Prozeß Harden
Holzapfel: Man hält
Euch hier für den allerstupidesten und fähigsten Menschen, um Konstabler bei unsrer Wache zu sein; darum sollt Ihr die
Laterne halten. So lautet Eure Vorschrift: Ihr sollt alle Vagebunten irritieren; Ihr seid dazu da, daß
Ihr allen und jeden zuruft: «Halt! in des Prinzen
Namen!»
Zweite Wache: Aber
wenn nun einer nicht halten will?
Holzapfel: Nun seht
Ihr, da kümmert Euch nicht um ihn, laßt ihn laufen, ruft sogleich die übrige
Wache zusammen und
dankt Gott, daß Ihr den Schelm los seid.
<Viel Lärm um nichts>
Erster Mörder: Mein König, wir
sind Männer.
Macbeth: Ja, im Verzeichnis lauft Ihr mit als Männer!
<Macbeth>
Das muß man gesehen haben. Da muß man hineingetreten
sein. Diese Schmach muß man drei Tage an sich haben vorüberziehen lassen: dieses
Land, diese Mörder, diese Justiz.
Der deutsche politische Mord der letzten vier Jahre
ist schematisch und straff organisiert. Die Broschüre: <Wie werde ich in
acht Tagen ein perfekter nationaler Mörder ?> sollte nicht auf sich warten
lassen. Alles steht von vornherein fest: Anstiftung durch unbekannte Geldgeber,
die Tat (stets von hinten), schludrige Untersuchung, faule Ausreden, ein paar
Phrasen, jämmerliches Kneifertum, milde Strafen, Strafaufschub, Vergünstigungen
- «Weitermachen!»
Am dritten Juli 1922
wurde Maximilian Harden auf offner Straße von einem frühern Oberleutnant
angefallen und mit einem eisernen Gegenstand bearbeitet. Er erhielt acht
Schläge auf den Kopf. Der Oberleutnant entfloh, sein Komplice, der Schmiere
gestanden hatte, wurde verhaftet. Harden schwebte vierzehn Tage in
Lebensgefahr. Er ist heute einundsechzig Jahre alt.
Die Voruntersuchung stellte -
in fünf Monaten - nur fest, daß ein deutschvölkischer Mann in Oldenburg, der
sich Buchhändler nannte, die beiden zum Mord angestiftet hatte. Das bezeugte
der Briefwechsel, worin alle Beteiligten dauernd von <Erledigen> und
<Beseitigen> sprachen. Briefe, in denen nicht von Geld die Rede ist,
existieren nicht.
Eine Welt stinkt auf.
Hinter der Schranke stehen
zwei Mann (der Ausdruck <Menschen> wäre übertrieben): ein sexuell
verbogener Wandervogel mit Schillerkragen, hehren Überzeugungen und
ungewaschenen Füßen - und ein Hütejunge für eine Kuhherde mittlern Grades. Der
Hütejunge sagte, er hätte die <Zukunft> gelesen und wäre mit ihren
Ausführungen nicht immer zufrieden gewesen; der Wandervogel will sein
kaschubisch-slawisch-friesisch-wendisch-germanisches Blut rein erhalten und
möchte nicht in die Grenadierstraße einheiraten. Infolgedessen mußte Harden
ermordet werden.
Grenz chartert zwei Mann: den
Oberleutnant Ankermann und den kleinen Weichardt. Warum grade diesen? Weichardt
habe in einer Versammlung der ernsten Bibelforscher gegen «kommunistische
Sturmtrupps großen Mut und völkisches Gebaren» gezeigt; der andre kam wohl
mehr aus finanziellen Rücksichten. Das Spiel beginnt.
Die beiden Mörder fahren
nach Berlin. Sie wohnen zunächst in einem Absteigequartier und verjuchheien den
Vorschuß auf die Seligkeit ihres Opfers. «Außer mit weiblichen Personen», so
wird eingestanden, verkehrten sie in Berlin mit niemand. Die Kosten für den
stattgehabten Verkehr bestreitet Grenz. Woher der das Geld hat, ist nicht klar.
