Laudatio für Thomas Dersee

 

Internationale Werbeagentur der Atomwirtschaft hält einen Tschernobyl-Unfall
pro Jahr für vertretbar

“Angesichts der großen Bedeutung der Kernenergie für die Energiewirtschaft
und der vernachlässigbaren Folgen des Unfalls in Tschernobyl könnte sich die
Welt einen solchen Unfall pro Jahr leisten.”
Hans Blix (Schweden) als Generalsekretär der IAEA

---
Laudatio für Thomas Dersee

anlässlich der Verleihung des Umweltpreises für JournalistInnen
am Freitag, den 28. April 2006, in Berlin

 

Sehr geehrter Herr Schumacher
sehr verehrte Frau Haack, sehr geehrter Herr Dersee,
Meine Damen und Herren,

Als ich vor einiger Zeit vom Geschäftsführer der Deutschen Umwelt-Stiftung
gefragt wurde, ob ich für die Auszeichnung von Herrn Dersee mit dem Preis
der Deutschen Umweltstiftung die Laudatio übernehmen könnte, sagte ich gerne
zu, galt es doch, einen Menschen zu ehren, der durch seine Tätigkeit immer
wieder Mut bewiesen und Zivilcourage gezeigt hat und zurecht heute mit dem
Umwelt Preis geehrt wird.

Wer ist Thomas Dersee?

Thomas Dersee studierte zunächst von 1965 bis 1968 an der Staatlichen
Ingenieurakademie klassischen Maschinenbau, das hieß damals viel Physik,
Mathematik und Apparatebau. Er schloss dieses Studium hervorragend mit dem
Titel Ingenieur an einer Fachhochschule ab und erwarb die Berechtigung zu
einem Fachstudium an der Universität.

1969 begann er konsequenter Weise das Ingenieurstudium an der Technischen
Universität in Berlin im Fach Theoretischen Maschinenbau und beendete es1977
erfolgreich mit dem Titel Diplom-Ingenieur.

Es folgten einige Semester als wissenschaftlicher Mitarbeiter und  Assistent
am Institut für Mechanik. Doch Maschinenbau als Lebensaufgabe befriedigte
ihn nicht vollständig und da er nun die allgemeine Hochschulreife besaß,
begann er 1977 mit dem Studium der Humanmedizin an der Freien Universität in
Berlin. Wie er mir kürzlich mitteilte, war er bis zum schriftlichen Teil des
dritten Staatsexamens inklusive Praktisches Jahr (PJ) gediehen, aber nicht
durch die mündliche Schlussprüfung gekommen. Herr Dersee sagte mir ein
Prüfer habe sich gewundert, wie er denn sprechen würde, was ihn heute noch
wundere. (Mich übrigens auch, wenn ich an seinen gekonnten Umgang mit der
deutschen Sprache in Wort und Schrift denke).

Er hatte sich während des Medizinstudiums auch anderen Aufgaben gewidmet und
engagierte sich unter anderem bei der Planung und Durchführung der
Gesundheitstage in Berlin 1980 und Hamburg 1981, eine jährliche
Veranstaltung, die von den Initiatoren, unter ihnen auch Ellis Huber, der
spätere Präsident der Berliner Ärztekammer, als Gegenpol zu den von der
Pharmaindustrie und den Medizintechnik-Industrien gesponserten deutschen
Ärztekongressen konzipiert war.   
An den Gesundheitstagen nahmen jeweils mehrere Tausend im Gesundheitswesen
tätige Personen teil.

1981 ist Herr Dersee  Mitbegründer der Verlagsgesellschaft Gesundheit mbH.
Erste publizistische Arbeiten stammen aus dieser Zeit.

