Sondergericht Kiel

 

Zur "Rechts"-Praxis des Schleswig-Holsteinischen Sondergerichts 1937 - 1945

 

von Klaus Bästlein (1. Juni 1992)

 

Einleitung (S. 2 - 4) / Zum Forschungsstand (S. 4 - 8) / Schlußbetrachtung (S. 77 - 83) - Zitate wurden aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit entfernt!

 

 

Am 5. Mai 1960 hielt der damalige schleswig‑holsteinische Justizminister Dr. Bernhard Leverenz (FDP) eine vielbeachtete Rede. Darin gab er das Ergebnis von Überprüfungen bekannt, die sein Ministerium auf Grund von Vorwürfen gegen NS‑Juristen im schleswig-holsteinischen Justizdienst durchgeführt hatte. Nach den Angaben von Leverenz waren 195 Verfahren untersucht worden, die vor allem die Tätigkeit des ehemaligen Sondergerichts Kiel betrafen. 114 dieser Verfahren hatten mit Todesurteilen geendet; in 81 weiteren Verfahren waren Delikte wie "Wehrkraftzersetzung" oder "heimtückische Äußerungen" abgeurteilt worden. Über die Todesurteile führte der Minister aus: "Zu allen diesen Verfahren sind die Urteilsgründe bis zum Zusammenbruch im Jahre 1945 sehr ausführlich abgefaßt worden, erörtern den Sachverhalt der Vorstrafen und begründen eingehend ‑ allerdings mitunter auch mit den damals üblichen Schlagworten ‑ die Annahme des besonders schweren Falles. Die Ausführungen zum Strafmaß fehlen nie, wenn auch die harten Maßstäbe der Kriegszeit in die Augen springen. ... Allen Angeklagten waren die damals noch verbliebenen Verfahrensgarantien gewährt worden." Zusammenfassend kam Leverenz zu folgender Bewertung: "Den Richtern und Staatsanwälten, die früher bei den Sondergerichten in Kiel und Berlin tätig waren und heute im schleswig‑holsteinischen Landesjustizdienst stehen, kann aus ihrer damaligen Tätigkeit kein Vorwurf gemacht werden."

 

An dieser offiziellen Lesart wurde in Schleswig‑Holstein über Jahrzehnte festgehalten. Doch als Wissenschaftler die Probe aufs Exempel machen wollten, verwehrte man ihnen die Auswertung der Akten. Mit vorgeschobenen "Datenschutz"‑Gründen oder unter Hinweis auf "ungeordnete Bestände" machte die Leitung des Landesarchivs jedwede Forschung unmöglich. Kritische Nachfragen im Schleswig-Holsteinischen Landtag waren die Folge. Dabei wurde der Verdacht artikuliert, daß durch die Zurückhaltung der Akten NS­-Juristen im Landesdienst gedeckt werden sollten. Der Sprecher des schleswig-holsteinischen Justizministeriums wies dies 1985 jedoch als "vollends absurd" zurück. Unter Berufung auf die "gründlichen und erschöpfenden" Untersuchungen des Jahres 1960 wurde den Richtern und Staatsanwälten des Schleswig‑Holsteinischen Sondergerichts so 25 Jahre später erneut bescheinigt, daß ihre Tätigkeit in der NS‑Zeit keinen Anlaß zu irgendwelchen Beanstandungen biete.

 

Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob die regierungsamtlichen Darstellungen aus den Jahren 1960 und 1985 den Tatsachen entsprechen. Dabei basieren die Ausführungen auf umfangreiche Recherchen, die in den achtziger Jahren für die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin und im Rahmen eines Dissertationsvorhabens über "Sondergerichte in Norddeutschland während des Krieges 1939‑1945" ausgeführt wurden. Die Leitung des Landesarchivs und die Generalstaatsanwaltschaft verhielten sich auch diesen Forschungsarbeiten gegenüber außerordentlich reserviert. Dennoch konnte 1988 ein erster Forschungsbericht über die "Akten des Sondergerichts Kiel als zeitgeschichtliche Quelle" publiziert werden. Er enthielt allerdings leider an einer Stelle unzutreffende Angaben, weil das Landesarchiv sich geweigert hatte, die Register zu den Sondergerichtsakten vorzulegen. Erst der Regierungswechsel 1988 machte die Auswertung aller relevanten Vorgänge zur NS‑Justiz in Schleswig‑Holstein möglich. Dies ist vor allem dem Einsatz des Landtagsabgeordenten Karl Otto Meyer (SSW) sowie Justizminister Dr. Klaus Klingner (SPD) und Staatssekretär Uwe Jensen (SPD) zu danken. Sie setzten gegen den erbitterten Widerstand der Leitung des Landesarchivs und mancher Kultus‑Bürokraten einen weitgehend ungehinderten Quellenzugang durch.

 

Die "Rechts"‑Praxis des Schleswig‑Holsteinischen Sondergerichts kann dabei nicht isoliert betrachtet werden. Es wird hier daher zunächst kurz auf den allgemeinen Forschungsstand zur NS‑Justiz eingegangen. Anschließend sollen die Voraussetzungen der nationalsozialistische "Machtgreifung" in Schleswig‑Holstein und die personelle "Erneuerung" der Justiz im Lande behandelt werden. Es folgt ein Überblick zur Institutionalisierung der Sondergerichte und den normativen Grundlagen für ihre Tätigkeit. Im Mittelpunkt des Beitrages steht dann die Darstellung der Spruchpraxis des Schleswig‑Holsteinischen Sondergerichts. Dabei wird auf sieben Verfahren, deren Urteile im Anhang faksimiliert wiedergegeben sind, ausführlicher eingegangen. Weiter soll das Verhalten der Richter und Staatsanwälte am Kieler Sondergericht untersucht werden. Dabei wird auch die Frage wieder aufgenommen, ob die Weiterbeschäftigung der damaligen Akteure nach 1945 tatsächlich gerechtfertigt und vollkommen unproblematisch war.

 

1. Zum Forschungsstand

 

Die rechtsgeschichtliche Forschung zur Zeit der NS‑Herrschaft steht auch fast 50 Jahre nach deren Ende immer noch am Anfang. Zwar lagen zum Teil schon 1945 jene Analysen deutscher Emigranten zum nationalsozialistischen Rechtssystem vor, die bis heute als grundlegend zu bezeichnen sind. Dies gilt vor allem für die Arbeiten von Ernst Fraenkel und Franz Neumann. Doch in der Bundesrepublik herrschten entsprechend der dominanten politischen Strömungen in den fünfziger Jahren zunächst apologetische Betrachtungen zur Justiz im Nationalsozialismus vor. Erst in den sechziger Jahren setzte eine quellenorientierte Forschung ein, die schon bald beachtliche Ergebnisse zeitigte. In diesem Zusammenhang ist vor allem auf die Arbeiten von Werner Johe, Hans Robinsohn und Friedrich Karl Kaul hinzuweisen. Darüber hinaus traten jüngere Rechtshistoriker während der siebziger Jahre mit einer Reihe theoretischer Studien zur Rechtsfindung im Nationalsozialismus hervor. Zu nennen sind hier in erster Linie die Untersuchungen von Bernd Rüthers, Klaus Marxen und Michael Stolleis. Die Resonanz auf die in den sechziger und siebziger Jahren erschienen Arbeiten und die Analysen der Emigranten blieb allerdings zunächst gering.

