Prozeß Marloh
Ceterum censeo, Noske esse eundum
Der Spitzel einer
Organisation, deren Mitglieder Mord und Totschlag brauchen, um ihre gut
bezahlten Stellungen zu behalten, meldet dem Nachrichtenoffizier eines der
Freikorps, die Volks-Marine-Division beabsichtige, in der Französischen Straße
einen regierungsfeindlichen Putsch zu unternehmen. Die Meldung wird nicht
geprüft, sondern mit Freuden
aufgenommen, weitergegeben und übertrieben. Ein junger Offizier mit fünfzig
Mann wird entsandt; die Räume der Division werden besetzt. Dreihundert Leute
gehen in die Menschenfalle. Der kluge Offizier, aufgehetzt und getrieben von
den sich jagenden Befehlen seiner Vorgesetzten, sucht sich, damit irgend etwas
geschehe, und ohne daß die Festgenommenen Widerstand leisten, neunundzwanzig
Mann heraus — von seinem preußischen Offiziersstandpunkt aus diejenigen, die
klug aussehen — und läßt sie erschießen. Dann erscheint in der Presse ein
falscher Bericht dieses Vorgangs; der Offizier ist gezwungen, falsche Berichte
an seine Vorgesetzten zu machen, die die Wahrheit kennen; dann flieht er. Er
wird später gefaßt, einem ordentlichen
Gericht entzogen und vor ein Sondergericht gestellt; seine Kameraden sprechen
ihn frei.
Die Beurteilung dieses Mordes
kann nur erfolgen, wenn man die Welt, aus der er hervorgegangen ist, genau
kennt. Diese Welt ist skrupellos, tief unwahrhaftig und von einem großen Teil
des deutschen Volkes heut noch verehrt und geschätzt. Die Verhandlungen haben
gezeigt, wie verlogen dieser Apparat arbeiten kann: in dem Augenblick, wo über
eine Lüge das Wort <Bericht> gesetzt wird, verstummt der Zweifel; in dem
Augenblick, wo das Wort <Dienst> fällt, hat alles in Ordnung zu sein. Der
preußische Offizier lügt nicht. Er tat Schlimmeres.
Es scheint mir nun einmal an
der Zeit, hier öffentlich auszusprechen, was ich seit langem auf dem Herzen
habe. Ich weiß, daß das taktisch nicht richtig ist; ich weiß, daß man den
Mitkämpfern den Mut nicht nehmen soll, ich weiß auch, daß ich trotzdem nicht
aufhören werde, für Menschen gegen das alte deutsche Offizierkorps zu kämpfen.
Aber ich muß es einmal sagen: Dieser Kampf scheint aussichtslos.
Das deutsche Volk, in einer
beispiellosen Katastrophe zusammengebrochen, die es zur guten Hälfte selbst
verschuldet hat, befindet sich heute in schwerem wirtschaftlichem Niedergang.
Wir haben realiter den Staatsbankrott. Die Fähigkeit weiter Volkskreise zu
irgendwelchen Emotionen ist völlig erschöpft. Die Leute können nicht mehr. Das
Gefühl für Anstand, für Recht und Gerechtigkeit — es ist völlig geschwunden.
Wärs nicht so, dann brauchte nicht Punkt um Punkt nachgewiesen zu werden, daß
dieser Vorgang, von der Spitzelmeldung bis zum Freispruch des Marloh, ein
einziger Sumpf ist. Die menschliche Minderwertigkeit, mit Unwahrheiten und
Verschleierungen zu arbeiten, um ein Verbrechen zu verdunkeln, die unfaßbare
Roheit, Deutsche, die andrer politischer Meinung sind, wie Tiere abzuschlachten
— das wächst ausschließlich auf dem deutschen Kasernenhof. Die Leichen der Unglücklichen
sollen furchtbar ausgesehen haben: es sind offenbar nicht alle auf jenem Hof
erschossen, sondern sechs Geflüchtete sind im Keller massakriert worden; der
Überlebende hörte ihre Todesschreie. Einem war die Wade von oben bis unten
aufgeschlitzt; einem der Schädel eingeschlagen. Nach dem Mord spazierten die
Offiziere auf dem Hof herum, betrachteten die am Boden liegenden Leichen, und
einer sagte: «Seht mal, wie anständig die Hunde angezogen sind! Man sollte
ihnen die Stiefel ausziehen!»
