Der Tod des Sokrates

 

Platon (übersetzt von Friedrich Schleiermacher)

 

Sokrates nahm Abschied von den Freunden und ging in ein Gemach, um zu baden, und Kriton begleitete ihn; uns aber hieß er dableiben. Wir blieben also und redeten untereinander über das Gesagte und überdachten es wieder; dann aber auch wieder über das Unglück klagend, das uns nun getroffen hatte, ganz darüber einig, daß wir nun, gleichsam des Vaters be­raubt, als Waisen das übrige Leben hinbringen würden. Nachdem er nun gebadet und man seine Kinder zu ihm gebracht hatte — er hatte nämlich zwei kleine Söhnlein und einen größern — und die ihm befreundeten Frauen gekommen waren, sprach er mit ihnen in Kritons Beisein, und nach­dem er ihnen aufgetragen, was er wollte, hieß er die Weiber und Kinder wieder gehen; er aber kam zu uns. Und es war schon nahe dem Untergange der Sonne; denn er war lange drinnen geblieben.

Und als er aus dem Bade gekommen, setzte er sich und hatte noch nicht viel seitdem gesprochen, da kam der Diener der Elfmänner, stellte sich zu ihm und sagte: „Sokrates, über dich werde ich mich nicht zu beklagen haben wie über andere, daß sie mir böse sind und mir fluchen, wenn ich ihnen ansage, das Gift zu trinken auf Befehl der Oberen. Dich aber habe ich auch sonst schon in dieser Zeit als den Edelsten, Sanftmütigsten und Trefflichsten von allen erkannt, die sich jemals hier befunden haben, und auch jetzt weiß ich sicher, daß du mir nicht böse sein wirst; denn du weißt wohl, wer schuld daran ist. Nun also, du weißt ja, was ich dir anzusagen gekommen bin. Lebe wohl und suche so leicht als möglich zu tragen, was nicht zu ändern ist!“ Da weinte er, wendete sich um und ging. — Darauf sah Sokrates ihm nach und sprach: „Auch du lebe wohl, und auch wir wollen so tun!“ Und zu uns sagte er: „Wie fein doch dieser Mensch ist! So ist er die ganze Zeit mit mir umgegangen, hat sich bisweilen mit mir unterredet und war der beste Mensch; und nun wie aufrichtig beweint er mich! Aber wohlan denn, Kriton, laßt uns ihm gehorchen, und bringe einer den Gifttrank, wenn er schon gerieben ist; wo nicht, so soll ihn jener reiben!“

Kriton. „Aber mich dünkt, Sokrates, die Sonne scheint noch an die Berge und ist noch nicht untergegangen. Und ich weiß, daß auch andere erst ganz spät getrunken haben, nachdem es ihnen angesagt worden, und sie haben noch gut gegessen und getrunken, ja einige haben gar noch ihre Freunde zu sich kommen lassen, nach denen sie Verlangen hatten.“

Sokrates. „Ganz recht, lieber Kriton, hatten jene, so zu tun, wie du sagst; denn sie meinten, etwas zu gewinnen, wenn sie so täten; und ganz recht habe auch ich, nicht so zu tun, — denn ich meine, nichts zu gewinnen, wenn ich um ein weniges später trinke, als nur, daß ich mir selbst lächer­lich vorkommen würde, wenn ich so am Leben klebte und sparen wollte, wo nichts mehr ist. Also geh, folge mir und tue nichts anderes!“

