Machthunger
Frühstück im Namen des Volkes!
Er‑ und überlebt in einem deutschen
Gerichtssaal im Juni 1995
Die Verteidigung in Person des
Rechtsanwalts Hurtig aus der Kanzlei "Dr. Überall, Hurtig und
Partner" hatte es eilig. Ein scheinbar ewig währender Verkehrsstau und
kein Handy dabei! In sprichwörtlich letzter Sekunde erreichte Hurtig das
Amtsgericht. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Sein Mandant, beschuldigt
eines ordnungswidrigen Verhaltens und vor Aufregung die ganze Nacht nicht
geschlafen, hatte schon in der Kanzlei angerufen. Der Mitteilung vertrauend,
der Anwalt sei unterwegs, empfing er Hurtig am Haupteingang. Beide eilten sie
zum Verhandlungssaal, die mühsam erarbeitete Verteidigungsstrategie noch einmal
durchhechelnd. Soeben hatte Hurtig auf dem Flur noch seine Robe übergestreift ‑
denn der Verhandlungssaal ist ja bekanntlich keine Ankleidekabine ‑ und
die weiße Krawatte zurechtgerückt, als das Amtsgericht, verkörpert durch Herrn
Richter Dr. Rechtsprecher, auf der Bildfläche erschien und dem verdutzten Duo
eröffnete, "das Gericht müsse jetzt erst einmal frühstücken"! Diese
Mitteilung erfolgte exakt zu Beginn der auf 10.45 Uhr angesetzten
Hauptverhandlung. Die aus der Ladung leider nicht ablesbare richterliche
Morgenmahlzeit führte dazu, daß der Terminplan von Herrn Hurtig jäh
zusammenbrach und letzterer beinahe selbst. Hatte er sich doch so beeilt, um
rechtzeitig zu sein. Daß Hurtig sichtlich Mühe hatte, die veränderte Situation
mit Contenance zu überstehen (er mußte eine ganze Serie von Flüchen und Verwünschungen,
die ihm auf der Zunge lagen, frustriert verschlucken), konnte Herrn Dr.
Rechtsprecher nicht verborgen bleiben. Der Amtsrichter ließ sich dadurch
keineswegs von seinem Morgenessen abhalten. In der mit halbstündiger Verspätung
eröffneten Hauptverhandlung agierte er anschließend umso munterer an der
Befangenheitsgrenze, ohne diese allerdings zu überschreiten. Doch das ist ein
anderes Kapitel. Es bedarf an dieser Stelle der Klarstellung, daß Hurtig dem
Gericht das wohlverdiente Frühstück keinesfalls mißgönnte, denn auch der
Richter muß "dem Bauche dienen" (Römer 16, 18; in diesem Sinne auch
Phil. 3, 19). Diese Einstellung war nicht selbstverständlich, da ein Richter
ohne Frühstück der Verteidigung durchaus zum Vorteil hätte gereichen können.
Denn "ist der Magen krank, wird der Körper wank". Andererseits ist
weder überliefert noch empirisch belegt, daß ein voller Frühstücksbauch
richterliche Schaffenskraft spürbar beeinträchtigt. Das Sprichwort "plenus venter non studet libenter" betrifft
bekanntlich einen anderen Tätigkeitsbereich.
Warum dann ‑ in aller
Welt ‑ hat Anwalt Hurtig an dem richterlichen Frühstück Anstoß genommen?
Es kann unmöglich daran gelegen haben, daß Dr. Rechtsprecher seine Morgenspeise
im Gerichtsgebäude vereinnahmen wollte, wo doch "satt essen kann sich
jeglicher zu Hause" (Lady in Macbeth). Unmutsgrund kann auch nicht gewesen
sein, daß die Verteidigung an der spätmorgendlichen Speisung des Amtsrichters
nicht partizipieren durfte. Hurtig hatte schon gefrühstückt. Außerdem war ihm
der Hunger anläßlich der richterlichen Offenbarung blitzschnell vergangen. Für
ihn bestand ‑ jedenfalls zunächst ‑ auch keineswegs der Eindruck,
als solle sein Klient "verfrühstückt" werden.
Es lag, wie Sie, verehrter
Leser, sicher schon vermutet haben, am Zeitpunkt. Dr. Rechtsprecher frühstückte
zur "Unzeit", wie man heute zu sagen pflegt. Dadurch verletzte er
"des Richters erste Pflicht, Beschuldigte zu hören" (Helena in
Goethe, Faust). Dies jedenfalls war die Meinung von Hurtig.
Der durch das richterliche
"Frühstücks‑timing" heraufbeschworene
Konflikt hätte vermieden werden können. Daß dies nicht geschah, lag allein an
Hurtig. "Mit dem Anstand, den er hatte" (Schiller, Nadowess, Totenklage), war es ihm nicht vergönnt, dem
richterlichen Magen einen "guten Appetit" zu wünschen. Nicht einmal
das übliche "Mahlzeit Euer Ehren" brachte er heraus.
Unbegreiflicherweise empfand
Hurtig die richterliche Frühstücksplanung als unhöflich. Welch ein fataler
Irrtum! Hurtig war nicht einmal imstande, seine Fehleinschätzung zu verbergen.
Unverzeihlich! Wußte er denn nicht, daß "gar zu höflich grob ist"?!
War ihm, dem gelernten Juristen und forensisch erfahrenen Anwalt etwa
unbekannt, daß richterliches Streben nach Gerechtigkeit und Höflichkeit zwei
unverträgliche Eigenschaften sind, die sich gegenseitig kategorisch
ausschließen?!
Es war nicht Hurtigs Stunde und die seines Klienten. Dementsprechend
fiel das Urteil aus. Der Tag stand unter dem unglückseligen Motto "Was dem
Richter Speise ist, war für Anwalt Hurtig Gift".
Quelle: Rechtsanwalt Dr. Kurt Reinking,
Köln, in ZAP vom 16.8.1995, S. 833 f
Anmerkung: Der Kulturredakteur - von 1977 bis
1997 Rechtsanwalt in Lübeck - erlebte vergleichbares mit der wahrhaftig
unerträglichen Amtsrichterin Gabi Neubert. Zu einem in die Mittagsstunde
fallenden Termin warteten bereits Anwälte und Parteien, deren persönliches
Erscheinen angeordnet war. Madame Neubert überzog nicht nur geschlagene 30
Minuten, sondern sie begab sich danach ersteinmal in
die Kantine mit der Bemerkung, sie habe Halsbeschwerden und müsse deshalb einen
Kaffee trinken. Danach war - wie üblich - ihre Verhandlungsführung und
Entscheidungsfindung weit jenseits von Befangenheitsgrenzen und
verfassungsmäßiger Ordnung, was kaum verwunderte, war ihr doch die Gegenanwältin
besonders verbunden. Ulrich Wickert hatte nicht nur mit seiner über die Glotze
geflimmerten Bemerkung recht, George W. Bush und Osama
bin Laden hätten die gleichen Denkstrukuren, sondern
auch als er bereits 1977 schrieb: "Die Sammlung der Fehlurteile
bundesdeutscher Gerichte spiegelt eine Gedankenführung bei Richtern wieder, die
mit demokratischem Verständnis nichts gemein hat."