Der Pfarrer Rump hat in eine
Korruption hineingeleuchtet, die man nicht erwähnen durfte, ohne von Tausenden
maßlos beschimpft zu werden — bis tief in die demokratische Partei hinein. Dem
Pfarrer Rump fiel es sichtlich schwer, gegen Leute, die er kollektiv verehrt
hatte, derartig auszusagen. Er hat es trotzdem getan. Was sagte er?
Er sagte, daß
alle diese Offiziere, einer wie der andre, bestrebt waren, bewußt, unter
bewußtem Mißbrauch ihres moralischen Kredits, die vorgesetzten Dienststellen
und die gesamte Öffentlichkeit zu belügen. Er sagte, daß mit Bestechung,
Begünstigung, Urkundenfälschung und dienstlichen Falschmeldungen gearbeitet
worden ist, um ein System, das noch lange nicht genug Feinde hat, vor
Anfeindungen zu bewahren. Nicht das, wie ich hier in meinen <Militaria>
immer wieder und wieder und wieder betont habe, ist ja das Schlimme, daß in
einer großen Organisation Übergriffe vorkommen, sondern daß der Kernpunkt da
sitzt: Wie stellen sich die Kameraden, wie stellt sich die Kollektivität dazu? Es muß gesagt werden,
daß noch der letzte Verbrecher, wenn er nur Offizier ist, von seinen Kameraden
in einem ganz falsch angebrachten Zusammengehörigkeitsgefühl gestützt und
geschützt wird. Sie halten zusammen wie die Kletten. Dann müssen sie sich auch
zusammen bewerten lassen.
Kleine menschliche Einzelheiten
bleiben haften. «Es ist doch hochanständig», sagt Reinhard, «daß Kessel noch
heute seine Hintermänner deckt.» Aber auch Einbrecher haben ein gewisses
korporatives Ehrgefühl, das jeder Kenner ihnen zubilligen wird, ohne es
deshalb anders als losgelöst von seinen Trägern hoch zu bewerten. In allen
Betrachtungen wird fast immer vergessen, daß der Urgrund dieser Dinge
kriminell ist, und daß ein Befehl und eine Anordnung irgendeines
Gehaltsempfängers eine verbrecherische Handlung nicht sakrosankt machen. «Der
Oberst», sagt ein junger Leutnant aus, «wußte auch gar nicht, was er mit den
vielen Gefangenen anfangen sollte.» Und ließ sie, infolge mangelnder
Unterbringungsmöglichkeit also, erschießen? Ich war dabei, als diese viehisch
rohe Äußerung vorgebracht wurde — Reinhard saß auf der Zeugenbank, und kein
Muskel zuckte in seinem Gesicht. Tapfer — und unbeteiligt — stand er seinen
Mann. Das Wort <Hintermänner> tauchte auf. Finanzleute waren da,
Menschen, die helfen wollten. Verbluten kann einer von uns — sie würden noch
nach dem Zuckenden treten. Marloh hatte die Möglichkeit, Geld, Ausweise,
Reisegelegenheit zu erhalten, und alles, was er sonst brauchte.