Herr Dersee hat sich seit den frühen 80er Jahren auch für Darstellende Kunst
interessiert und selbst immer wieder unter Verwendung verschiedener
Techniken Bilder gemalt, die in seinem neuen Heim in Berlin-Schöneiche zu
bewundern sind.
Von 1982 bis 2001 ist Herr Dersee Geschäftsführer der Fraktion Gesundheit in
der Ärztekammer Berlin.
Dann kommt das Jahr 1986. Eine noch im Jahr 1984 in der Zeitschrift
Atompraxis beschriebene Reaktoranlage, der man hohen technischen Standard
und große Betriebssicherheit bescheinigte und deren Besonderheit es war,
dass Brennelemente bei vollem Betrieb ausgetauscht werden konnten, geriet in
der Nacht zum 24. April durch einen einfachen menschlichen Fehler in einen
nicht mehr steuerbaren Zustand. Es kam zu einer Leistungsexkursion, wie es
damals euphemistisch hieß. Der Reaktorkern zerschmolz in Sekundenschnelle
und explodierte. Die Folgen waren katastrophal. Einen vergleichbaren Unfall
in einem großen Leistungsreaktor hatte es zuvor nicht gegeben. Gewaltige
Mengen des radioaktiven Inventars der Reaktoranlage gelangten an die Umwelt
und wurden in große Höhen verwirbelt und schließlich in sehr komplizierten
Mustern über die nördliche Hemisphäre verteilt.

Auch in Westdeutschland traf uns die Nachricht vom Reaktorunfall in
Tschernobyl völlig unvorbereitet.  Experten der Strahlenschutzkommission und
vor allem die führenden Politiker äußerten sich sehr unterschiedlich zu den
spärlichen Nachrichten aus der Ukraine. Die deutsche Öffentlichkeit war tief
verunsichert und suchte nach verlässlichen und glaubwürdigen Antworten auf
ihre Fragen.  Das tut sie auch noch heute, 20 Jahre nach der Katastrophe.

In der damaligen Situation hat Thomas Dersee, und das ist sein großes
Verdienst, ein Informationsnetzwerk zusammen mit unabhängigen Physikern und
Technikern aufgebaut, das Messungen der radioaktiven Belastung von Luft,
Niederschlag und Bodenproben machte und Lebensmittel, Milch und
Milchprodukte, Gemüse und Obst auf Radioaktivität untersuchte. Die
Ergebnisse wurden in einem schnellen Rundbrief dem “Strahlentelex“ der
interessierten Bevölkerung mitgeteilt.

Diese Warentest ähnlichen Informationen waren objektiv und unabhängig. Sie
bedeuteten eine große Hilfe für die Bevölkerung und dienten der Verminderung
oder Vermeidung unnötiger radioaktiver Belastungen.

Da praktisch alle gängigen Produkte der Lebensmittelindustrie getestet
wurden, waren die Messungen auch für die Hersteller ein Anreiz, nicht
kontaminierte Waren zu produzieren.

Doch das Interessenfeld des Strahlentelex blieb nicht auf die
Veröffentlichung von Radioaktivitätsmessungen beschränkt, es erweiterte sich
zusehends zu einem Forum der kritischen Auseinandersetzung mit allen Fragen
des Strahlenschutzes, mit der zivilen und militärischen Verwendung der
Atomenergie,  mit dem Einsatz von Strahlung und Radioisotopen in dem
Medizin, Forschung und Technik.
Herr Dersee hat in vielen Kommentaren zu umstrittenen Fragen wie Sinn und
Unsinn einer allgemeinen Mammographie aller Frauen über 50,
Gesundheitsfolgen des Einsatzes von Uranmunition, Novellierung der
Strahlenschutzverordnung, Kinderleukämie in England, Transport
hochradioaktiver Abfälle, Radonstrahlung und Lungenkrebs  Stellung bezogen.
 Um nur einige Themen herauszugreifen.
Das Strahlentelex hat immer wieder  Fragen des Strahlenschutzes, die
Veröffentlichungen der Deutschen Strahlenschutz Kommission, und die Probleme
der Sanierung der Hinterlassenschaft des Uranabbaus in Thüringen und Sachsen
thematisiert. Die Herausgeber des Strahlentelex haben über wissenschaftliche
Tagungen berichtet, bei denen es um das Strahlenrisiko und neue Erkenntnisse
der Strahlenwirkung im Bereich kleinster und kleiner Strahlendosen ging.