 

Dennoch wurden in den achtziger Jahren die Bemühungen um eine empirisch fundierte Erforschung der nationalsozialistischen Justiz unter institutions‑ und organisationgeschichtlichen Fragestellungen fortgesetzt und intensiviert. Dabei ist vor allem auf die ebenso gründlichen wie fundierten Analysen von Diemut Majer und Hinrich Rüping hinzuweisen. 1988 erschien zudem Lothar Gruchmanns umfängliche Abhandlung über das Reichsjustizministerium "in der Ära Gürtner" (1933‑1940). Auch die Entwicklung der Rechtstheorie, die Spruchpraxis auf zivilrechtlichem Gebiet und das Verhalten der Richter und Staatsanwälte wurden nun untersucht. Besonders anregend wirkten die Arbeiten von Hubert Rottleuthner, Rainer Schröder und Ralph Angermund. Hinzu trat eine Reihe von Sammelbänden mit rechtsgeschichtlichen Beiträgen zur NS‑Zeit, die auf Ringvorlesungen an verschiedener Universitäten zurückgingen. Daneben erschienen nun ebenfalls einige Streitschriften über die nationalsozialistische Justiz, deren Erkenntniswert eher gering blieb. Ingo Müllers populärwissenschaftliches Buch über "Furchtbare Juristen" trug allerdings wesentlich zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der Thematik bei.



Vor dem Hintergrund dieser Bemühungen begann sich nicht nur im öffentlichen Bewußtsein, sondern auch innerhalb der Justiz eine kritisch differenzierende Betrachtungsweise durchzusetzen. Dabei spielte das Ausscheiden der letzten Richter und Staatsanwälte, die bereits vor 1945 amtiert hatten, offenbar eine entscheidende Rolle. Apologetische Darstellungen, die noch bis in die 70er Jahre unter bundesdeutschen Justizjuristen dominierten, traten gegenüber einer unbefangeneren Auseinandersetzung zurück. In den Festschriften der drei niedersächsischen Oberlandesgerichte aus den 80er Jahren spiegelte sich diese Entwicklung deutlich wider. Die vom Bundesjustizministerium 1989 präsentierte Wanderausstellung "Justiz im Nationalsozialismus" markierte auch nach außen hin einen deutlichen Wendepunkt. Seither gibt es in den meisten Bundesländern Ansätze für eine weiterführende Erforschung der NS-­Justiz. Doch nur die Justizbehörde Hamburg hat ein Forschungsprojekt ermöglicht, mit dem den verschiedenen Fragestellungen auf empirischer Grundlage und in systematischer Form nachgegangen wird.

 

Dabei ist der Mangel an quellenorientierten und empirisch abgesicherten Studien zur "Rechts"‑Praxis im Nationalsozialismus nach wie vor unübersehbar. Die "offen terroristische" Phase der nationalsozialistischen Justiz ab 1941/42 wurde bislang nicht eingehend untersucht. Es fehlt vor allem an Analysen zur Tätigkeit der unteren und mittleren Instanzen. Dies gilt nicht nur für die Justizverwaltung, sondern auch für die Tätigkeit der Staatsanwaltschaften und Gerichte. Daher konnte der vielzitierte "Justizalltag" bisher nicht zuverlässig nachgezeichnet werden. Am Beispiel der Sondergerichte wird dies besonders deutlich. So liegen überhaupt nur vier Monographien zu ihrer "Rechts"‑Praxis vor. Hinzu treten zwei Editionen mit Urteilen der Sondergerichte in Berlin und Bremen. Daneben ist lediglich auf zwei Aufsätze hinzuweisen, die sich mit der Verfolgung von Äußerungsdelikten durch die Sondergerichte befassen. Auch im Rahmen zeitgeschichtlicher Studien wurden Sondergerichtsakten trotz ihres hohen Aussagewerts gerade für die Regional‑, Lokal‑ und "Alltags"‑Geschichte bislang nur in Ausnahmefällen herangezogen.