Darauf winkte denn Kriton dem Knaben, der ihm zunächst stand, und der Knabe ging hinaus, und nachdem er eine ganze Zeit weggeblieben war, führte er endlich den Diener herein, der ihm den Trank reichen sollte, den er  schon zubereitet im Becher brachte. — Als nun  Sokrates  den  Men­schen sah, sprach er: „Nun, mein Bester, du verstehst es ja, wie muß man es machen?“ — „Nichts weiter“, sagte jener, „als, wenn du getrunken hast, herumgehen, so lange bis dir die Schenkel schwer werden, und dann dich niederlegen, dann wird es schon wirken.“ Damit reichte er dem Sokrates den Becher, und dieser nahm ihn, und ganz getrost, ohne im geringsten zu zittern oder Farbe und Gesichtszüge zu verändern, sondern, wie er sonst pflegte, ganz gerade den Menschen ansehend, fragte er ihn: „Was meinst du, darf man von diesem Trank jemandem eine Spende weihen? Darf man eine machen oder nicht?“ — „Wir bereiten eben nur so viel, Sokrates“, ant­wortete jener, „als wir glauben, daß hinreichend sein wird.“ — „Ich ver­stehe“, sagte Sokrates.  „Beten aber darf man doch zu den Göttern, und man muß es ja, daß die Wanderung von hier dorthin glücklich sein möge, weshalb denn auch ich hiermit bete. Und so möge es geschehen!“  Und wie er dies gesagt, setzte er an, und ganz frisch und unverdrossen trank er aus. Und von uns waren die meisten bis dahin ziemlich imstande gewesen, sich zu beherrschen, daß sie nicht weinten; als wir aber sahen, daß er trank und schon getrunken hatte, da — nicht mehr. Und auch mir selbst flössen die Tränen mit Gewalt, und nicht nur tropfenweise,  so  daß  ich mich verhüllen mußte und mich ausweinen, nicht über ihn jedoch, sondern über mein eigenes Schicksal, daß ich nun eines solchen Freundes beraubt werden sollte. Kriton war noch eher als ich aufgestanden, weil er nicht vermochte,   die   Tränen   zurückzuhalten.   Apollodoros   aber   hatte   schon früher nicht aufgehört zu weinen, und nun brach er völlig aus, weinend und unwillig sich gebärdend, und es war keiner von allen Anwesenden, den er nicht durch sein Weinen erschüttert hätte, außer Sokrates selbst; der aber sagte:  „Was macht ihr doch, ihr wunderlichen Leute!  Ich habe vorzüglich deswegen die Weiber weggeschickt, damit sie dergleichen nicht tun möchten; denn ich habe immer gehört, man müsse unter guten Zeichen sterben. Also haltet euch still und standhaft!“ Als wir das hörten, schämten wir uns und hielten inne mit Weinen. Er aber ging umher,  und als er merkte, daß ihm die Schenkel schwer wurden, legte er sich gerade hin auf den Rücken; denn so halte es ihn jener Mensch geheißen. Darauf berührte ihn dieser, der ihm das Gift gegeben hatte,  von Zeit zu Zeit und untersuchte seine Füße und Schenkel. Dann drückte er ihm den Fuß stark und fragte, ob er es fühle; er sagte: „Nein.“ Und darauf die Knie, und so ging er immer höher hinauf und zeigte uns, wie er allmählich erkaltete und er­starrte. Darauf berührte er ihn noch einmal und sagte, wenn es ihm bis ans Herz komme, dann werde er tot sein. Nun war ihm schon fast alles um den Unterleib her kalt, da enthüllte er sich noch einmal — denn er lag ver­hüllt — und sagte — das waren seine letzten Worte: „Oh, Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, entrichtet ihm den und versäumt es ja nicht!“ — „Das soll geschehen“, sagte Kriton, „sieh' aber zu, ob du noch sonst etwas zu sagen hast.“ Als Kriton dies fragte, antwortete er aber nicht mehr, sondern bald darauf zuckte er, und der Diener deckte ihn auf: da waren seine Augen gebrochen. Als Kriton das sah, schloß er ihm den Mund und die Augen.