Über das Verfahren soll hier
nicht ernsthaft gesprochen werden. Man erspare es mir, mein Juristenherz
auszuschütten. Vielleicht war das früher anders — wir hatten immer geglaubt,
daß der Vorsitzende in einem strafrechtlichen Verfahren alles zur Ergründung
der Wahrheit tun müsse. Das ist hier nicht geschehen. Viele wichtige Dinge sind
nicht untersucht worden: Wer hat die verlorenen und noch nicht genug
gefälschten Berichte entwendet? Warum verweigern die Zeugen die Aussage? (Es
wäre Sache des Vorsitzenden gewesen, diese Gründe sorgfältig herauszuarbeiten.)
Wie kam Reinhard zu der Annahme, daß dort in der Französischen Straße wirklich
eine regierungsfeindliche Aktion im Gange war? Wie sind die gefälschten Papiere
zur Flucht zustande gekommen? Die Größe unsres Vertrauens zur bürgerlichen
Rechtsprechung geht aus unserm Ruf nach ihr hervor: jeder bürgerliche Strafrichter
hätte besser gearbeitet. Der geschickte Verteidiger des Angeklagten hatte
leichtes Spiel.
Und hier möchte ich
aufnehmen, was ich anfangs andeutete: Es scheint aussichtslos. Wir kämpfen hier
gegen das innerste Mark des Volkes, und das geht nicht. Es hat keinen Sinn, die
Berichte Punkt um Punkt durchzugehen, hier Widersprüche nachzuweisen und da
Lügen, Roheiten und Minderwertigkeiten. Daß die Dienststellen der sogenannten
Zeugen keinen Mann dieser Gesellschaft auch nur vom Dienst suspendiert haben,
war nicht anders zu erwarten. Daß der Reichswehrminister sich der Lämmer
annahm, ist selbstverständlich. Er steht und fällt mit diesem Pack. Er hat sie
benutzt, sie wollen Lohn. Und er zahlt.
Noske, der Mann von der
Straße, der Revolutionsminister, ist beim Gros der Bevölkerung fast beliebt.
Soweit er aus den Decken, in die ihn sein Adjutant eingewickelt hat,
hervorguckt: ein kopfloser Mann. Ich habe eigentlich noch niemals in der
deutschen Politik — außer beim Kaiser — ein solch erschreckendes Maß von Einsichtslosigkeit
in alle tiefern Zusammenhänge gesehen. Er weiß gar nicht, worum es sich
handelt. Er weiß nicht, daß der Militarismus eine geistige Gefahr ist; er weiß
nicht, daß hier Mächte am Werk sind, alles schlechte Alte zu konservieren und
einer gradezu barbarischen Schicht wieder auf die Beine zu helfen. Er weiß es
nicht und hilft mit. Nach dem Bibelwort müßte ihm der Herr vergeben — daß er
die deutsche Welt täglich um Jahre zurückbringt, sollte ihn die Absolution
kosten. Die deutsche Welt tut ihm alles, was er verlangt.
Das kindliche
alte Spiel der Aufrechnung beginnt. Die Kommunisten in Dresden haben ... die
Kommunisten in München haben . . . Aber gewiß haben sie. Und? Entschuldigt
das? Hier handelt es sich doch nur darum, ob die traditionelle Erziehung des
deutschen Offizierkorps solches unmenschliche Verbrechen begünstigt hat oder
nicht. Sie hat es hervorgerufen.
Das kindliche alte Spiel der
Kompetenz beginnt. Das ist nicht Sache des Kriegsgerichts, das ist nicht Sache
der vorgesetzten Dienststelle, das ist nicht Sache des Reichswehrministers. Mir
sagte einmal eine Russin, ihre zaristische Rechtsprechung sei die beste der
Welt gewesen. «Und Sibirien?» wandte ich ein. «Aber», sagte sie, «das ist nicht
Sache der Rechtsprechung — das macht die Verwaltung!» So feine Unterschiede
gibts.
