Mitleid
Deshalb sage ich, daß alle
Menschen ein Gefühl des Mitleids kennen: Nehmen wir einen Menschen, der
plötzlich ein Kind bemerkt, das im Begriff ist, in einen Brunnen zu fallen.
Unveränderlich wird er ein Gefühl der Angst und des Mitleids empfinden. Und dies
nicht etwa für den Zweck, sich die Gunst der Eltern des Kindes zu gewinnen,
oder um den Beifall seiner Nachbarn und Freunde zu suchen, oder aus Furcht vor Schuldvorwürfen,
sollte er bei der Rettung des Kindes versagen. Hieraus ersehen wir, daß kein
Mensch ohne ein Gefühl für Mitleid, oder Schamgefühl, oder Höflichkeitsgefühl,
oder Gefühl für Recht und Unrecht ist. Das Gefühl des Mitleids ist der Ursprung
der Menschlichkeit, das Schamgefühl der Beginn der Redlichkeit, das
Höflichkeitsgefühl der Anfang der Schicklichkeit, und der Sinn für Recht und
Unrecht ist der Ursprung der Weisheit. Jeder Mensch trägt in sich selbst diese
vier Ursprünge, ebenso wie er vier Gliedmaßen besitzt. Da jeder diese vier
Ursprünge in sich trägt, zerstört derjenige Mensch, der sich selbst für unfähig
hält sie anzuwenden, sich selbst.
Quelle: Mencius - chinesischer Weiser des 4. Jahrhunderts vor Christus,
von Voltaire bewundert und von Professor Israel Shahak zitiert ("Jüdische
Geschichte, Jüdische Religion - Der Einfluß von 3000 Jahren", Süderbrarup
1998, S. 138)