 

Unter den Monographien bietet das Buch des Journalisten Hans Wüllenweber den umfassendsten Überblick. Im Mittelpunkt seiner Darstellung steht die Urteilspraxis der Sondergerichte gegen sogenannte "Volksschädlinge" sowie Polen und Juden während des Krieges. Zudem hat der Rechtshistoriker Christoph U. Schminck­-Gustavus das Schicksal des jugendlichen Polen Walerjan Wrobel in beeindruckender Weise dokumentiert, der aus Heimweh Feuer legte und deshalb zum Tode verurteilt wurde. Auch über die Verfolgung des "politischen Katholizismus" durch die Sondergerichte ist eine historische Dissertation von Anna Blumberg‑Ebel erschienen. Die Verfasserin hat sich zwar um eine umfassende Quellen‑Auswertung bemüht, "übersah" aber schlichtweg das Sondergericht Kiel. In manchen institutionsgeschichtlichen und juristischen Einzelheiten vermag die Arbeit ebenfalls nicht zu überzeugen. Das Gegenteil gilt für eine rechtsgeschichtliche Dissertation über die Rechtspraxis im "Oldenburger Land". Jens Luge ist vor allem den Wandlungen der Gerichtsorganisation und des Verfahrensrechts nachgegangen. Hinsichtlich der "Rechts"‑Praxis der Sondergerichte kam er zu eben so klaren wie erschreckenden Ergebnissen. Allen Monographien ist allerdings gemeinsam, daß es an umfassenden und statistisch fundierten Auswertungen fehlt, und die Einordnung der Befunde in weitere Zusammenhänge nur sehr sporadisch erfolgt. (...)



 

 

8. SCHLUBBETRACHTUNG

 

Am Ende steht die Rückkehr an den Beginn dieses Beitrages, nämlich zur Rede des schleswig‑holsteinischen Justizministers Dr. Bernhard Leverenz vom 5. Mai 1960. Denn es bleibt festzuhalten, daß seine Ausführungen einer quellenorientierten, empirisch fundierten und differenzierten Prüfung nicht standhalten. So waren die Urteile des Sondergerichts keineswegs immer "sehr ausführlich abgefaßt" und enthielten für "die Annahme des besonders schweren Falles" in der Regel keine juristisch sauberen Begründungen. Stattdessen wurde auf die Lehre von den Tätertypen in Gestalt von angeblichen "Volksschädlingen", "Gewohnheits‑" oder "Gewaltverbrechern" rekurriert. Bei der Strafzumessung sprangen auch nicht nur "die harten Maßstäbe der Kriegszeit" ins Auge, sondern ideologische Ausführungen zur "Minderwertigkeit" oder gar "Nutzlosigkeit" von Angeklagten für die "Volksgemeinschaft". Es entsprach zudem nicht den Tatsachen, daß "allen Angeklagten" vom Sondergericht die "noch verbliebenen Verfahrensgarantien gewährt" wurden. In Verfahren gegen "Plünderer" oder bei Folterungen war das Gegenteil der Fall.

 

Daher muß auch die von Leverenz vertretene Schlußfolgerung als unhaltbar bezeichnet werden, daß den Richtern und Staatsanwälten der Sondergerichte Kiel und Berlin "aus ihrer damaligen Tätigkeit kein Vorwurf gemacht werden" könne. Denn tatsächlich hatten sie in der überwiegenden Mehrzahl der von ihnen behandelten Verfahren Rechtsbeugung verübt. In Tateinheit damit waren von den Staatsanwälten und Richtern die Straftatbestände des Mordes, des Totschlags, der Freiheitsberaubung und verschiedener Amtsdelikte verwirklicht worden. Insbesondere jene Mitarbeiter, die länger am Sondergericht amtierten, brachten wiederholt Menschen aus rassischen oder sozialdarwinistischen Motiven und damit auf Grund niederer Beweggründe zu Tode. Die Richter und Staatsanwälte des Schleswig‑Holsteinischen Sondergerichts trugen mithin "den Dolch des Mörders ... unter der Robe des Juristen verborgen", wie es 1947 im "Nürnberger Juristenurteil" hieß, das sich auch mit der Tätigkeit verschiedener Sondergerichte auseinandersetzte.

