Scheinrechtsstaat - Pseudorechtsstaat - Etikettenschwindel
Das Buch von Hermann Marcus
"Wer je vor einem Richter stand ‑ so arbeitet die deutsche
Justiz", Düsseldorf 1976 leuchtet einen zusätzlichen Hintergrund aus, der
für die Beurteilung der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz als "politische
Justiz" wesentliche Erkenntnisunterlagen offenbart. Um der Sachlichkeit
willen sei auf eigenen, womöglich als einseitig zu apostrophierenden Kommentar
verzichtet; statt dessen möge hier der justiz‑geschichtliche Experte
Hermann Marcus wertneutral zu Wort kommen:
"Trotz aller Garantien
für die persönliche Unabhängigkeit der Richter ... gibt es in der Justiz wie eh
und je Vorgesetzten- und Abhängigkeitsverhältnisse, die mit dem Leitbild des
Grundgesetzes vom Richter nicht zu vereinbaren sind. ... (S. 39)
Im Falle von Beförderungen entscheidet
der Minister bzw. die Verwaltung. Die Mitwirkung der Präsidialräte ist oft eine
Farce....
Nicht viel mehr als eine
Formsache ist die richterliche Mitwirkung, auch wenn Richterberufung und
Richterbeförderung durch Richterwahlausschüsse vollzogen werden. In diesen
Ausschüssen ... haben die Richter sehr wenig, die Vertreter der politischen
Parteien um so mehr zu sagen. ... (S. 40)
Wie es um die viel beschworene
richterliche Unabhängigkeit in Wirklichkeit bestellt ist, illustrieren am
deutlichsten die sogenannten Richter‑Strichlisten, die bei den
Präsidenten der Amts‑, Land‑ und Oberlandesgerichte geführt werden
und in denen für jeden Richter fein säuberlich aufgezeichnet wird, welche
seiner Urteile in der Berufung standgehalten haben und mit welcher
Schnelligkeit er die Verfahren abgewickelt hat. Beide Listen entscheiden
letztlich über die Karriere des Richters und beide haben höchst unerfreuliche
Konsequenzen..
Ein Richter, der Karriere
machen will, muß sich so gut er kann den Auffassungen seiner nächst höheren
Instanzen anpassen. Um auf Nummer Sicher zu gehen, daß seine Urteile bestätigt
werden, wird er sich außerdem an Entscheidungen höchster Gerichte geradezu
anklammern. ... (S. 42)
Der Grund für die rege
parteipolitische Aktivität der Verfassungsrichter liegt auf der Hand.
Offensichtlich wächst nämlich die Chance, oberster Hüter der Verfassung zu
werden, mit dem Grad des parteipolitischen Engagements. Das gilt ganz besonders
für den Bereich des Bundesverfassungsgerichts. Die im Grundgesetz verankerte
Vorschrift, daß sowohl die vom Bundesrat als auch die vom Bundestag zu
wählenden Richter mit einer Zweidrittel‑Mehrheit gewählt werden müssen,
nutzen Landesregierungen und politische Parteien zu einem richtig gehenden
Kuhhandel aus. ...
Dieses parteipolitische
Proporzdenken bestimmt denn auch weitgehend die Zusammensetzung des höchsten
deutschen Gerichts. ... (S. 54)
Der Richter bildet sich auf
Grund seiner politischen Anschauung sein Urteil und fundiert es dann nur noch
rechtstechnisch mit den dazu passenden Paragraphen. ...
Dann noch von einer souveränen
Unabhängigkeit der obersten Verfassungshüter zu sprechen, grenzt an blanken
Hohn. ...
Unverkennbar ist jedenfalls,
daß bei der Auswahl der Richter in zunehmendem Umfang Parteiverdiensten größeres
Gewicht zukommt als fachlicher Qualifikation und daß in wachsendem Umfang reine
Parteileute ohne Rücksicht auf ihre Eignung ins Bundesverfassungsgericht
berufen wurden. Kandidaten von hohem wissenschaftlichen Rang wurden immer
rarer.