Ich resigniere. Ich kämpfe
weiter, aber ich resigniere. Wir stehen hier fast ganz allein in Deutschland —
fast ganz allein. Denn was sollen wir mit Parteien, was mit Publizisten
anfangen, die in den wichtigsten Punkten eine reservatio machen und sagen: «Ja
— aber...» Und wir sagen: Nein. Fest steht: die Mörder der deutschen Radikalen
sind bis jetzt straflos ausgegangen. Was die Voruntersuchung nicht schafft,
besorgt das sogenannte Gericht; gibts hier ein Unglück, dann tut die Exekutive
das ihre; hilft alles nicht, läuft der Mann weg oder wird krank. Ihm kann nix
gschehn.
Ist heute ein müder Tag? Ich
will mich ja gern beschimpfen und anklagen lassen, ich will ja gern alles auf
mich nehmen — wenn ich nur nicht sehen müßte, wie grauenhaft allein wir stehen.
Ist denn moralische Sauberkeit wirklich nicht mehr das absolut erste
Erfordernis des öffentlichen Lebens? Wohin geraten wir? Wo treiben wir hin?
Wohin soll es führen, wenn nun auch die Rechtsprechung anfängt, zu wanken: wenn
politische Gesichtspunkte ganz offen Sondergerichte beeinflussen? Wie lange
noch, und die ordentlichen Gerichte folgen. Und dann ists aus.
Pathos tuts nicht und Spott
nicht und Tadel nicht und sachliche Kritik nicht. Sie wollen nicht hören. Sie
hangen mit ihrem ganzen Herzen an den <Herren>, an Menschen, die nicht
einmal leidenschaftlichen Haß verdienen, sondern nur Verachtung. Ist heute ein
müder Tag? Ich habe hier gerufen und gerufen — laßt mich heute still sagen: Die
Kaste verlangt für sich eine besondere Beurteilung, sie stehen alle für einen —
sie sollen die Beurteilung haben. Immer und immer wieder. Aber ist das
Vertrauen der Deutschen zu diesen Burschen zu erschüttern? Noch heute würden
sie auf diese Berichte und Meldungen schwören — und käme morgen eine neue
Gelegenheit, sie handelten alle grade so. Sie sehen nicht, sie hören nicht, und
der himmlische Noske ernährt sie doch.
Der Prozeß ist morgen
vergessen. Übermorgen bekommen wir wieder etwas von dem tüchtigen Geist des
deutschen Offizierkorps zu hören. Die Kindlein, sie hören es gerne. Und,
kurzstirnig, stets im Begriff, durch eine Pistolenknallerei Ehrenflecke aus der
Welt zu schaffen, hartherzig und ungeistig, ragt der Koloß des eisernen
Hindenburg aus dem Trümmerhaufen.
Trotzalledem: wir wollen doch sehen, daß man ihn als
Abbruch verkauft. Das Ziel ist fern. Aber es gibt eins.
Quelle:
Kurt Tucholsky 1919
Anmerkung:
Daß das deutsche Volk nicht viel dazu gelernt hat und auch nach der zweiten
Katastrophe solche „Eliten“ duldet, können wir bestätigen. Der kriminelle
Korpsgeist der damaligen Offiziere hat sich bis auf den heutigen Tag unter
anderem bewahrt in der Justiz und in Teilen der Ärzteschaft. Beides
„Kameradschaften“, die sich unter den Nazis nicht mit Ruhm, dafür aber um so
mehr mit Blut bekleckert bzw. besudelt haben. Tucholskys Worte „Ich resigniere.
Ich kämpfe weiter, aber ich resigniere“ las ich erneut bei Dr. Egon Schneider,
Nestor des Zivilprozessrechts und ehrenwerter Kämpfer gegen die bösartige
Rechtsbeugermafia innerhalb der deutschen Justiz. In diesem Zusammenhang sei
auch der Ausspruch unseres „Staranwalts“ Rolf Bossi in Erinnerung gerufen: „Ich
werde bis zum letzten Atemzug kämpfen gegen das illegale Fortbestehen des
Dritten Reichs in der Justiz“.