 

Die Mitarbeiter des ehemaligen Sondergerichts Kiel wurden dagegen nie für die von ihnen verübten Justizverbrechen zur Verantwortung gezogen. Sie waren vielmehr schon unmittelbar nach dem Eintreffen der britischen Truppen damit befaßt, ihre künftige berufliche Tätigkeit abzusichern. Belastende Materialien, insbesondere die Akten aus Verfahren nach der "Polenstrafrechts‑Verordnung", wurden bei Seite geschafft. Auch sämtliche Unterlagen aus den "Nacht‑und­-Nebel‑Verfahren", Geheim‑Sachen und bestimmte Vorgänge aus den Generalakten fielen der Vernichtung anheim. Gleichzeitig wurden allerlei Mythen und Legenden geschmiedet, die in angeblichen Widerstands‑Aktivitäten gipfelten. Ehemalige Staatsanwälte und Richter des Sondergerichts bescheinigten sich bald gegenseitig, "Widerstand" geleistet und allein "dem Recht gedient" zu haben. So gelang es, nicht nur die britische Besatzungsmacht, sondern auch deutsche Stellen über den Charakter des Schleswig‑Holsteinischen Sondergerichts und seiner Justizverbrechen zu täuschen.

 

Sechs Jahre nach dem Ende der NS‑Herrschaft amtierten praktisch alle ehemaligen Mitarbeiter des Sondergerichts Kiel wieder im Justizdienst des Landes, soweit sie dafür noch in Frage kamen:

 

Es folgt eine Tabelle, aus der u.a. hervorgeht, daß 64 % der Richter am Sondergericht Kiel nach dem Kriege wieder beschäftigt wurden. Nur 3 % wurden nicht wieder beschäftigt. Die restlichen 33 % waren verstorben, gefallen oder ausgeschieden (freiwillig vor 1945 oder aus Altersgründen).

 

Von den 22 Richtern und Staatsanwälten, die längere Zeit am Sondergericht amtiert hatten und nach 1945 noch zur Verfügung  standen,  wurden  sogar 95 % wiederbeschäftigt. Dabei handelte es sich um einen bundesdeutschen Spitzenwert. Nur der jüngere Vorsitzende des Sondergerichts, Dr. Otto Lange, zog es vor, nicht in den Justizdienst zurückzukehren. Er betätigte sich stattdessen als einflußreicher Rechtsanwalt in Kiel. Dagegen gelang es einer Gruppe von Staatsanwälten, die viele der Todesurteile des Sondergerichts erwirkt hatten, ohne jede Unterbrechung im Amt zu bleiben. Ab 1946 konnten dann auch Sonderrichter rasch in den Justizdienst zurückkehren. Allerdings erhielten sie zunächst meist nur Geschäftsaufträge. Dies änderte sich erst 1950, dem eigentlichen Schicksalsjahr in der Nachkriegsgeschichte Schleswig‑Holsteins.



Denn am 9.7.1950 fand eine entscheidende Landtagswahl statt. CDU, FDP und DP (Deutsche Partei) schlossen sich zum "Deutschen Wahlblock" zusammen, um ‑ wieder einmal ‑ die "dänische Gefahr" in Südschleswig zu bannen, wo nun viele Einheimische dänischen Vereinen beitraten. So war der Wahlkampf von nationalistischen Tönen geprägt. Als "Wahlkampf‑Schlager" erwies sich aber die verhaßte "Entnazifizierung", deren sofortige Beendigung der "Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE)" verlangte. Als "Entrechtete" betrachtete er in erster Linie die von Internierung und Entnazifizierung Betroffenen. In der Organisation des BHE dominierten ehemalige SS‑Angehörige und an seiner Spitze standen einstige NS-Funktionäre. Mit 23 % wurde er zum Überraschungssieger der Wahl. Anschließend kam es zur Bildung einer Koalition mit CDU, FDP und DP. Am 5.9.1950 wurde mit Dr. Walter Bartram erstmals ein ehemaliges NSDAP‑Mitglied Ministerpräsident eines bundesdeutschen Landes. Auch alle Kabinettsmitglieder mit Ausnahme des Ministers Dr. Dr. Paul Pagel hatten NS‑Formationen angehört. Der "Neue Vorwärts" sprach von einer "Koalition aus SA, SS und NSDAP".