Was für die oberste gilt auch
für die niedrigeren Etagen des Richterdienstes. ... Viele Richter erhoffen
zweifellos auf Grund ihrer Richtermitgliedschaft eine Förderung ihrer
beruflichen Karriere. Im Hinblick auf den großen Einfluß, den die Exekutive auf
die Beförderung der Richter hat, und auch im Hinblick auf die politische
Zusammensetzung der Richterwahlausschüsse ist das sehr oft keine vergebliche
Hoffnung. Es kann, so wie die Dinge liegen, jedenfalls nicht schaden, einer
politischen Partei als mehr oder weniger aktives Mitglied anzugehören ‑
es muß nur die richtige sein. (S.55‑56)
Auch wenn aber normalerweise
die ehrenamtlichen Richter nicht die Rolle spielen, die ihnen durch Strafrecht
und Strafprozeßordnung zugewiesen sind: nach außen hin tritt das natürlich nicht
in Erscheinung. Die Berufsrichter tun so, als ob sie die Laienrichter
vollwertig an dem Verfahren beteiligen würden, und die Laienrichter tun so, als
ob sie das auch glauben.
So gesehen ist die Beteiligung
von Laienrichtern an der Rechtsprechung ein Etikettenschwindel, eine
demokratische Augenwischerei. ... (S. 65)
In der Regel ist die
Staatsanwaltschaft eine Durchgangsstation zu den höheren Weihen eines
Ministeriums oder des Richterdienstes, eine Ochsentour, die man durchlaufen
muß, um in die begehrten Gefilde ministerialer oder richterlicher Tätigkeit
vorzudringen. Der junge Jurist, der sein Assessorexamen bestanden hat, fängt
zunächst einmal als Staatsanwalt an, wird, wenn er sich in einem Referat der
Staatsanwaltschaft bewährt hat, nach 2 ‑ 3 Jahren Richter und kehrt dann
vielleicht in einer höheren Funktion zur Staatsanwaltschaft zurück. ... (S. 69)
Mit Sicherheit wird das
Weisungsrecht praktiziert, wenn der Minister eine bestimmte rechtspolitische
Linie durchsetzen will.... (S. 75)
Ob das öffentliche Interesse
die Verfolgung einer Straftat zwingend macht oder nicht, bestimmt nicht der
Staatsanwalt sondern höhere Gewalten. ..." (S.76)
Soweit äußerte sich dieser
Sachkenner gegenüber der Öffentlichkeit. Sicherlich hätte er im trauten Kreis
noch über viel mehr Unheimliches zu berichten, von dem der "Volksverhetzungs"‑Angeklagte
nichts erfährt. Für Publizisten ist es gewiß allgemein gefährlich, sich
kritisch über Hintergründe im Justizwesen zu äußern. In der Bundesrepublik
Deutschland dürfte für diese Zurückhaltung besondere Vorsicht geboten sein,
weiß man doch eigentlich nicht, wem man mehr zu gehorchen hat: den
ausländischen Diensten der Freunde oder ihren Statthaltern im Inneren des
Landes oder den parteipolitischen Anweisungen des eigenen Justizministers, der
"das konsequente Vorgehen der staatlichen Behörden gegen die legalen
Aktivitäten" unerwünschter Leute (hauptsächlich Patrioten, vgl. S. 3,
Aussage des Verfassungsschutzpräsidenten 1995) auf den Transmissionsriemen der
Justiz zu übertragen hat.
So ist ein Kurzbericht des
Spiegel vom 20. Mai 1968 zweifellos eine Seltenheit, aber um so
aufschlußreicher, so daß er nicht der Vergessenheit anheimfallen sollte. Er
greift einen Streikversuch etlicher Richter auf, die sich von der staatlichen
Exekutive allzu stark umklammert und in ihrer "Unabhängigkeit"
beeinträchtigt wähnten.
In einem Frankfurter
Schwurgerichtssaal ‑ und nicht nur dort ‑ versammelten sich
"rund 160 Richter und Staatsanwälte" und nahmen zu einer
halbstündigen Protestversammlung Platz.
"Die Rechtshüter folgten
mit diesem in der deutschen Justizgeschichte beispiellosen Auftritt einer
Empfehlung ihrer Standesorganisation des Deutschen Richterbundes, dem rund
12.000 von insgesamt 15.000 bundesdeutschen Richtern und Staatsanwälten angehören.
Und dennoch waren die
Protestanten Abtrünnige ihres Dachverbandes ‑ denn der hatte seine
Empfehlung zum Protest mittlerweile schon widerrufen.