Ist auch schließlich gleichgültig. Ob es wirklich aus dem münchner Verbrecherkeller
kommt, oder ob er die Scheine aus völkischen Kassen zusammengekratzt hat, um
sich bei seinen Mannen einen Namen zu machen, so leuchtend wie der von Luther,
Ludendorff, Bismarck oder Techow - das steht nicht fest. Ein von ihm
rekonstruierter Brief, den er aus München erhalten haben will, zeigt
allerdings die fatal echte Stelle: «Einige deutsch-blütige Herren haben sich zu
dieser Aufgabe zusammengefunden und sind bereit, Opfer zu bringen; sie selbst
sind leider zu alt, um selber daran teilnehmen zu können ...» Auch Grenz war unabkömmlich: er wurde
in Oldenburg zu wichtigern Aufgaben benötigt - sonst hätte er sich wohl das
Geld selbst verdient, von dem er jetzt nur die Prozente nimmt. Genug: er
schickt. Nicht ohne dauernd zu mahnen, nun aber endlich einmal an die Bouletten
zu gehen. Die Terminologie seiner und ihrer Briefe ist eine anmutige Mischung
von mittelalterlicher Feme und modernem Konfektionsgeschäft. «Und wollen Sie
den Ihnen aufgetragenen Mord freundlichst bis zum achtzehnten dieses promptest
effektuieren.»
Aber zunächst
effektuieren sie gar nicht. Herr Oberleutnant Ankermann borgen die berliner
Huren an, ohne ihnen die Mark, die jene dem deutschen Volk aus den Knochen
gesogen haben, wiederzugeben - der seltene Fall eines doppelten Ludentums. Denn
seine Auftraggeber neppt er ähnlich - er nimmt ihr Geld, liefert aber nichts.
Der kleine Weichardt immer mit.
Herr Oberleutnant
Ankermann wird allgemein als <Vorgesetzter> bezeichnet. Kein Deutscher
ohne einen solchen. Offenbar ein tüchtiger Herr. Weil er einmal verheiratet
war, bekommt er von Grenz, wahrscheinlich als Kinderzulage, eine höhere
Löhnung als Weichardt. Suum cuique. Inzwischen bummeln die beiden durch Berlin.
Sie wohnen in einem Zimmer.
Sie saufen in einer Bar. Sie leben zum Schluß aus einem Koffer. Aber Weichardt
wußte nichts von einem Mordplan. Der Chef vons Ganze war Ankermann. So steht es
wahrscheinlich in den Richtlinien für deutschnationale Mörder und solche, die
es werden wollen> - und so wird es auch gehandhabt. «Ich habe immer Wert
darauf gelegt, nicht zu wissen, worum es sich handelt», sagt der kleine
Weichardt. «Was mag das wohl sein?» sagte die Jungfrau - da bekam sie ein Kind.
Und mittlerweile geht das Geld zur Neige.
Anzüge werden versetzt, der
erste Koffer ist schon bei Peten. Jetzt oder nie. Beide beobachten tagelang
Hardens Haus, Hardens Spaziergänge. Beide gehen stets gemeinschaftlich in den
Grunewald und wieder zurück. Beide gehen schließlich am dritten Juli in die
offene Feldschlacht (von hinten). Beide mit Totschläger und Messer.
Ankermann führt acht Schläge
auf den Wehrlosen. Besinnt sich dann auf die Kriegsartikel (<Mut in allen
Dienstobliegenheiten>) und kneift aus. Weichardt wird in unmittelbarer Nähe
des Tatorts aufgegriffen. Gesteht fast alles, was er weiß. Verrät sofort
Ankermann und Grenz. Sitzt in Untersuchungshaft und bohrt gedankenvoll in der
deutsch-nationalen Nase.
«Sind das die Früchte seiner
tadellosen Erziehung?» fragt der Verteidiger. Sie sind es.
Denn diese Pädagogik, die heute in weiten Kreisen des
deutschen Bürgertums betrieben wird, erzieht den jungen Menschen zur Verachtung
des Geistes, zur Sturheit und Stumpfheit, zum tobenden Haß auf alles, was den
nationalistischen Bezirksverein und den Fußballklub überragt. Gegner Hardens?
