Von Kurt Tucholsky

 

0 hochverehrtes Publikum,

sag mal: bist du wirklich so dumm,

wie uns das an all den Tagen

alle Unternehmer sagen?

Jeder Direktor mit dickem Popo

spricht: "Das Publikum will es so!"

Jeder Filmfritze sagt: Was soll ich machen?

Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!"

Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:

"Gute Bücher gehen eben nicht!"

Sag mal, verehrtes Publikum:

bist du wirklich so dumm?

 

So dumm, dass in Zeitungen, früh und spät,

immer weniger zu lesen steht?

Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;

aus lauter Angst, es sollte niemand verhetzt sein;

aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn

könnten mit Abbestellung drohn?

Aus Bangigkeit, es käme am Ende

einer der zahllosen Reichsverbände

und protestierte und denunzierte

und demonstrierte und prozessierte ...

Sag mal, verehrtes Publikum:

bist du wirklich so dumm?

 

Ja, doch ...

Es lastet auf dieser Zeit

der Fluch der Mittelmäßigkeit.

Hast du so einen schwachen Magen?

Kannst du keine Wahrheit vertragen?

Bist also nur ein Grießbreifresser ‑ ?

Ja, dann ...

Ja, dann verdienst du's nicht besser.

 

Die von dem vorangegangenen Bürgermeister Michael Bouteiller ins Leben gerufene "Lübecker Stadtzeitung" veröffentlichten dieses vortreffliche Gedicht in der Ausgabe vom 19.4.2005 mit dem durchaus zutreffenden Hinweis, daß Tucholskys Werke auch nach einem Dreivierteljahrhundert immer noch ins Mark des Landes und der Nachgeborenen treffen. Wir werden allerdings den Verdacht nicht los, hier könnten sich einige Lübecker Journalisten der System-Presse einen "Persilschein" ausstellen.