Liberale Wirtschaftslehre - Warnung vor Neoliberalismus

 

Karl von Vogelsang hat die heutige Entwicklung, die Methoden des Kapitals und ihre Ursachen bereits vor hundert Jahren mit unübertrefflichem Scharfblick gesehen und für heute wie für seine Zeit gültig formuliert. Einhundert Jahre, 36.500 Tage haben inzwischen bewiesen, daß Vogelsang ‑ im Gegensatz zu den unzähligen hochgelobten "Weisen" dieser Zeit ‑ Recht hatte. Die Wiener Zeitschrift "Das Neue Volk" zitiert im Dezember 1992 Vogelsang:

 

"Die liberale Wirtschaftslehre, welche den Freihandel mit Waren zum Prinzip erhoben hat, verteidigt auch den von ihr hervorgerufenen Freihandel mit Arbeit, oder ‑ da die Arbeit von dem Arbeiter nicht getrennt werden kann ‑ den Freihandel mit Menschen. Es kümmert sie wenig, wenn das eigene Volk dadurch hart bedrängt wird, geradeso wie es ihr gleichgültig war, als bei uns die wichtigsten Berufsstände zugrundegingen, infolge der freien Einfuhr fremder, billiger Arbeitsprodukte. Das herrschende kapitalistische System stellt die möglich billigste Produktion, den möglich höchsten Reinertrag als erste Forderung einer vernunftsgemäßen Wirtschaftslehre auf; man bezieht also die Rohprodukte oder die Halbfabrikate, die Arbeitskräfte von da, wo sie am billigsten zu bekommen sind. Wir sehen daher eine immer wachsende Verschiebung der Nationalitätsverhältnisse sich vollziehen: der niedere Standard of comfort verdrängt den höheren, das heißt die niedere Kulturstufe verdrängt die höhere."

 

"Es ist das eine Völkerwanderung nach dem umgekehrten Prinzip des Darwinismus. In dem jetzigen Kampfe um das Dasein, den der Kapitalismus heraufbeschworen hat, geht das niedriger veranlagte Individuum als Sieger hervor, nicht das stärkere. Es ist das ganz natürlich, denn das erste akkomodiert sich leichter dem ehernen Lohngesetze und seinen degenerierenden Folgen. Einst verdrängten die zahlreichen, stärkeren, mutigsten Völker die Schwächeren und entnervteren. Jetzt, unter der Herrschaft des Kapitalismus, verdrängen diejenigen Nationalitäten, welche sich am widerstandslosesten den ausbeuterischen Gesetzen des Kapitalismus unterwerfen, diejenigen, welche sich dieser Unterwerfung nicht fügen wollen. So fließt diese aufgelöste Welle durcheinander, so verdrängt der Bedürfnislosere jenen, der ein geordnetes Kulturleben gewöhnt ist."

 

"Noch ist es der liberalen Geldwirtschaft, welche die höheren Organisationen des Staates und der Gesellschaft aufgelöst hat, nicht gelungen, die in der Sitte festgewurzelten niederen Organisationen ebenfalls geistig ganz zu zersetzen und die Umwandlung des Volkes in eine Pöbelmasse, in eine zusammenhanglose Sanddüne zu vollenden."

 

"Die Auflösung der Gesellschaft zugunsten der modernen Industrie ist die Ursache des riesig angewachsenen Vagabundentums. Ein spekulativer Industrieller, der sich im Besitze irgendeines Vorteils über seine Konkurrenten weiß, oder glaubt, beruft Arbeitskräfte aus allen Gegenden, wo sie billig und brauchbar zu haben sind."

 

"Es ist eine Eigentümlichkeit des liberalen Systems, das Zusammengehörige zu trennen, das Disparate zusammenzufügen. So wirft man alle Klassen, Rassen, Beschäftigungen zu einem unterschiedslosen Gleichheitsbrei zusammen und begründet mit der Behauptung, daß dies demokratisch sei, die Herrschaft der Geldreichen."