 

Die neue Regierung brachte sofort ein "Schlußgesetz" für die Entnazifizierung ein. Danach waren alle Betroffenen rückwirkend in die Kategorie V (= Entlastete) einzustufen, womit die ganze Entnazifizierung ad absurdum geführt werden sollte. Heftige Kontroversen waren die Folge. So erklärte Wilhelm Käber (SPD) im Landtag, "daß dieses Gesetz ... gar nicht vollständig ist. Um es zu vervollständigen, müßte man noch einen Paragraphen hinzufügen, dessen Abs. 1 vielleicht zu lauten hätte: 'Schleswig‑Holstein stellt fest, daß es in Deutschland nie einen Nationalsozialismus gegeben hat.' und Abs. 2 vielleicht: 'Die von 1933 bis 1945 begangenen Untaten gegen Leben und Freiheit von Millionen Menschen sind eine böswillige Erfindung.'" Minister Pagel (CDU) schrieb in sein Tagebuch: "Die Argumente der Opposition erscheinen mir weit stichhaltiger als die der Regierungsparteien. Man kann mit Recht allmählich von einer Renazifizierung sprechen. Merkwürdig, wie selbstverständlich die alten Nazis auftreten und wie feige sie im Grunde sind, wenn man ihnen hart entgegentritt."

 

Nachdem das "Entnazifizierungs‑Schlußgesetz" verabschiedet worden war, gab es auch hinsichtlich der ehemaligen Mitarbeiter des Schleswig‑Holsteinischen Sondergerichts kein Halten mehr. Alle bislang nur befristet wiederverwendeten Staatsanwälte und Richter wurden nun auf Lebenszeit übernommen. Bei zwei Sonderrichtern, die unterdessen anderweitig ein Auskommen gefunden hatten, wurde sogar angefragt, ob sie nicht wieder in den Justizdienst zurückkehren wollten, was sie auch taten. Zudem eröffneten sich den ehemaligen Mitarbeitern des Sondergerichts jetzt ungeahnte Karriere‑Chancen: Aus ihren Reihen gingen schließlich ein Landgerichtspräsident, ein leitender Oberstaatsanwalt, ein Senatspräsident, vier Vorsitzende Richter, vier Oberstaatsanwälte, ein Richter am Oberlandesgericht und ein aufsichtsführender Richter hervor. Mithin gelangten zwei Drittel der weiterbeschäftigten Richter und Staatsanwälte des ehemaligen Sondergerichts nach 1945 sogar in Beförderungsstellen.

 

Eine ganze Reihe dieser Aufsteiger war zwischenzeitlich auch im Justizministerium tätig, während andere als Personal‑Referenten am Oberlandesgericht amtierten oder Prüfer in den juristischen Staatsexamen wurden. Wie in den Jahren vor 1945, so stellten die Mitarbeiter des ehemaligen Sondergerichts auch in diesen Ämtern Anpassungsbereitschaft und vorauseilenden Gehorsam unter Beweis. Ihren Ministern, Gerichtspräsidenten und Behördenleitern waren sie geschätzte und loyale Mitarbeiter. Gegenüber Referendaren gaben sie sich jovial, aufgeschlossen und hilfsbereit. Nur selten wurde an jene Zeit erinnert, in der sie Todesurteile gesprochen und Hinrichtungen geleitet hatten. "Schön ist das nicht gewesen", erklärten sie etwa jüngeren Beisitzern, "aber noch schlimmer war die Besatzungszeit mit ihren beruflichen Unsicherheiten." Ein öffentliches Wort der Reue kam dagegen nie über ihre Lippen. Es blieb bei jener larmoyanten Selbstgerechtigkeit, die manche deutsche Juristen bis heute von ihren Zeitgenossen unterscheidet.