Aber diese Jammerkapaune, die da drei Tage lang so ungeschickt logen, daß sich
Balken und Protokolle bogen, wissen ja nicht, wo Gott wohnt. Sie haben nicht
einmal eine Ahnung von den
geistigen Problemen, die dieser Politiker sein Leben lang behandelt hat -
geschweige denn von seiner Stellungnahme zu ihnen. Für sie genügte: «Es lag
Auftrag vor.»
Grenz hatte es mit der
Rasse-Reinheit. Bei ihm wurden Nacktfotografien beschlagnahmt, die so
scheußlich gewesen sein sollen, daß der Abgeordnete Nuschke im Preußischen
Landtag gesagt hat: «Meine Herren, Sie sehen doch, daß diese Rasse durch Juden
nur veredelt werden kann!» Soweit Wotan mit dem Hängebauch.
Was den kleinen
Weichardt angeht, so hatte er erst im März dieses Jahres zwei Jahre Gefängnis
wegen fahrlässiger Tötung bekommen; er hatte mit seinem Revolver hantiert und
ein Kind getötet. («Ich habe alles getan, um es wiedergutzumachen. Ich habe die
Beerdigungskosten bezahlt!») Er erhielt natürlich eine Bewährungsfrist. Aber
nun kam etwas Überraschendes zutage. Ich glaubte erst, nicht recht gehört zu
haben - aber der Verteidiger bestätigte es in seinem Plädoyer: Weichardt
wollte sich mit der Mordtat bei seiner Familie rehabilitieren! Er wollte seinem
lieben Vater eine Freude machen!! «Hier, Papi, bringe ich dir zu Weihnachten
den toten Maximilian Harden! Na, wie bin ich?» - «Brav, mein Sohn, brav!»
Familienleben im Hause Weichardt.
Für die Mordgesellen traten
drei Leumundszeugen an. Diese Germanen hätte man fotografieren sollen. (Aber,
Gott behüte, nicht so wie Grenz.) Modelle für Raemaekers. Der ehemalige
Schuldirektor Weichardts sagte aus, daß das gutartige Kind während der
Schulzeit niemals auf Spatzen und deutsche Schriftsteller geschossen habe. Der
aufgeweckte Knabe hat also den Auftrag für die <nationale Sache> nur
angenommen, weil er - seffaständlich - dachte, es handle sich um
Gefangenenbefreiung oder um Waffenschiebungen, Arbeiten, an denen kein national
denkender Mann von heutzutage vorbeigehen sollte.
So standen sie vom zwölften
bis zum vierzehnten Dezember vor dem Schwurgericht des Landgerichts III zu
Berlin. Solch eine Verhandlung hat die Welt noch nicht gesehen.
Verteidigt wurden die
Angeklagten von zwei Rechtsanwälten und dem Vorsitzenden. Der Mann ist Jude. In
seinem Unterbewußtsein schlummerte der Wunsch nach <Objektivität>, diese
grauenhafte Angst vor der Parteilichkeit. Dieser Herr Rippner war weder in
repräsentativer noch in menschlicher Hinsicht den Anforderungen dieser klaren
und einfachen Verhandlung gewachsen. Er versagte nicht nur. Er verdarb alles.
Die
Atmosphäre im Saal war die eines freundlichen Fünf-Uhr-Tees. Die Angeklagten
machten auch nach den fünfzehn Stunden des dritten Tages keineswegs einen
ermüdeten Eindruck - sie hatten auch gar keine Veranlassung dazu. Man hatte
mit ihnen geplaudert; und nett geplaudert. Keine Vorhaltungen, keine
Bedrängungen, kein böses Wort - nichts. In den ersten drei Stunden war nur von
Geld die Rede. Später ging man zu andern fesselnden Dingen über: ob die
La-Plata-Zeitung nationalistisch sei oder nicht; wie Herr Thimme zu Herrn
Harden stehe; ob nicht Herr Harden ein Schädling des deutschen Volkes sei...