 

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Platons Bild war im vorigen Jahrhundert (im 19. Jahrhundert) bestimmt als das des Gründers der Begriffswissenschaft, wenn daneben auch der Dichter unsterblicher Mythen, der Theoretiker der Staatslehre nicht ganz vergessen wurde. Aber seine eigene politische Tätigkeit wurde als Entgleisung eines Gelehrten be­mitleidet, ja man sah in ihm und in Sokrates die schlechten Bürger, die sich nicht kritiklos dem zufälligen Zustande des Bürgertums anpaßten. Nur eines sah man nicht: daß sich aus solcher Verworrenheit nicht das Bild der großen antiken Persönlichkeit erheben könnte. Es war das geschichtliche Verhängnis, daß schon der berufene Platonschüler Aristote­les in seiner politisch bedingten Resignation — nach dem Verlust der griechischen Freiheit — auf das Vorbild des Platonischen Philosophenkönigs, und überhaupt des leiten­den Staatsmannes der Polis verzichten mußte und statt des­sen das Ideal des bloß forschenden Gelehrten als Vorkämp­fer der alexandrinischen Gelehrsamkeit vorbereitete, obwohl er selbst noch der große Platonische Metaphysiker blieb.

Wie schwer ist es, dies Bild Platons, das die von Aristote­les beherrschte Wissenschaft gefestigt hat, zu berichtigen. Wenn uns (nach Goethes Ausdruck) obliegt, die Geistes­geschichte „umzuschreiben“, müssen wir die Größe von Pla­tons Werk interpretieren aus seiner persönlichen Seinshöhe und ihrer schicksalhaften Auswirkung auf dem Boden Athens und Siziliens — aus seinem geschichtlichen Augenblick. Dei Eingang zu ihm ist dies Werk, Sokrates' Verteidigungsrede. Platons Werke heißen Dialoge. Oft sind sie echte Ge­spräche, in denen sich Begriffe, zuletzt eine Idee entfaltet — überwiegend sind sie eher Lehrvorträge. Aber die „Apolo­gie“ ist echte öffentliche Rede auf dem Markt vor dem Volksgericht. Richtiger sind es drei Reden: eine die Vertei­digung gegen die Anklage, die zweite der ihm auferlegte Strafantrag, nachdem er schuldig gesprochen ist, die dritte die Abschiedsworte des zum Tode Verurteilten. Diese drei Reden stehen ohne umgreifende Erzählung wie drei Denk­tafeln nebeneinander. Sie dürfen wohl als wichtigste Quelle für den historischen Sokrates gelten. Doch scheinen sich bei Platon, auch ohne jede Deutung, die Rollen zu tauschen: Sokrates hält Gericht über Athen — eine Stunde des Welt­gerichtes.

Ein solcher Ton der Rede darf mythisch genannt werden. Zwar denkt man bei dem Wort Mythos gern an die Urzeit, an die vorwissenschaftliche Erkenntnis, in der die Urformen von Religion, Dichtung, Philosophie noch ungesondert sind. Aber an bloße „Märchen“ glaubt Platon, der Schüler der Sophisten, der von Sokrates Erweckte, nicht mehr, wie sein „Gorgias“ zeigt: der Philosoph muß aus der „Mythologie“ den Ewigen Mythos erst herausschälen. Nach der rationalen Aufklärung vollzieht sich in Platon die Geburt eines Neuen Mythos. Was er selbst erlebte, was Lehrer und Freunde erlebt hatten, Ereignisse von hohem historischem Range, konnte er, wenn er Ewigkeitswert in ihnen sah, zugleich als Mythos erleben.

 

Einige Literaturhinweise:

Heinrich Friedemann, „Platon. Seine Gestalt“, Berlin 1914 und 1931

Wilamowitz, „Platon“, Berlin 1919; 2 Bände

Wilhelm Andreae, Ein­leitungen zu „Platons Staatsschriften“ und Erg. zum „Staat“, Jena 1925—27

Kurt Singer, „Platon der Gründer“, Mün­chen 1927.

Karl Reinhardt, „Platons Mythen“, Bonn 1927.

Paul Friedländer, „Platon“, Berlin 1927 und 1954, 2 Bände.

Kurt Hildebrandt, „Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht“, Berlin 1933

 

Quelle: „Apologie / Kriton“, Platon, übertragen, eingeleitet und herausgegeben von Kurt Hildebrandt, Stuttgart 1963,    S. 3 f + 73