 

So bildeten die Staatsanwälte und Richter des ehemaligen Kieler Sondergerichts schon in den fünfziger Jahren wieder das Rückgrat der schleswig‑holsteinischen Justiz, deren "Renazifizierung" aber keineswegs auf sie beschränkt blieb. Hinzu traten Flüchtlinge aus dem Osten, schwerbelastete Kriegsrichter, Mitarbeiter der SS und Polizei sowie die auch von Minister Leverenz erwähnten Mitarbeiter des Sondergerichts Berlin. Bei ihnen handelte es sich meist um dem Kammergericht zugeordnete Richter, die als "Springer" sowohl in den Hoch‑ und Landesverrats‑Senaten, als auch am Volksgerichtshof und am Sondergericht eingesetzt worden waren. Einige von ihnen brachten es dabei allein in den beiden letzten Kriegsjahren auf über Hundert Todesurteile. In Berlin (West) bot sich ihnen nach 1945 keine Chance, weiterbeschäftigt zu werden ‑ aber in Schleswig‑Holstein nahm man eben wirklich alle. Das galt sogar für den Freisler‑Beisitzer Hans‑Joachim Rehse, der zwischen 1942 und 1945 allein an über 300 Todesurteilen mitgewirkt hatte. Er wurde nach 1945 Richter am Verwaltungsgericht in Schleswig.

 

Doch damit nicht genug: Selbst jene "alten Kameraden", die im "Nürnberger Juristenprozeß" abgeurteilten worden waren, kamen zu Beginn der fünfziger Jahre nach Schleswig‑Holstein, wo sie rasch mit großzügigen Pensionen versorgt wurden. So ließ sich Franz Schlegelberger in Flensburg nieder, während Curt Rothenberger bei Pönitz residierte und Ernst Lautz ein beschauliches Dasein in Lübeck führte. Nur einen Steinwurf von Schlegelberger entfernt wohnte der Organisator der Mordaktionen an Behinderten und Kranken, Professor Dr. Werner Heyde, der nun unter dem Namen "Dr. Sawade" als Gerichtsgutachter in Schleswig und Flensburg auftrat. Am Oberlandesgericht judizierten derweil mindestens zehn hohe SS‑, Kriegs‑ und Sonderrichter. Ehemalige Leiter von Gestapo‑Stellen, Polizei‑Kommandeure aus dem Osten und der Referent Eichmanns für die Deportation der Juden aus Belgien und Nordfrankreich wurden Richter am Verwaltungs‑ oder Sozialgericht. Sogar für den Autor des antisemtischen Buchs "Das Eindringen der Juden in die Deutsche Justiz", der 1944 auch begeistert über die Freisler‑Prozesse gegen den 20. Juli berichtet hatte, fand man eine "passende" Tätigkeit: Er wurde "Schriftleiter" der "Schleswig‑Holsteinischen Anzeigen".

 

Die "Renazifizierung" der schleswig‑holsteinischen Justiz blieb auch für ihre Rechtspraxis nicht folgenlos. Allerdings fehlt es bisher an Untersuchungen zur Tätigkeit der einstigen Richter und Staatsanwälte des Kieler Sondergerichts nach 1945. Ihr Engagement in der Staatsschutz‑Abteilung der Staatsanwaltschaft Flensburg und den entsprechenden Kammern des dortigen Landgerichts läßt aber wenig Gutes vermuten. Ehemalige Staatsanwälte am Sondergericht wurden auch immer wieder mit der Verfolgung von NS‑Verbrechen befaßt, die sie nur mit mäßigem Erfolg betrieben. Die Ermittlungen gegen Gauleiter Lohse, der am 9.11.1938 die Judenpogrome im Lande telefonisch ausgelöst hatte, wurden mit dem Bemerken eingestellt, er mache "unwiderlegbar geltend", sich zur Tatzeit in München und nicht in Kiel aufgehalten zu haben. Das Schleswig‑Holsteinische Oberlandesgericht tat sich zudem bei der Verfolgung von NS‑Tätern stets schwer. Mit den Verfolgten des NS‑Regimes wurde dagegen hart umgesprungen. So versagten die Wiedergutmachungs‑Kammern und das Oberlandesgericht Zwangssterilisierten, Deserteuren, Polen und Angehörigen der dänischen Minderheit jede Entschädigung.

