Klassenjustiz

 

Von deutschen Richtern wurden in der letzten Zeit verurteilt:

Angeklagte                            Vergehen                                                  Strafe

Junker von Kähne     Überfall  auf  ein  harmloses   Reise-            10000 M. Geld­strafe
                   
automobil. Drei Gewehrkugeln.  

Heinrich Berth           Streichen  nachts   ein  Hohenzollern-          Beide je 2 Jahre Gefängnis

Otto Jungermann       denkmal rot an. Dummerjungenstreich.    

Oberamtmann           Bezeichnet Redakteure eines

Frick, ehem. Leiter    USP-Blattes als <Schweinehunde>.                    200 M. Geldstrafe

der bayerischen         Äußerung zum Betriebsrat:  «Geht

Polizei                       ihnen doch an die Kehle!»

 

Reichswehr-

Soldaten Fischer

und Stanke                 Geben die letzte Bitte eines Sterben­
                                   den weiter; benachrichtigen den                      43 Tage Gefängnis
                                  
Vater des toten Kameraden über die                 3 Wochen Arrest
                                   Gründe des Selbstmordes seines Sohnes.

Gräfin Eleonore         Dingen einen Mörder, um einen                       2 Jahre Gefängnis

von Schlieffen,          Verwandten, den sie beerben können

Hanns Heinrich          aus dem Weg zu räumen.                                 1 ½ Jahre Gefängnis

von Schlieffen

 

Rössel                        Der gedungene Mörder:                                    3 Jahre Gefängnis

 

USP-Redakteur         Hat den Ausdruck <Klassenjustiz>                  5 Monate Gefängnis

Bergholz                    gebraucht.

 

So sieht die Rechtsprechung dieses Landes aus. Der sehr rührige Preu­ßische Richterverein, der ebenso vorschnell mit Berichtigungen wie seine Mitglieder mit Verurteilungen bei der Hand ist, möge sich diese Tabelle hinter den Spiegel stecken. Wagt er es, die zweierlei Tonarten, die hier deutlich herauszuhören sind, zu bestreiten?

Wir haben es satt. Die Fälle da oben, von denen besonders die Ge­schichte mit den Reichswehrsoldaten die weitesten Kreise aufgeregt hat, zeigen deutlich, wie diese politische Justiz zu bewerten ist. Ich behaupte:

Das Volk hat zu diesen Richtern, wenn es sich um politische Straf­prozesse handelt, kein Vertrauen mehr.

Und ist es denn ein Wunder? Warum sollen wir denn auf einmal, mit dem Tage des Anstellungszettels, mit dem Tage der Titelverleihung Achtung vor einer Objektivität haben, die — nachweisbar — keinen Tag vorher bestanden hat? Woher kommen denn diese Richter? (Das zu untersuchen kitzelt bei einer Kaste, die alles, alles ihrem Spruch beugen will.)     Woher kommen sie —?

«Anton soll studieren!» sagt der Vater, ein mittlerer Beamter, voller Stolz. Deshalb geht Anton auf ein Gymnasium, lernt dort eine Radau- und Hurra-Geschichte seines Landes, von der außer den Eigennamen kein wahres Wort in den Geschichtsbüchern steht, lernt dort die Auto­rität verehren — und Autorität ist alles, was grade Macht hat — und kommt dann auf die Universität.

Ihr müßtet nur einmal die Vorlesungen eines preußischen Professors über Staatsrecht mitangehört haben, um zu hören, was es alles auf der Welt gibt. «Der Staat ist mächtig, allmächtig, heilig, verehrenswert, Ziel und Zweck der Erdumdrehung — der Staat ist überhaupt alles.» Und vor allem: er trägt vor niemand eine Verantwortung! Was Wunder, daß den jungen Herren der Kamm schwillt, wenn sie sich vorstellen, daß sie einmal einem solch mächtigen Wesen Handlangerdienste leisten dürfen! — Vorläufig saufen sie noch auf Deutschlands hohen Schulen, trampeln etwelche Juden, wenn die in der Minderzahl sind, heraus und sind überhaupt forsche Kerle. Und dann kommt das Referendarexamen, das in die armen Köpfe einen ungeheuren Wust von trocknen Daten hineinstopft, und sie lehrt, die Dinge durch den Paragraphen zu sehen. Und dann kommen vier Referendarsjahre ...

 In dieser Zeit darf der aufstrebende Richtergeselle auch bei der Staatsanwaltschaft arbeiten — und was das heißt, kann nicht jeder so leicht würdigen. Dort lernt er das knappe Auftreten, die schneidige Redeweise, die tiefe Verachtung des Pöbels, und weil er niemals aus seiner Klasse, dem Mittelstand, herauskommt, bildet er sich nun langsam ein, dessen Ansichten und Gebräuche seien die ewigen Gesetze der Welt. Und dann wird er Richter.

Und ich soll nun — von diesem Tage ab, von dieser Minute ab —, glauben, daß ein so vorgebildetes Wesen nun auf einmal all seine Klassenideale, seine Klassenvorstellungen, seine kleinbürgerliche Denkungsart und seine politische Engstirnigkeit vergessen habe? Ein Untertan bleibt ein Untertan, auch wenn er den Talar anzieht und sich eine weiße Binde vorklebt. Auch Richter sind Menschen. Was für welche — zeigt die Tabelle.

