Politische Justiz (3)
Die Straßburger Richter sehen sich nach
ihrem jüngsten Urteil dem Vorwurf
der politischen Justiz ausgesetzt
Der Vorwurf, politisch
entschieden zu haben, wird nun auch dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte (EGMR) in Straßburg gemacht. Er bezieht sich auf dessen Beschluß
vom 30. März 2005: Mit ihm hat das Gericht die Beschwerden der Opfer
politischer Verfolgung in der einstigen Sowjetischen Besatzungszone als
"unzulässig" abgewiesen (JF 15/05).
Damit haben Opfer auch in
Straßburg nicht bekommen, was sie seit 1990 vom wiedervereinigten deutschen
Staat begehren: die Rückgabe ihres vor sechs Jahrzehnten geraubten Eigentums
oder die Herausgabe des Erlöses, wenn es der Staat an Fremde veräußert hat. Vor
deutschen Gerichten bis hin zum Bundesverfassungsgericht ist dieses Begehren
mit zum Teil abenteuerlichen Begründungen durchweg abgeschmettert worden. Damit haben sich diese Gerichte den Vorwurf
von politischer Justiz eingehandelt.
Wer diesen Vorwurf jetzt auch
gegen den EGMR erhebt, verweist auf den öffentlichen Druck, der ausgerechnet
vom Bundesverfassungsgericht auf die Richter in Straßburg erzeugt worden sei.
Entstehen mußte dieser Eindruck aus dem Beschluß des Verfassungsgerichts vom
14. Oktober 2004. Darin hatte sich sein Zweiter Senat auffällig ausführlich
damit auseinandergesetzt, inwieweit EGMR‑Urteile für die staatlichen
Organe in Deutschland verbindlich und zu beachten sind. Aber die
mißdeutungsfähige Pressemitteilung des Gerichts darüber und die ihr folgenden
Medienberichte vermittelten den Eindruck, das Verfassungsgericht habe
entschieden, deutsche Gerichte müßten sich nicht zwingend an EGMR‑Urteile
halten, sondern sie nur gebührend berücksichtigen und "schonend in die nationale
Rechtsordnung einpassen".
Weiter las man, Behörden und
Gerichte dürften von den Vorgaben der Straßburger Richter auch abweichen, wenn
sie anderer Meinung seien. Eine schematische Vollstreckung der Urteile sei
falsch. Deren schematische Vollstreckung könne gegen Grundrechte und
Rechtsstaatsprinzip verstoßen. Die Menschenrechtskonvention rangiere unter dem
Grundgesetz und diene letztlich "als
Auslegungshilfe für die Bestimmung von
Inhalt und Reichweite von Grundrechten". Das Grundgesetz strebe zwar
die Einfügung Deutschlands in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher
Staaten an, "verzichtet aber", wie
aus dem Beschluß zitiert wurde, "nicht
auf die in dem letzten Wort der deutschen
Verfassung liegende Souveränität".
Tatsächlich jedoch hatte das
Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung aus dem Jahr 1985 nur konkretisiert
und nicht völlig neue Grundsätze aufgestellt. Doch weil es dies an einem
scheinbar unbedeutenden Fall so ausgiebig durchexerzierte und weil der EGMR
gleich über drei wichtige Menschenrechtsbeschwerden gegen den deutschen Staat
wegen dessen Enteignungsunrecht zu entscheiden hatte und über mindestens zwei
davon noch 2005, wurde es als ein Schuß vor den Bug des EGMR empfunden, um den
Gerichtshof zu bremsen, zurechtzuweisen, zu beeinflussen, seine Kompetenzen zu
beschneiden und ihn zur Zurückhaltung in seinen Urteilen zu mahnen. Daher
schien der Verdacht der Einflußnahme auf die Richter in Straßburg nicht aus der
Luft gegriffen. Und die anfänglich überzogene und somit unzutreffende Deutung
hatte sich in der Öffentlichkeit bereits zur Tatsache verfestigt.
Die nachfolgende Diskussion in
den Medien und Äußerungen der Gerichtspräsidenten Georg Wildhaber (EGMR) und
Hans‑Jürgen Papier (Bundesverfassungsgericht) taten ein übriges, die
Atmosphäre aufzuheizen. Im Februar hatte Papier das Straßburger Gericht zur Zurückhaltung gegenüber der
deutschen Justiz gemahnt und damit noch Öl ins Feuer gegossen. Das
Bundesverfassungsgericht selbst überprüfe Urteile der unteren Instanzen
lediglich auf Fehler bei der Beachtung von Grundrechten und überlasse die eigentliche
Auslegung der Gesetze den Gerichten "Nichts anderes sollte für die
Kompetenzverteilung zwischen dem Europäischen Gerichtshof und den deutschen
Gerichten gelten," sagte er.
Papier spielte damit auf die
umstrittenen Entscheidungen des EGMR zum Schutz Prominenter vor Pressefotos in
Sachen Caroline von Hannover (JF 38/04) sowie zum Familienrecht an. Den
Richtern war in diesem Zusammenhang vorgeworfen worden, sich zu detailliert in
deutsche Rechtsgebiete einzumischen. Alsbald war davon die Rede, zwischen
Karlsruhe und Straßburg sei ein Machtkampf darüber entbrannt, wer wem zu folgen
habe und wem das letzte Wort zukomme.
Allerdings, ob sich der EGMR
von diesem Treiben in seinem Beschluß vom 30. März wirklich hat beeindrucken
und beeinflussen lassen, ist sehr fraglich. Doch wird die Verdächtigung wohl
kaum mehr totzukriegen sein, denn zu überraschend anders als allgemein erwartet
ist der Beschluß ausgefallen. Überraschend vor allem deswegen, weil der
Gerichtshof die Beschwerden nun sogar
für unzulässig erklärte statt "nur" für unbegründet. Dabei hatte
er sie doch als "nicht
offensichtlich unbegründet" zur Entscheidung angenommen, was er nur
bei sehr wenigen Beschwerden zu tun pflegt, und sogar zweimal mündlich
verhandelt. Zweifel an der Zulässigkeit waren beide Male nicht erkennbar
geworden.
Weitere Hoffnung schöpfen
konnten die Opfer daraus, daß nun auch die Bundesregierung gegenüber dem EGMR
einräumen mußte, ein unbeschränktes Rückgabeverbot für in der SBZ‑Zeit
entzogene Vermögenswerte bestehe nicht ‑ womit sie aufgab, was sie
fünfzehn Jahre lang als Legende gepflegt hatte. Auch das Gutachten des
Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages darüber, was der deutsche Staat bei
einer Niederlage zu tun habe, ist als gutes Zeichen für die Beschwerden
gedeutet worden. Und hatte nicht der Prozeßvertreter der Bundesregierung dem
Gerichtshof noch im Januar ausdrücklich versichert, die Bundesregierung werde
sich selbstverständlich an ein bindendes Urteil des EGMR halten, wie sie es
immer getan habe? Wie anders hätte diese Versicherung verstanden werden sollen,
als um die Straßburger Richter zu beruhigen: Sie sollten sich von Deutschland
politisch nicht unter Druck gesetzt fühlen. Insofern war die Überraschung in
der Tat perfekt.
Quelle: Peter Krause, aus "JUNGE
FREIHEIT" Nr. 18/05 vom 29. April 2005 zitiert nach "Anzeiger der
Notverwaltung des Deutschen Ostens im Deutschen Reich", 24361 Wittensee,
Heft 3/2005, S. 47 f