Von Mord wurde weniger gesprochen. Der Vorsitzende hatte in seinen heftigsten
Momenten etwas von einem Oberlehrer, der einem Jungen nachweisen will, daß er
eine Fensterscheibe kaputt geschlagen habe. Ich weiß nicht, ob Herr Rippner
eine Tochter hat. Wenn er aber eine hat, dann gönne ich ihm nicht, daß er als
Nebenkläger einer Verhandlung beiwohnen muß, in der gegen den Vergewaltiger seiner
Tochter verhandelt wird, und in der ein solcher Vorsitzender, wie er einer ist,
paradiert. Am Ende, des zweiten Verhandlungstages sagte Herr Rippner: «Wie ich
höre, ist der Gesundheitszustand des Herrn Weichardt nicht ganz
zufriedenstellend - wir wollen doch vertagen!» Auf dem Korridor stand das Opfer
des Mordanfalls, ein einundsechzigjähriger Mann, der Stunden und Stunden im
Gerichtsgebäude zugebracht hatte.
Einen Situationsplan des
Tatorts hatten sie. Einen Verhandlungsplan hatten sie nicht. Ich habe so etwas
von Prozeß überhaupt noch nicht erlebt.
Zugegeben, daß die
Voruntersuchung auf derselben Höhe stand. Aber was dieser Vorsitzende aus dem
kümmerlichen Untersuchungsmaterial machte, unterbot doch deren Niveau noch
tief. Die Angst vor den Revisionsgründen ist freilich traditionell. Aber dies
hier war schmachvoll zu sehen.
Der Vorsitzende hat
nicht erkundet, auf welcher geistigen Stufe die Angeklagten standen, um
festzustellen, was sie eigentlich von Harden wußten. Der Vorsitzende hat nicht
gefragt, auf welchem Postamt Grenz das mysteriöse Schreiben in Frankfurt
abgeholt habe, um so vielleicht herauszubekommen, ob er geblufft worden sei.
Der Vorsitzende hat bescheiden die Behauptung hingenommen, Grenz sei nur nach
München gefahren, «um die Alpen zu sehen». Der Vorsitzende hat nicht
aufgeklärt, welche Rolle Weichardt eigentlich am Tatort gespielt hat. Der
Vorsitzende hat eine Bardame nach den Zechen der beiden Mörder gefragt. Bevor
sie antworten konnte, fiel er ein: «Das wissen Sie wohl nicht mehr?» - «Nein,
das weiß ich nicht mehr!» flüsterte sie. Es war nicht die einzige Ausrede, die
er zur gefälligen Benutzung herüberreichte. Der Vorsitzende hat nicht die
primitivsten Fragen gestellt: wann die merkwürdigen Ratenzahlungen eingelaufen
seien, wie das Geld im einzelnen verwandt worden sei - nichts, nichts, nichts.
Erheblich schien ihm, daß der Angeklagte Weichardt
einen Brief bekommen hatte, in dem etwas von einem kranken Familienmitglied
stand. Nicht erheblich die Frage, ob denn die Angeklagten nicht in allen Zeitungen
gelesen hätten, daß Harden seine Amerikareise längst aufgegeben hatte.
Erheblich war die Verlesung einer längeren Kriegsstammrolle Weichardts - nicht
erheblich war und abgelehnt wurde die Frage, wie denn die Mörder den
behaupteten <Denkzettel> austeilen wollten: Harden konnte ja gar nicht
wissen, daß dieser Überfall eine Warnung wegen der Reise bedeuten sollte.
Erheblich waren die Fehler. Nicht erheblich der Vorsitzende. Man gebe ihm
seine Ehescheidungskammer. Zu einem Schwurgerichtsvorsitzenden langt es nicht.
Soweit dieser deutsche Richter.
Der Staatsanwalt war nicht
vorhanden. An seiner Stelle saß ein älterer Herr, der mit leiser Stimme und
freundlichen Allüren hier und da sehr vorsichtig in die Verhandlung eingriff.
Einmal, stockend: «Die Mordtaten, wie ich sie nenne ...»
