Von Richtern und anderen Sympathisanten
Ein Strafrechtsprofessor sagte
mir kürzlich, daß kein deutscher Richter nach 1945 in der Bundesrepublik zur
Verantwortung gezogen, geschweige verurteilt, ja nicht mal entlassen worden
ist. Weil sie als Richter des NS‑Staates im Rahmen des damals geltenden
Rechts gerichtet hätten und sich darauf beriefen, sie hätten es guten Glaubens
getan.
Wer diesen Richtern
gegenübersteht, kann sich aussuchen, ob er sie für Kriminelle oder Idioten
hält. Leute, die entweder nicht wußten, was sie taten, als sie Rassenschande-Urteile
sprachen (von denen auch meine kleine Familie betroffen war: Tante Rosi und
Tante Frieda, die eine 20, die andere 22 Jahre alt, die eine hatte ein Baby,
die andere 2, wurden nicht in Auschwitz, sondern in Hamburg-Fuhlsbüttel wegen
Rassenschande hingerichtet, 2 der 3 kleinen Kinder wurden im KZ Neuengamme
umgebracht), oder Leute, die in höherem Auftrag zu jedem Verbrechen bereit
sind.
Wir zerbrechen uns den Kopf
über die paar Nazis, die wirklich im Knast sitzen, anstatt über die
Richterschar, die frei herumläuft. Die nicht ausstirbt, sondern seit 1945 ihre
Gesinnung an die junge Richter‑ (und im Rahmen der Referendarausbildung)
auch an die Anwaltsgeneration weitergibt. Und die dann noch ehrenrichterlich
darüber wacht, daß kein junger Richter oder Anwalt aus Reih' und Glied tanzt.
Fast alle meine Anwaltsfreunde haben ihr Verfahren noch vor oder schon hinter
sich ‑ vor Ehrengerichten, die noch nicht einen einzigen Nazi
herbeizitierten (soweit er nicht zum Mitrichten gebraucht wurde). Ich spreche
diesen Ehrengerichten die Ehre ab.
Die Begnadigung von NS‑Tätern
fing 1945 an und hat bis heute nicht aufgehört. Ich habe jahrelang Urteile
gesammelt, die deutlich machten, daß diesen Richtern jedes Eigentumsdelikt schwerer
wiegt als Massenmord.
In all diesen Jahren habe ich
die Fahndung nach Sympathisanten der Nazi‑Bande vermißt. Ohne
Sympathisanten und Helfershelfer hätte keiner der angeblich gesuchten (und
manchmal aus Versehen gefundenen) Täter, sich so lange in Freiheit und oft
sogar in öffentlichen Ämtern halten können: In der Polizei, im
Verfassungsschutz, in Wiedergutmachungsgremien, in der Justiz, in der
Industrie, in der Politik.
XY‑Zimmermann, dessen
Sendung so beliebt ist (und der mich so ankotzt), ist noch nicht ein einziges
Mal auf die Idee gekommen, nach NS‑Tätern zu fahnden. Warum wohl?
Jetzt richtet sich die
sogenannte Volkswut gegen neue Polit‑Täter. Eine Volkswut, die
überzeugend geschürt wird von einer Justiz, die in Wirklichkeit nicht das
geringste Gefühl für Menschenleben bewiesen hat. Als Frankreich den NS‑Mörder
Lischka ausgeliefert haben wollte, reagierte die westdeutsche Justiz bloß
damit, dem Ehepaar Klarsfeld, das der Gerechtigkeit im Fall Lischka nachhelfen
wollte, eine Vorstrafe zu verpassen. Jetzt plötzlich erfährt man, daß zwischen
der Bundesrepublik und Frankreich durchaus funktionierende
Auslieferungsverträge bestehen. Es geht nicht um Massenmörder, es geht um
Croissant.
Zwischen 1945 und 1963 liefen 12.882
Verfahren gegen NS‑Täter. Da gab es 5.445 Verurteilungen und 7.437
Freisprüche. Und die Strafmaße hatten natürlich nicht das Geringste zu tun mit
denen, die andere Straftäter erwarten. Von 1970 bis 1974 wurden von insgesamt
196 Angeklagten 120 freigesprochen oder trotz Verurteilung von jeder Haft
verschont. Überhaupt: Wo man nicht um eine Verurteilung herumkam, wurde hinterher
klammheimlich Haftverschonung
gewährt oder begnadigt.
Da gab es den bis zu seiner
Verhaftung als Polizeiobermeister tätigen Friedrich Rondholz, der Juden und
russische Kriegsgefangene erschossen hatte. Er wurde freigesprochen.
Begründung: Es sei heute nicht mehr festzustellen, mit "welcher inneren
Haltung" Rondholz die Taten begangen hatte. Rondholz erhielt
Haftentschädigung.
Ich habe gelesen, der Freispruch
für Karl‑Heinz Roth sei ein Triumph des Rechtsstaates. Ein Triumph, wenn
einer freikommt nach zweieinhalb Jahren unschuldig erlittener Haft, die er als
Krüppel abgesessen hat, und dann wegen illegalen Waffenbesitzes 12.000.‑
DM Strafe bekommt, was auf der Reeperbahn mit 150.‑ DM Bußgeld geahndet
wird, damit die Haftentschädigung nicht so hoch ausfällt.
Und während ich dies schreibe,
muß ich mir auch noch überlegen, ob ich nicht schon deshalb als Sympathisant eingestuft
werde, weil ich es wage, Strafmaße, und heimlich sogar Straftaten, mit einander
zu vergleichen.
September
1977
Quelle: "Prozesse 1970 bis 1978" von Peggy Parnass, Frankfurt/M
1978, S. 535 - 537