Richterlicher Machtmißbrauch

 

oder wie sich die Unabsetzbaren eingemauert haben

 

Der Begriff Frustration kommt aus dem Lateinischen; "frustratio" bedeutet Vereitelung, Nichterfüllung einer Erwartung. Frustration ist die Enttäuschung darüber, daß sich eine Erwartung nicht erfüllt, daß eine zielgerichtete Handlung erfolglos bleibt. Das kann Aggression und Wut auslösen, aber auch Verbitterung und Regression, also Unterwerfung, kampflose Aufgabe. Beides ist im Verhältnis Anwalt und Richter zu beobachten. Manche Richter handeln und führen sich so auf, als stünden sie kraft ihrer Unabhängigkeit über dem Gesetz. "Mittelmaß kennt nichts Erhabeneres als sich selbst". Die Folge ist ein Machtmißbrauch, der sich wie eine Wand vor dem Rechtsuchenden aufbaut. Der Anwalt rennt gewissermaßen gegen diese aus Verfahrensfehlern und Pflichtwidrigkeiten errichtete Wand und versucht vergeblich, sie zu durchbrechen.

 

Infolge des anhaltenden Abbaus rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien und einer unleugbaren Unfähigkeit des derzeitigen Gesetzgebers wird diese Wand immer stärker und höher. Sie wird zu einer die Festung "Justiz" umgebenden schützenden Mauer. So gehört es zum forensischen Alltag,

 

‑ daß Prozeßkostenhilfe‑Anträge entgegen dem Gesetz nicht beschieden werden,

 

‑ daß ständig gegen die Aufklärungs‑ und Hinweispflicht des § 139 ZPO verstoßen wird und die Anwälte bis zur mündlichen Verhandlung nicht wissen, worauf es nach Ansicht des Gerichts ankommt,

 

‑ daß anhaltende Untätigkeit an die Stelle der vom Gesetz in § 273 ZPO vorgeschriebenen Prozeßförderung des Gerichts tritt,

 

‑ daß begründete Verlegungs‑ oder Vertagungsanträge zurückgewiesen werden, oft noch mit

grob fehlerhafter oder gar ohne Begründung,

 

‑ daß übersteigerte Anforderungen an die Substantiierung gestellt und Beweisanträge mit dieser fehlerhaften Begründung übergangen werden,

 

‑ daß unentwegt gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verstoßen wird und dann auch noch darauf beruhende Überraschungsentscheidungen ergehen,

 

‑ daß Befangenheitsablehnungen nach § 42 Abs. 2 ZPO mit den abwegigsten Argumenten unter Hinweis auf einen frei erfundenen "objektiven und vernünftigen Dritten", also auf einen nicht existierenden Beurteiler zurückgewiesen werden,

 

‑ daß der abgelehnte Richter das Ablehnungsgesuch wegen angeblichen Rechtsmißbrauchs selbst zurückweist und sein Beschluß auch noch als Kontrollentscheidung nach § 45 ZPO angesehen wird. Der "andere Richter am Amtsgericht" wird dann als "Beschwerdeinstanz" zuständig. Das eigentlich zuständige Landgericht wird "durch Auslegung" ausgeschaltet,

 

und so fort. Neuerdings häufen sich auch die Fälle, in denen Richter sich eigene Verfahrensordnungen basteln, mit denen sie zu ihrer Entlastung das Gesetz aushebeln wollen (siehe zuletzt ZAP Heft 23/2001, S. 1435 u. 1445).

 

Der Gesetzgeber hält mit. Nach wie vor müssen die Bürger Justizunrecht ersatzlos hinnehmen, weil wir kein Staatshaftungsgesetz haben und das geltende Recht ‑ § 839 Abs. 2 S. 1 BGB - tatsächlich geltendes Unrecht ist. Auch grobe und gröbste Fehler des Gesetzgebers bleiben folgenlos. So hat man uns ein Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen beschert, das lediglich verzögerte, nämlich jedem Schuldner unabänderlich die Möglichkeit gab, seine Leistung folgenlos einen Monat zurückzuhalten (§ 284 BGB). Es war ein "Gesetz zur Förderung der Vertragsuntreue und verspäteter Zahlungen" (SPIEGEL 1/2002, S. 21). Mittlerweile ist dieser Unfug beseitigt worden (jetzt § 286 BGB). Für den Schaden, der dadurch manchem Kaufmann zugefügt worden ist, tritt der Staat nicht ein. Weiter: Bürger, Unternehmer und Anwälte werden ohne Einarbeitungszeit mit Hunderten von Gesetzen und Gesetzesänderungen überflutet. Und diese Änderungen sind teilweise unerträglicher Pfusch, der alsbald ‑ oft mehrfach ‑"bereinigt" werden muß, so daß am Ende kaum noch jemand weiß, was eigentlich derzeit "geltendes" Recht ist.