 

Noch weiter ging das Schleswig‑Holsteinische Verwaltungsgericht. Zwei seiner Richter, die der NSDAP angehört hatten, bestätigten 1953 ein gegen den damaligen dänischen Lehrer Karl Otto Meyer wegen Kritik an der Remilitarisierung verhängtes Berufsverbot. Dagegen sprachen Richter desselben Gerichts Franz Schlegelberger 1960 erneut eine hohe Pension zu, weil er unter der NS‑Herrschaft in der Absicht gehandelt habe, "schlimmeres Unrecht zu verhüten." Dieses Urteil löste internationale Proteste aus. Nur ein Jahr zuvor war Schleswig‑Holstein durch die "Heyde/Sawade‑Affäre" erstmals ins Rampenlicht gerückt. Die Öffentlichkeit nahm mit Erstaunen und Entsetzen zur Kenntnis, wie höchste schleswig‑holsteinische Richter und Staatsanwälte einen steckbrieflich gesuchten Massenmörder nicht nur gedeckt, sondern auch noch gefördert hatten. In diese Zeit größter politischer Anspannung, die beinahe zum Sturz der Regierung von Hassel geführt hätte, fiel auch die Rede von Justizminister Lewerenz am 5.5.1960. Sie sollte daher ebenfalls der Entlastung der schleswig‑holsteinischen Justiz vor dem Hintergrund weltweiter Vorwürfe und Proteste dienen.

 

Es bleibt festzuhalten, daß die Rede ihren Zweck voll erfüllte. Der "Persilschein", den Leverenz den Richtern und Staatsanwälten des Schleswig‑Holsteinischen Sondergerichts 1960 ausstellte, blieb jahrzehntelang unhinterfragt und konnte noch 1985 ‑ nach einem Vierteljahrhundert ‑ vom Sprecher des Schleswig‑Holsteinischen Justizministeriums erneuert werden. Bis heute hat die "Rechts"‑Praxis des Sondergerichts Kiel weder Eingang in die Landes‑Geschichtsschreibung gefunden, noch ist sie von den schleswig‑holsteinischen Justizjuristen mehrheitlich zur Kenntnis genommen worden. Zu Jubiläen und bei anderen Anlässen herrscht immer noch das Ritual, die NS‑Zeit durch Schweigen zu übergehen. Und während die "Rechts"‑Praxis des Sondergerichts Kiel so einfach ignoriert werden konnte, gelten Hinweise auf die personelle Kontinuitäten in der schleswig‑holsteinischen Justiz nach wie vor als Tabu‑Verletzung. Auswirkungen dieser personellen Kontinuitäten auf die Rechtspraxis nach 1945 werden sogar schlichtweg geleugnet.

 

Erst nach der Barschel‑Affäre und dem Regierungswechsel 1988 setzten auch in der schleswig-­holsteinischen Justiz Veränderungen ein. Die letzten Richter und Staatsanwälte, die noch zur NS-­Zeit amtiert hatten, waren unterdessen ausgeschieden. Durch eine pluralistische Personalpolitik und einen offenen Führungsstil begann sich seit 1988 das Justizklima im Lande spürbar zu wandeln. Den Opfern der NS‑Justiz soll neuerdings sogar ein Mahnmal vor dem Oberlandesgericht gewidmet werden. Doch von manchen Richtern und Staatsanwälten wird immer noch die Auffassung vertreten, die Selbst‑Amnestierung der deutschen Justiz für ihre NS‑Verbrechen sei zu Recht erfolgt. Und während weiterhin die Strafverfolgung von NS-Juristen im Lande unterbleibt, widmen sich schleswig‑holsteinische Staatsanwälte und Richter engagiert der Überprüfung von SED‑Juristen in Mecklenburg‑Vorpommern, die zumindest nicht an Todesurteilen mitgewirkt oder Exekutionen geleitet haben ...