In keinem andern Saal
des Hauses, darunter, nebenan, ringsherum - in keinem Saal wird solche
Behandlung Angeklagter je erlebt. Ich halte es für löblich, Angeklagte nicht
wie die Rekruten zu behandeln und ihnen - wie es sich von selbst versteht - die
Anrede <Herr> zu belassen. Für Moabit ist dieser Brauch etwas
ungewöhnlich. Man muß so ein Stück Elend von Proletarier in jenen unzähligen
anonymen Prozessen sehen, in denen keine Presse zugegen ist, um die sich kein
Mensch kümmert, in deren Verhandlungssälen sich nur ein paar Kriminalstudenten
anwärmen - man muß sehen, wie sich da die Katerschnurrbärte sträuben, mit welch
apodiktischer Gewißheit die Urteile heruntersausen, wie da Vorsitzender und
Staatsanwalt in schöner Gemeinsamkeit auf ihren Opfern herumhacken. «So, Sie
wissen nicht mehr, wo Sie in der Nacht jewesen sind? Na, da will ich mal Ihrem
Jedächtnis 'n bißchen aufhelfen!» Davon war bei diesem Gericht nichts zu
spüren.
Angst? Es wäre keinem zu verdenken.
Aber es war wohl nicht einmal
Angst. (Es sei denn jene im Unterbewußtsein des Vorsitzenden schlummernde.)
Hier mag eine Bemerkung
eingeschaltet werden. Ich weiß, daß solche Aufschreie in Deutschland nur selten
zu einer Besserung führen. Die Folge mag wohl die sein, daß Herr Rippner mit
hochrotem Kopf und der <Weltbühne> zu seinem
Landgerichtspräsidenten läuft und in einer längern Konferenz erwägt, ob hier
nicht etwas zu <machen> sei. Klagt weniger! Reformiert mehr.
Der Angeklagte Harden
... Der Nebenkläger Harden konnte sich hier besser wehren als damals auf der
Straße, sonst wäre er zum Angeklagten herabgesunken. Dieser stille Vorwurf,
daß er noch am Leben sei, diese Frechheit, ein Opfer zu <beleuchten>, wo
es sich um eine bezahlte Mordtat politischer Tröpfe handelte, diese vollkommene
Vernachlässigung der Interessen des Nebenklägers und damit der Gerechtigkeit -
das war mein Moabit, das Haus der Lieder! Nichts wurde herausgearbeitet, nichts
klargestellt, nichts für die Geschworenen sauber präpariert.
In diesem juristischen
Tohuwabohu stand Harden am dritten Tage auf. In diesem Wirbel einer Justiz, die
vor lauter Paragraphen das Recht nicht sieht; in diesem Verfahren, in dem ein
Opfer nicht genügend Mitleid erweckte, weil es nicht - wie bei den
Kriegsmusterungen - mit dem Kopf unter dem Arm ankam; in diesem Prozeß, der
bewies, wie nötig (und wie schimpflich) das Gesetz zum Schutz der Republik
gewesen ist, jenes klarste Mißtrauensvotum gegen die deutschen Richter; in
diesem Irrgarten des Rechts, in dem vom ersten ermittelnden Landgendarmen bis
herunter zum Staatsanwalt alle, alle mit dem Herzen auf der Seite solcher
Mörder stehen - in diesem Gewirr von Unrechtsfragen stand Harden auf. Und hielt
die stärkste Rede, die wohl jemals in Moabit gehalten worden ist.
Es sprach unser letzter
Europäer von Ruf. Es sprach ein Mann, mit dem noch einmal eine
verklungene Welt aufstand, der Repräsentant einer fast verschollenen Epoche,
einer, der noch an Recht, an fair play, an Sitte und Anstand auch im Kampf der
Meinungen glaubte. «Ich habe den Kaiser immer bekämpft, vom ersten Tage an -
aber getötet wurde doch unter seiner Regierung nicht.» Er wuchs weit über sich
hinaus. Über die Köpfe dieser Kleinbürger hinweg, die da um ihn herumsaßen,
sprach einer, der die Sprache der Welt, nicht die Sprache dieses Deutschland
redete. Er sprach davon, wie eine Nation zu seiner Lebensarbeit idiotisch
lallend den Refrain «Isidor!» anstimmte. (Und dabei hieß er niemals Isidor,
sondern früher einmal Felix.) Er sprach von dem unverjährbaren Delikt seines
Judentums und von der unverjährbaren Dummheit eines Regimes. Er focht
Schläger, schwere Säbel und zwei Floretthiebe, die eine der unangenehmsten
Erscheinungen im Saal pfeifend trafen. Lächelnd zog er zurück. Eine
Courtoisie...? Ein Stoß ins Herz. Er forderte die Geschworenen auf, wenigstens
offen für Freisprechung zu stimmen, wenn sie der Meinung wären, daß man unbequeme
Geistige - und besonders Juden - totschlagen dürfe. Er sprach von der Mordhetze
in den nationalen Zeitungen, von dem Unglück, das der Parvenü in Doorn
angerichtet hatte - er redete aus einem heißen Herzen und aus einem kalten
Verstand.