 

Angesichts dieser Entwicklung bleibt es nicht aus, daß sich bei den Rechtsunterworfenen tatsächlich: Richterunterworfenen ‑ und den sie im Rechtsstreit vertretenden Anwälten ein Gefühl der Ohnmacht, oft auch der Wut und Enttäuschung breit macht. Dagegen anzukommen, ist fast unmöglich, weil die Justiz sich mit "Abwehrmechanismen" ummauert hat. Richter sind in ihrer Verfahrensweise auch dann "unabhängig", wenn sie sich über das Gesetz hinwegsetzen. Dafür sorgen notfalls die nach § 26 Abs. 2 DRiG zuständigen Richterdienstgerichte. Sie praktizieren weitgehend eine juristische Inzucht. Über richterliches Fehlverhalten entscheiden immer wieder nur Richter. Eine wirklich neutrale Kontrollinstanz gibt es für sie nicht. Selbst die interne fachliche Kontrolle wird noch abgeschwächt durch Rechtsmittelausschlüsse "Über uns der blaue Himmel" ‑ wie es immer wieder zu hören ist.

 

Die Mauer steht fest und ist uneinnehmbar. In Charles Dickens "Bleak House" warnt ein Anwalt den Mandanten vor dem Kanzleigericht: "Erdulde jedes Unrecht, das man dir zufügen kann, aber komme nicht hierher." Möglicherweise sind auch wir auf dem besten Weg dahin. Das dachte wohl auch derjenige, der diesen bekannten Witz ersonnen hat:

 

Ein BGH‑Richter erzählt einem Kollegen, er sei auf Schadensersatz in Anspruch genommen worden, weil sein Hund jemanden gebissen habe; er habe gezahlt. Der Kollege antwortet verwundert, der andere habe doch gar keinen Hund. Worauf dieser erwidert, man könne ja nie wissen, wie die Gerichte entscheiden.

 

So ganz abwegig ist das nicht. Ich habe es mir angewöhnt, Rechtsuchende, deren Sache ich für aussichtsreich halte, vorsorglich darüber zu belehren, was beim Gericht alles an Unerwartetem geschehen kann. Wie nötig das mittlerweile ist, zeigt die neue Vorschrift des § 522 Abs. 2 ZPO: Einstimmige Zurückweisung einer Berufung, die der Berufungsanwalt wegen von ihm geprüfter und bejahter Erfolgsaussicht eingelegt hatte.

 

Es sieht nicht gut aus bei der deutschen Gerichtsbarkeit. Die Zeichen stehen eher auf Sturm. Und die Anwaltschaft ist nicht in der Lage, dagegen zu halten. Auch das hat seinen Grund. Die Richterschaft ist ihr psychologisch überlegen. Richter verhalten sich untereinander solidarisch, Anwälte nicht. Wäre es anders, dann verlören die Richter ihre Übermacht. Wenn ‑ beispielsweise ‑ dreißig nicht gemäß § 273 ZPO vorbereitete Sachen auf 9.00 Uhr terminiert werden und die Prozeßbevollmächtigen in zwanzig Sachen nach einer Wartezeit von einer halben Stunde den Sitzungssaal verlassen und zurück in ihre Kanzleien fahren würden, stünde das kein Gericht mehr als zwei oder drei Sitzungen durch. Oder: Nie kommt es vor, daß der Gegenanwalt einem wohlbegründeten Befangenheitsantrag seines Kollegen beitritt, obwohl sein Mandant nach § 42 Abs. 3 ZPO daraus sogar ein eigenes Ablehnungsrecht herleiten könnte. Auch ist immer und immer wieder zu beobachten, daß der Gegenanwalt berechtigte Verfahrensrügen seines Kollegen nicht unterstützt, sondern versucht, sie zu Fall zu bringen. Ein solches Verhalten wird man bei Richtern nie wahrnehmen. So gesehen haben es sich die Anwälte selbst zuzuschreiben, wenn sie im Verfahren meist auf der Verliererseite stehen.

 

Der Grund für die fehlende Solidarität unter Anwälten dürfte sein, daß sie Parteiinteressen vertreten müssen, der Richter nicht. Diese Einseitigkeit der Aufgabe setzt sich dann im Verhältnis zum Kollegen auf der Gegenseite fort. Unabhängigkeits‑Hybris der Richter, Unfähigkeit des Gesetzgebers und fehlende Solidarität der Anwaltschaft verstärken sich so gegenseitig ‑ auf der Strecke bleibt oft die gerechte Entscheidung.

 

Quelle: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider, Much - in ZAP (Zeitschrift für die Anwaltspraxis) vom 6.3.2002, S. 251 f

 

Anmerkung: Dr. Schneider ist in jeder Beziehung zuzustimmen. Die Zustände in der deutschen Justiz sind mit "Saustall" (BILD-Zeitung) und "Rechtsbeugermafia" (zwischenzeitlich schon allgemeiner Sprachgebrauch) durchaus angemessen zu bezeichnen. Dumm, überheblich und faul wursteln viel zu viele Richter völlig losgelöst von Recht und Gerechtigkeit herum und frönen lediglich ihrer nur psychopathologisch interessanten Hybris.

Der von Dr. Schneider berichtete Witz hat einen vorkonstitutionellen Vorläufer: "Ein Reichsgerichtsrat zu seinem Sohn: Wenn ein wildfremder Mann an meiner Wohnungstür läutet und behauptet, der Kronleuchter im Flur gehöre ihm, gebe ich ihm den gleich mit, wenn ich den Kaufbeleg nicht mehr finde."