Kondratieff-Wellen

 

Ein sibirischer Gulag im Jahr 1938: Der russische Ökonom Nikolai Kondratieff, ein erklärter Gegner der marxistischen Wirtschaftstheorie, wartet auf seine Hinrichtung. Mit ihm droht auch sein Lebenswerk ‑ die Theorie der langen Konjunkturwellen ‑ unterzugehen. 1926 hatte er im Berliner "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" erstmals seine Erkenntnisse über "Die langen Wellen der Konjunktur" publiziert, die die kurzen Konjunkturzyklen überlagern. Diese 40 bis 60 Jahre dauernden langen Wellen bestehen aus einer länger andauernden Aufstiegsphase und einer etwas kürzeren Abstiegsphase. 1939 griff Joseph A. Schumpeter die Theorie in seinem Werk über Konjunkturzyklen auf. Er prägte die Begriffe "Basisinnovation" und "Kondratieff‑Zyklus" und verstand unter Wettbewerb und Innovation immer "schöpferische Zerstörung" des Überholten, Bisherigen.

 


Alles Spinner?

 

Wirkliche Innovationen durchlaufen stets anfänglich eine starke Welle der Ablehnung. Das betrifft nicht nur heute die Fragen der Gen‑ oder Atomtechnik. Der Innovationsminister von NRW, Andreas Pinkwart, erzählt gern folgende Geschichte: Am 14. Juli 1881 erschien in Berlin das "Buch der 96 Narren" ‑ das erste Telefonbuch! So benannt, weil die ersten 96 deutschen Teilnehmer am Telefonverkehr belächelt wurden. Diese "Spinner" seien auf das Telefon hereingefallen, diesen "Schwindel aus Amerika". Der Postminister bot übrigens damals jeder Stadt ein eigenes Fernsprechnetz an, wenn sich wenigstens 40 Interessenten melden würden. In Köln waren es nur 36. Es klappte aber dann doch noch mit dem Telefon in Köln, weil die Industrie‑ und Handelskammer für die fehlenden Vier bürgte. Oder die Armbanduhr, erstmals annonciert von der Firma Junghans in ihrem Katalog von 1927. Experten hielten es für völligen Unsinn, die Uhr "an der unruhigsten und den größten Temperaturschwankungen ausgesetzten Körperstelle zu tragen." Sie prognostizierten: Nicht mehr als eine kurzfristige Modeerscheinung. Sie behielten alle unrecht.

 

Wie kann moderne, beschäftigungswirksame Innovationspolitik aussehen? Der Marburger Wirtschaftsprofessor Jochen Röpke, Schüler des Nobelpreistragers F. A. von Hayek, antwortet darauf mit einem Gleichnis: "Führe einen Menschen ans Meer, und er sagt dir, die Erde ist eine flache Scheibe. Führe einen Regionalpolitiker auf die grüne Wiese, und er sagt dir: Hier erzeugen wir einen Wachstumspool. Aber die Erde ist eine Kugel... Und mit einer inputlogischen Politik lässt sich nie Entwicklung hervorbringen. Auch nicht in Regionen. Der entscheidende politische Aktionsparameter ist die Förderung unternehmerischer Initiative, insbesondere von Neugründungen und dabei vor allem im Bereich der Produktion von 'Schumpetergütern', d. h. innovativen Produkten und Verfahren."

 

Die Krise ist da

 

Alles deutet darauf hin, dass Europa sich gerade auf der absteigenden Seite einer Kondratieff‑Kurve befindet. Das erste Kapitel von Erik Händels Buch "Die Geschichte der Zukunft" lautet folgerichtig: "Die Krise ist da." Im gesamten Westen bleibt die Arbeitslosigkeit trotz aller Anstrengungen hoch, die staatlichen Institutionen sind überschuldet, tatsächliches Wachstum findet praktisch ausschließlich dort statt, was noch vor wenigen Jahren geringschätzig als "Dritte Welt" belächelt wurde. Die Wachstumsraten der Informationstechnik (5. Kondratieff­-Welle) gehen im Westen zurück. In den Feldern der ersten vier großen Innovationswellen (von der Dampfmaschine bis zur Automatisierung) lässt sich mit allen Kostensenkungs‑ und Controllingpraktiken auch nicht mehr viel gewinnen. Einzig der prognostizierte "6. Kondratieff" ‑ Life Sciences und Gesundheit ‑ verspricht deutliche Entwicklungspotenziale.

 

Erst Innovation, dann Investition

 

Auf der Spitze der Welle sind ihre Pioniere meist schon Geschichte. Das Geschäft machen häufig nicht die Innovatoren, sondern die cleversten Nachmacher. Heimcomputer‑Erfinder Apple ist nur Nr. 2, Windows-Verkäufer Bill Gates ließ Apple hinter sich. Das ist nicht nur Chinas Chance. Die vier BRIC-­Staaten Brasilien, Russland, Indien und China werden 2035 mehr Bruttosozialprodukt erzeugen als die G8. Gemessen an der landeseigenen Kaufkraft sind sie schon heute die dynamischsten Volkswirtschaften der Welt.



