kollektivitäten, die den einzelnen von jeder Verantwortung
frei machen, und denen anzugehören Ruhm und Ehre einbringt, Achtung erheischt
und kein Verdienst beansprucht. Man ist es eben, und damit fertig. Der
Musketier Lyck, der den Arbeiter erschießt — historisch — und dafür Gefreiter
wird; der Bürger Heßling, der — nicht historisch, aber mehr als das: typisch —
alle andersgearteten wie Wilde ansieht: sie sind Sklaven der rätselvollen
Kollektivität, die diesem Lande und dieser Zeit so unendlich Schmachvolles
aufgebürdet hat. «Dem Europäer ist nicht wohl, wenn ihm nicht etwas voranweht»,
hat Meyrink mal gesagt. Es wehte ihnen allen etwas voran, und sie schwören auf
die Fahne.
Kleine
und kleinste Züge belustigen, böse Blinkfeuer der Erotik blitzen auf, der Kampf
der Geschlechter in Flanell und möblierten Zimmern ist hier ein Guerillakrieg,
es wird mit vergifteten Pfeilen geschossen, und es ist bitterlich spaßig, wie
Liebe schließlich zum legitimen Geschlechtsgenuß wird. Eine bunte Fülle Leben
zieht vorbei, und alles ist auf die letzte Formulierung gebracht, und alles ist
typisch, alles ein für alle Mal. Die alte Forderung ist ganz erfüllt: «Wenn nun
gleich der Dichter uns immer nur das einzelne, individuelle vorführt, so ist,
was er erkannte und uns dadurch erkennen lassen will, doch die Idee, die ganze
Gattung.» Leider: so ist die ganze Gattung.
Aus
kleinen Ereignissen wird die letzte Enthüllung des deutschen Seelenzustandes:
am fünfundzwanzigsten Februar 1892 demonstrierten die Arbeitslosen vor dem
Königlichen Schloß in Berlin, und daraus wird in dem Buch eine grandiose Szene
mit dem opernhaften Kaiser als Mittelstaffage, einer begeisterten Menge Volks
und in ihnen, unter ihnen und ganz mit ihnen: Heßling, der Deutsche, der
Claqueur, der junge Mann, der das staatserhaltende liebt, der Untertan.
Und
aus all dem Tohuwabohu, aus dem Gewirr der spießigen Kleinstadt, aus den
Klatschprozessen und aus den Schiebungen — man sagt: Verordnungen; und meint:
Grundstücksspekulation —, aus lächerlichen Ehrenkodexen und simpeln Gaunereien
strahlt die Figur des alten Buck. Man muß so hassen können wie Mann, um so
lieben zu können. Der alte Buck ist ein alter Achtundvierziger, ein Mann von damals,
wo man die heute geschmähten Ideale hatte, sie zwar nicht verwirklichte,
schlecht verwirklichte, verworren war — gewiß, aber es waren doch Ideale. Wie schön
ist das, wenn der alte Mann dem neuen Heßling sein altes Gedichtbuch in die
Hand drückt: «Da, nehmen Sie! Es sind meine <Sturmglocken>! Man
war auch Dichter — damals!» Die von heute sinds nicht mehr. Sie sind
Realpolitiker, verlachen den Idealisten, weil er — scheinbar — nichts
erreicht, und wissen nicht, daß sie ihre kümmerlichen kleinen Erfolge neben den
charakterlosen Pakten jenen verdanken, die einst wahr gewesen sind und
unerschütterlich.
Und
das Buch <Der Untertan> (erschienen bei Kurt Wolff in Leipzig)
zeigt uns wieder, daß wir auf dem rechten Wege sind, und bestätigt uns, daß
Liebe, die nach außen in Haß umschlagen kann, das einzige ist, um in diesem
Volke durchzudringen, um diesem Volke zu helfen, um endlich, endlich einmal die
Farben Schwarz-Weiß-Rot, in die sie sich verrannt haben wie die Stiere, von dem
Deutschland abzutrennen, das wir lieben, und das die Besten aller Alter geliebt
haben. Es ist ja nicht wahr, daß versipptes Cliquentum und gehorsame Lügner
ewig und untrennbar mit unserm Lande verknüpft sein müssen. Beschimpfen wir
die, loben wir doch das andre Deutschland; lästern wir die, beseelt uns doch
die Liebe zum Deutschen. Allerdings: nicht zu diesem Deutschen da. Nicht zu
dem Burschen, der untertänig und respektvoll nach oben himmelt und
niederträchtig und geschwollen nach unten tritt, der Radfahrer des lieben
Gottes, eine entartete species der gens humana.
Weil
aber Heinrich Mann der erste deutsche Literat ist, der dem Geist eine entscheidende
und mitbestimmende Stellung fern aller Literatur eingeräumt hat, grüßen wir
ihn. Und wissen wohl, daß diese wenigen Zeilen seine künstlerische Größe nicht
ausgeschöpft haben, nicht die Kraft seiner Darstellung und nicht das seltsame
Rätsel seines gemischten Blutes.
So
wollen wir kämpfen. Nicht gegen die Herrscher, die es immer geben wird, nicht
gegen Menschen, die Verordnungen für andre machen, Lasten den andern aufbürden
und Arbeit den andern. Wir wollen ihnen die entziehen, auf deren Rücken
sie tanzten, die, die stumpfsinnig und immer zufrieden das Unheil dieses
Landes verschuldet haben, die, die wir den Staub der Heimat von den
beblümten Pantoffeln gerne schütteln sähen: die Untertanen!
Quelle: Kurt Tucholsky im Jahre 1919