Und mit Erstaunen und
mit Grauen hörtens die Ritter und Edelfrauen. Da saß die alte Scheuerfrau von
der <Deutschen Tageszeitung>, einer von jener Gattung
Journalisten, die alle Prämissen zu einer Mordhetze (auch in den Tagen dieses
Prozesses!) aufkritzeln, aber den Mord durchaus verurteilen>, zu
vorsichtig, die letzte Conclusio: Töte ihn! zu rufen. Es ist erwiesen, daß
grade solche Glossen und Aufsätzchen, die strafrechtlich nicht zu fassen sind,
diese Mordtaten hervorgerufen haben. Deutsche Männer.
Harden sprach. Wer ein Herz im
Leibe hatte, war aufs tiefste erschüttert.
Aber wenn du mit
Engelszungen redetest... An den Brillengläsern dieser Geschworenen prallte
alles ab: Geschichte, Europäertum, Vernunft und Suggestion, Verstand und die
Stimme des Herzens. Eindruck im Ausland? «Wat heißt hier Ausland!» Das muß man
gesehen haben.
Da saßen sie. Da saßen jene
Zwölf, die das deutsche Volk in einer solchen Sache repräsentierten. Da saßen
die erkürten Zwölf, die bei den drei Siebungen - von denen die wenigsten Laien
etwas wissen - unten herausgefallen waren: der muffigste Mittelstand, die
Untertanen, die kleinen Gewerbetreibenden, die Besitzer, die Steuerzahler. Ich
kenne keinen Geistigen, der jemals Geschworener war. Wie die Zuchthäusler sind
wir ausgeschaltet. Unbarmherzig wird alles ferngehalten, was einigermaßen nach
eignem freiem Urteil schmeckt. Das ist kein Volksgericht.
Man muß diesen
Mittelstand kennen, der zur Polizei läuft und flennt, wenn ihm nur eine
Spiegelscheibe eingehauen wird. Ein Mordversuch? Der Kerl lebt ja. Bezahlte
Mordgesellen? Der Mensch hat ja Artikel geschrieben. Schwere Kopfverletzungen?
Isidor! Isidor!
Gewiß: aus dieser miserabel
geleiteten Verhandlung konnten die Geschworenen nicht viel entnehmen. Gewiß:
man belehrte sie eine Stunde lang umständlich über theoretische Rechtsfragen,
deren Abschrift sie während der Belehrung nicht in Händen hatten. Es ist
ausgeschlossen, daß sie, die Laien, das verstanden haben, was man ihnen in der
Rechtsbelehrung gesagt hat. Gewiß: nach deutschem Recht befinden sie sich,
nicht während der ganzen Verhandlung in Klausur - drei Tage lang lief ein
deutschnationaler Umhängebart umher und bearbeitete die Geschworenen in den
Pausen; sicherlich nicht strafbar, sicherlich sehr illoyal. Gewiß: sie
beantworten die Fragen fast ohne Kenntnis der rechtlichen Folgen ihrer
Beantwortung. Sie fallen unfehlbar in die Fangnetze der Paragraphen und
verzappeln darin. So daß also dieselben Richter, zu deren Kontrolle diese
sogenannten Volksgerichte eingesetzt sind, ihre Kontrolleure bestimmen,
ausschalten, ernennen und sie in jeder Weise beeinflussen können. Volksgericht?
Eine Farce.
Die Angeklagten haben
das letzte Wort. Ich hebe die Feder, um Weichardts Aussagen zu notieren. Ich
lasse sie mutlos wieder sinken: es ist entwaffnend. Der Hütejunge stammelt
einiges: er habe nicht gewußt, wer Harden eigentlich sei, und dann: «Ich nehme
die Tat mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück!» Das kann man nicht erfinden.