Gerade China durchlebt nach tausendjähriger Stagnation zurzeit nicht nur einen einzigen, sondern einen "Multikondratieff". Die im Westen bereits gelaufenen, wenn auch ständig modernisierten Altkondratieffs holen Länder wie China jetzt fast gleichzeitig nach. "Natürlich kopieren sie dabei nicht die Pionierprodukte der Altwellen (eine fauchende und feuersprühende Dampflokomotive mit einer Geschwindigkeit von 30 km/h). Sie imitieren und adaptieren den letzten Stand der Technik in der nachholenden Produktion alter Kondratieffgüter (Transrapidtechnologie)", schreibt Röpke.

 

Folge dieser basisinnovativen Gleichzeitigkeit ist eine ungeheure Investitionsdynamik. In China beträgt die Investitionsquote nahezu 50 Prozent des Bruttosozialprodukts, in Deutschland gerade 15 Prozent. Westlichen Neoklassikern sei ins Stammbuch geschrieben: Das Ganze ist nicht die "Folge" einer "Kapitalakkumulation", sondern es ist die Ursache dafür, dass Kapital nach China strömt. Innerhalb weniger Jahre hat China neben der ehemals 100‑prozentigen Staatswirtschaft einen privaten Sektor aufgebaut, der bereits fast 50 Prozent zum Bruttosozialprodukt beiträgt. Das ist genau so viel wie in Deutschland!



Vor 50 Jahren stand Japan dort, wo China heute im Durchschnitt steht. Computer und Informationstechnologie waren gerade geboren. Der Automobilzyklus und die Elektrotechnik standen in voller Blüte. Der Einstieg Japans in diese Technologien wurde von westlichen Unternehmen nicht ernst genommen, belächelt und verschlafen. "­Die Kondratieff‑Schumpeter‑ Dynamik holt irgendwann jeden Markt ein. Der Tiger schlägt den, der nicht schnell genug wegläuft. Die Automobilbranche und andere Alt­-Kondratieffs können dem Schicksal ihres Ablebens nicht entgehen", so Röpke.

 

Seit 1980 wächst Chi­na mit einer jährlichen durchschnitt­lichen Wachstumsrate von 8,6 Prozent. So etwas gab es auf der Welt noch nicht. Und das im bevölkerungs­reichsten Land der Welt. Eine einma­lige Konstellation. Aus dem Nichts entstanden Nachfrageimpulse, die zunehmend in die Weltwirtschaft hi­neinwirken. Steigt das Pro‑Kopf‑Ein­kommen nur um 100 Dollar pro Jahr, verursachen 1,3 Milliarden Menschen einen jährlichen zusätzlichen Nach­frageschub von 130 Mrd. Dollar. Und Deutschland? Null. Stagnierende Realeinkommen seit mehr als zehn Jahren.

 

Röpke ist in Deutschland weder unbekannt noch unbeliebt. Er redet und schreibt ununterbrochen von den Notwendigkeiten, von einer absehbaren Entwicklung nicht überrollt zu werden und bleibt doch weitgehend ungehört. Deutschland braucht ein radikales Umsteuern:

 

+ Alle endogenen Entwicklungsimpulse müssen gestärkt werden.

 

+ Das Ausbildungs‑ und Forschungssystems muss radikal reformiert werden (wie bei den Stein­-Hardenbergschen Reformen zur Befreiung der Bauernschaft).

 

+ Innovatives Unternehmertum muss massiv unterstützt werden, vor allem forschungs‑ und wissensnahe Neu-­Unternehmen.

 

+ Entbürokratisierung und Deregulierung aller Lebensbereiche zur Entfaltung von schöpferischen Neukombinationen (Innovationen) anstelle von Controlling und Optimierung.

 

+ Steuerliche Entlastung aller reinvestierten Unternehmereinkommen.

 

Die Chinesen würden das als Harmonisierung von Yang (gegenwärtige Politik: Überbetonung rationalen Wissens; Paralyse durch Analyse; inputlogische Expansion; Folge: knowing‑doing‑gap) und Yin (Intuition, Neukombination, Selbstevolution) beschreiben. Jedenfalls wartet der Zug der Basisinnovation nicht auf Nachzügler. Wer den Anschluss verpasst, nicht rechtzeitig aufspringt, sieht nur noch seine Schlusslichter. Das war 1000 Jahre lang Chinas selbstgewähltes Los.

 

Quelle: "P.T. Magazin" September/Oktober 2006, S. 8 - 10 ("Die Chinesen kommen")