Meistens waren die Darstellungen, die man im Strahlentelex lesen konnte,
nicht deckungsgleich mit den entsprechenden Bewertungen der
Strahlenschutzkommission, wen wundert das!

Ein Beispiel ist die Novellierung der Strahlenschutzverordnung, bei der die
SSK neue und neueste Wissenschaftliche Erkenntnisse nicht einbezieht, das
Strahlentelex aber in mehreren Ausgaben die Novellierung sehr kritisch
kommentiert und dabei auf Versäumnisse hinweist.

Es ergab sich, dass ich zu dieser Zeit stellvertretender Vorsitzender der
SSK war und die Auseinandersetzung von mehreren Seiten mitbekommen habe.
Die Mitglieder der SSK und die Experten des Umweltministeriums haben
selbstverständlich das Strahlentelex aufmerksam gelesen, in den Sitzungen
der SSK wurden aber keine ernsthaften Diskussionen geführt und auch keine
Entgegnungen erwogen.
Es ist der SSK eigentlich nie gelungen in einen Diskurs mit den
Wissenschaftlern zu treten, die zur Opposition bezüglich wissenschaftlicher
Beurteilung des Strahlenrisikos gehörten. Ich habe das wiederholt erfolglos
als Vorsitzender des Risikoausschusses versucht.

Es gehört zu den ausgemachten Verdiensten des zu Ehrenden, dass er seit
nunmehr 20 Jahren das Strahlentelex herausgibt und nicht müde wird, die
verantwortlichen Strahlenschützer auf ihre Versäumnisse hinzuweisen und der
Öffentlichkeit neue Erkenntnisse zum Strahlenrisiko und Trends in der
Strahlenforschung mitteilt.

Das ist heute praktisch zum 20. Jahrestag des Unfalls in der Ukraine
besonders wichtig. All zu leicht gerät diese Katastrophe in Vergessenheit,
zumal die WHO in Verbindung mit der IAEA die Unfallfolgen in
unverantwortlicher Weise herunterspielt und der ehemalige Direktor der IAEA,
Herr Blix, die Lage wie folgt beurteilt:

“Angesichts der großen Bedeutung der Kernenergie für die Energiewirtschaft
und der vernachlässigbaren Folgen des Unfalls in Tschernobyl könnte sich die
Welt einen solchen Unfall pro Jahr leisten.”

Es ist geradezu notwendig bei solch zynischen Behauptungen seine Stimme zu
erheben und mit den wahren Folgen der Reaktorkatastrophe dagegen zu halten.
Herr Dersee hat das gerade wieder mit der Tagung der GSS In Berlin getan.
Ich wünschte mir, dass sein Verhalten noch mehr Nachahmer findet.  

Besondere Erwähnung verdient die Tatsache, dass das Strahlentelex bisher
ohne Fremdwerbung und damit ohne Einflussnahme ausgekommen ist. Für mich ein
Zeichen von Qualität.

Es ist wichtig, dass es unabhängigen Journalismus gerade auch auf dem so
hoch politischen Gebiet der Strahlenwirkung gibt, denn eng damit ist unsere
Zukunft bezüglich der Energieversorgung verbunden. Herr Dersee hat mit dem
Strahlentelex bewiesen, dass unabhängiger Journalismus möglich ist. Dafür
gebührt ihm mein ganz persönlicher Dank. Ich gratuliere ihm zur Verleihung
des Umweltpreises.

Ich danke Ihnen.
Prof. Dr. Wolfgang Köhnlein

Quelle:
http://www.deutscheumweltstiftung.de/aktuell/jp-verleihung.htm