Und alles, was hier von den Richtern gesagt ist, gilt in viel höherem Maße von den Staatsanwaltschaften: eine gefährliche, ungezügelte Nebenregierung der Republik.

Wir alle leiden darunter. Die Justizkaste sperrt sich ab. Durch ein niederträchtiges Siebesystem gelingt es ihr, sogar Schöffen (auf dem Lande) und vor allem die Geschworenen so auszuwählen, daß sie sich in den schlimmsten Fällen immer auf die angebliche <Volksjustiz> berufen kann, die keine ist: der Arbeiter fehlt fast immer.

Für diese Richter bildet folgendes einen wirren Knäuel: Bolschewis­mus — Proletarier — Sozialdemokratie — Erzberger — Juden — Gewerkschaften — Streikende — Dadaismus — Republik — Betriebsräte — die neue Zeit. Und wie auf Stichwort sausen die Urteile herunter.

Neulich ist ein betrügerischer Privatdetektiv verurteilt worden: «mit Rücksicht auf die Gefährlichkeit derartiger Eingriffe in die Rechtspflege ...» Retourkutschen fahren zwar nicht — aber manchmal fahren sie doch.

Einen Arbeitswilligen anzutippen, kostet ein Drittel des Preises, für den ein Junker den <Bürgerlichen> ein paar Kugeln um die Ohren knallen darf. <Schweinehunde>, auf Sozialisten gemünzt, sind billig — sie stellen sich auf 200 M. das Stück; teuer ist nur der Ausdruck <Klassenjustiz>.

Ich weiß sehr wohl, daß es Elemente unter der Richterschaft gibt, die dieses Treiben auf das heftigste mißbilligen. Warum treten sie nicht öffentlich dagegen auf? Hat man schon einmal auf den Richtertagen davon gehört, daß solche Männer das falsche Kastengefühl durch­brochen und sich offen über die politische Seite solcher Prozesse ausgesprochen haben? Was man deckt — dafür ist man auch verant­wortlich.

Über die Tabelle da oben ist kein Wort zu verlieren. Ihr besinnt euch alle auf die Fälle — und es müßte eine amüsante Aufgabe sein, einmal zusammenzustellen, was man alles in Deutschland für ein Jahr Gefängnis oder für 500 M. Geldstrafe tun darf. Ihr würdet euer blaues Wunder erleben.

Es ist unstatthaft, diesen Richtern vorzuwerfen, sie ließen sich bei den Urteilssprüchen, die da auf uns niedersausen, von böswilligen, po­litischen Erwägungen leiten. Das ist mir ganz gleichgültig. Es inter­essiert mich gar nicht, ob sie subjektiv oder objektiv oder sonstwie zu diesen Sprüchen gekommen sind. Die Sprüche sind da — die Sprüche sind falsch — und sie haben dafür einzustehen.

Was auf dem Lande, wo abends die Herren Juristen um den runden Stammtisch herum fachsimpeln, auf diesem Gebiet alles vor sich geht — welch horrende Strafen dort ausgesprochen werden für alles, was man auch nur von weitem als <Auflehnung> ansieht — das spottet jeder Beschreibung. Die Tabelle ließe sich seitenweise fortsetzen. Und wahrlich, ich sage euch, eher hat noch der größte Duckmäuser Chance, bei diesen Gerichten durchzuwischen, als ein geistig selbständig den­kender Mensch oder gar ein Arbeiter.

Wir haben es satt. Herr Radbruch, der Justizminister, kann nicht helfen — denn was vermag einer gegen so viele? Sie pochen alle auf eine Unabhängigkeit des Richterstandes, die nicht da ist: denn kein Mensch wandelt in der Luft, sondern ist im Fühlen, Denken und Mei­nen Produkt seiner Klasse. Dieser da in jeder Beziehung einer höchst mittleren Klasse.

Neulich hat beim Amtsgericht Berlin-Schöneberg ein Mann ein Ur­teil zugestellt bekommen, auf dem stand, statt «Im Namen des Kö­nigs», wie damals, als wir noch unseren Deserteur hatten: «Im Namen des Pöbels». Später erschien bei dem Empfänger dieses Kulturdoku­ments ein Beamter des Gerichts, um sich zu entschuldigen.

Er hätte es nicht tun sollen. Denn jeder muß selbst wissen, was er ist.

 

Quelle: Kurt Tucholsky (1922)

 

Anmerkung: Die von Tucholsky zu recht als unerträglich angeprangerten Missstände in der Justiz der Weimarer Republik erfuhren dann unter den Nazis eine weitere – kaum noch für möglich gehaltene – Entartung. Die Bundesrepublik begann mit eben diesen Erblasten und hat es bis heute nicht geschafft, die „Rechtsbeugermafia“ auszutrocknen oder zur Räson zu bringen. Auch heute noch hört man von den relativ wenigen liberalen und humanistisch gebildeten Staatsjuristen kaum ein kritisches Wort über die Betonkopffraktion ihrer Standesgenossen, insbesondere nicht in der Öffentlichkeit. Nur ganz vereinzelt – und dann erst nach der Pensionierung – packt ein Richter aus und berichtet über unzählige kriminelle Kollegen (vgl. Frank Fahsel in der Süddeutschen Zeitung vom 9.4.2008).