Grenz <steht zu
seiner Sache>. Dieser Provinzhorizont! Diese dürftige Phraseologie! Es geht
um einen Mordversuch, und Grenz sagt aus, er habe noch nie ein deutsches
Mädchen verführt. Es geht um einen Mordversuch gegen einen politisch
Andersdenkenden, und Grenz sagt: «Fünfzig Prozent des deutschen Volkes stehen
hinter mir!» Das ist richtig. So verlumpt, so amoralisch, so verkommen ist ein
Teil dieser Nation. Er kennt sie. Reue? Noch zuletzt, noch nach diesen Tagen,
sagt er «Harden-Witkowski». Und spricht: «Die Geschworenen werden wissen, was
sie dem deutschen Volke schuldig sind!»
Sie wußten es. Sie
verneinten alle gefährlichen Schuldfragen, sprachen Weichardt mildernde
Umstände zu und verknackten den andern nur wegen Anstiftung zu einer
gefährlichen Körperverletzung. Es lagen vor: mündliche und schriftliche
Geständnisse beider, in denen die Worte <Erledigen>,
<Beseitigen> und <Töten> klar und deutlich enthalten sind. Zusammen:
ein paar Jahr Gefängnis. Der Angeklagte Harden kann gehen.
Und nun muß das gesagt werden, was mir in der ganzen
Verhandlung die Seele abgedrückt hat:
Das ist keine schlechte
Justiz. Das ist keine mangelhafte Justiz. Das ist überhaupt keine Justiz.
Dieser Artikel erscheint
gleichzeitig im Ausland. Und vor dem Ausland und für die Verständigen im
Ausland sage ich:
Es gibt in Deutschland
noch eine Reihe Männer, die sich solcher Deutscher, die sich solcher Justiz
schämen. Die andrer Meinung sind als jene Zwölf, unter denen sich bestenfalls
ein paar Verständige befunden haben, und die doch in ihrer Gesamtheit dem
Unrecht zum Sieg verholfen haben - ein wahres Abbild des deutschen Volkes, wie
es sich in den Augen des Auslands spiegelt. Es gibt in Deutschland noch Männer,
die in unsäglicher Verachtung diesen Praktiken zusehen, wie man Mörder wiederum
auf uns losläßt und den deutschen Namen in der Welt schändet. Es gibt hier
Männer, die glauben, daß die gutmütig schwabbelnden Demokraten nichts erreichen
werden mit ihrer scheinbaren Objektivität, die Hasenfurcht heißt. Es gibt noch
eine Reihe Männer, die jedes Vertrauen zur deutschen Strafjustiz in politischen
Prozessen verloren haben, und für die diese Sprüche nichts mehr bedeuten. Ich
habe Harden vor der Verhandlung geraten, nicht hinzugehen, weil ich Moabit
kenne. Ich bedaure, daß er seine Zeit, seine Kraft und seinen Geist an diese
Männer, an diese Tage, an diesen Saal gewandt hat. Sie sind es nicht wert
gewesen.
Aber in der Welt schwelt der Spruch. Balkan und
Südamerika werden sich einen Vergleich mit diesem Deutschland verbitten, wo
selbst die 180 Mann starke Fraktion der Sozialdemokraten nichts ausrichten
kann. Von dem moralischen Freispruch der Liebknecht-Mörder, über Eisner,
Erzberger, Landauer und die Behandlung der Toller und Mühsam bis zu
Fechenbach, der für die Verbreitung bekannter Tatsachen elf Jahre Zuchthaus
erhielt: eine Kette der Schmach. Schon sind die Einpeitscher für die <Große
Koalition> am Werke. Und über allem thront dieser Präsident, der seine
Überzeugung in dem Augenblick hinter sich warf, als er in die Lage gekommen
war, sie zu verwirklichen.
Der Urteilsspruch ist klar. Er bedeutet:
«Weitermachen!» Er ist ein Anreiz für den nächsten, wie der ähnliche Spruch
gegen den Mordbuben Hirschfeld, der Erzberger anfiel, ein solcher Anreiz
gewesen ist.
Reißt dieser Justiz die
falsche Binde herunter! Wir haben keine Justiz mehr.
Il y avait des juges à
Berlin.
Kurt Tucholsky (1922)