Am 29. März (1968) hatte der
geschäftsführende Bundesvorstand des Richterbundes beschlossen, für den Vormittag
des 15. Mai eine außerordentliche Vertretungsversammlung nach Bad Godesberg
einzuberufen auf der die Repräsentanten der Dritten Gewalt standespolitische
Forderungen und Probleme der überfälligen Justizreform diskutieren wollten.
Zu dieser Veranstaltung
sollten die Landesverbände Solidaritätsbekundungen abgeben. ... "
Der Frankfurter
Oberamtsrichter Werner Büttner, Sprecher des Richterbundes für das Rhein‑Main‑Gebiet,
übergab der Deutschen Presse‑Agentur (dpa) eine Erklärung, in der deutlich
gemacht wurde, daß "die deutsche Richterschaft sich mit wirksameren
Methoden als bisher ihrem Ruf nach Reformen Gehör verschaffen wolle, um endlich
der bedrohlichen Umarmung durch die Exekutive zu entgehen."
dpa tickerte unverzüglich in
den Äther:
"Zum ersten Mal in der
Geschichte der deutschen Justiz streiken die Richter."
Zwar bekamen nun einige
Verbandskollegen kalte Füße doch fanden sich in zahlreichen Städten jeweils
über 100 Justizdiener zu den vorbereiteten Versammlungen ein, in der Stadthalle
von Bad Godesberg sogar rund 1.000.
"Die einen plädierten für
besseren Sold, die anderen für größere Unabhängigkeit. ... "
Der Landesvorsitzende des
nordrhein‑westfälischen Richterbundes, Hans Gütterer, rief in seinem
Referat über die 'Situation der Dritten Gewalt' den richterlichen Notstand aus.
Die
Richter seien heute "nicht mehr als ein Ast am mächtigen Baum der
Exekutive'', und man habe bisher "nicht mehr getan und erreicht, als den
Schein des Rechtsstaates zu setzen", aber wahrscheinlich wolle man auch "nicht
mehr als den Rechtsschein".
Es gelte endlich, "die
Verfassung durchzusetzen gegen das Heer der Beamten in einem Staat, in dem
Verwaltungstätigkeit früher neben dem Offiziersberuf allein großgeschrieben
wurde und nach dem Krieg die unangefochtene Alleinherrschaft angetreten hat."
Die grundgesetzlich verbriefte
Unabhängigkeit der "Dritten Gewalt sei gegenwärtig eine Farce", und
wie Münsters ehemaliger Oberverwaltungsgerichtspräsident van Husen mit Recht
gesagt habe, "eine verlogene Angelegenheit".
Bundesvorsitzender Drees
suchte in Godesberg die Mitte. Einerseits forderte er in starkem Deutsch eine
Justizreforrn an "Haupt und Gliedern". Andererseits wollte er die
außerordentliche Vertreterversammlung keineswegs als "Protestaktion" verstanden
wissen und beteuerte, es sei "nie beabsichtigt gewesen, standespolitische
Maßnahmen durchzusetzen". Denn: "Ein Richter kann nicht streiken. ...
"
Seit 1968 ist nichts von einer
Justizreform bekanntgeworden. Das heißt mit anderen Worten: Es ist alles beim
alten geblieben. Die "Umarmung" durch die Exekutive, aber auch durch
die Presse-Gewaltigen scheint vollkommen. Man schaue sich die seit der
deutschen Kapitulation jahrzehntelang gleichgebliebene Regie der Sieger‑
und Lizenzpresse an und vergleiche die auf gleicher Linie abgelaufenen
politischen Prozesse, weitestgehend unter Mißachtung der Verteidigungsvorträge
und ‑beweisanträge, und dies bei einer ohnehin einseitigen
Rechtsgrundlage, die Verbrechen an Deutschen ausklammerte, ausländische Zeugen
gegen Deutsche ‑ meist die einzigen "Beweismittel" ‑ der
Meineidhaftung entband, technische Untersuchungen über Tatwerkzeuge
verweigerte, Gutachten allenfalls von gleichgeschalteten Instituten zuließ und
schließlich unerwünschte Aussagen ‑ selbst von Rechtsanwälten in
Verteidigung ihrer Mandanten ‑ unter Strafe stellte.
Quelle: Historische Tatsachen Nr. 81 / 5 - 7