 

Man ist auch "links" nicht sehr zufrieden mit dem Sieg des Neoliberalismus. Zwei Stimmen sollen da zu Worte kommen:

 

"Die Seiten der Zeitungen, in denen man sich über die Sorgen der Intellektuellen breit macht, scheinen eine einzige Klagemauer zu sein, an der sich tausende von Philosophen, Schriftstellern, Filmschauspielern und Künstlern die Köpfe zerschlagen, alle jene, die vor 1989 im Glauben an die Regenerierung der Welt im Feuer der Revolution lebten. In einer Mischung von Arroganz und Selbstbemitleidung nehmen sie für sich das Recht in Anspruch, träumen zu dürfen, und nennen elende Wichte ohne Vorstellungsvermögen, die nicht mehr ihre Spinnereien teilen. Alle zahlreichen Gebrechen der westlichen Gesellschaft kreiden sie dem Neoliberalismus an und behaupten mit großer Zufriedenheit, daß er bald schon den gleichen Weg gehen wird wie der Kommunismus. Das heißt, nicht anders als Adolf Hitler und Fidel Castro ziehen sie die Apokalypse dem moralischen Triumph ihrer Feinde vor. Nicht alle aber frönen diesem absoluten Pessimismus. Einige hoffen, mit einer 'Alternative' könnte man der abscheulichen neoliberalen Nacht entweichen. Doch, so viel sie überall suchen, sie finden keine. Sie meinen, die Menschheit braucht eine 'neue Religion'. Jene Individuen, die wegen des vermeintlichen Hinscheidens einer Utopie - das heißt, einer Hypothese, die sich als illusorisch erwies ‑ Trauer tragen, scheinen heute zu glauben, daß sie nicht mehr mitmachen können, solange der Planet nicht völlig anders geworden ist." (James Neilson in "Rio Negro" - Argentinien - vom 29.1.1993)


 

Und gleich in der gleichen Zeitung ein etwas linkisch wirkender Versuch, dem Gang der Ereignisse doch etwas Positives abzugewinnen.

 

"1993 (Maastricht) hat 1848 nur deswegen beerdigt, weil es sein Vermächtnis aufgreifen konnte. Wo ein Ende ist, ist auch ein Beginn, und das Europa von heute ist gekommen, um dem besten Erbgut von 1848 ein Weiterleben zu schaffen: politische Demokratie, Contrato social, Staatsbürgerschaft, Entwicklung der produktiven Kräfte. Das erklärt den Fortbestand des Staates, der die Nation überlebt hat. Der Markt, die Furie des Kapitals, hat die Nation als illusorische natürliche Einheit der Völker in die Luft gesprengt. Die Nation ist nicht mehr das Heim für ein A usreifen geistiger Identität. Die Entwicklung des Kapitals ermöglichte die Illusion (von der Bedeutung der Nation ‑ aus der dann der Nationalismus geboren wurde), bis die Grenzen von der Konzentration und Internationalisierung des Kapitals überschwemmt wurden. So ist die Nation heute zu Friedhofsmelancholie mit unwiderbringlicher Vergangenheit verurteilt. Was bleibt, ist ein kultureller Ballast, der genauso 'künstlich' vor zweihundert Jahren erfunden wurde wie man heute die 'Bürokratie von Brüssel' künstlich nennt. " (Javier Franzé, Madrid, in "Rio Negro" vom 29.1.1992)

 

Man darf zusammenfassend feststellen, daß die Ideologien, dieser Religionsersatz, in diesen Jahren in ihrer Gesamtheit nach dem Zusammenbruch des Sozialismus jede Siegeszuversicht verloren haben. Um so erstaunlicher, daß man erneut politische Konstruktionen (Maastricht etwa) mit ideologischem Hintergrund auf die Beine zu stellen versucht.

 

Quelle: "Bankrott!" von Juan Maler, S. 143 - 145