Welche Karrieren machten NS-Justizjuristen nach 1945?
FU-Rechtssoziologe untersucht berufliche Werdegänge ehemaliger NS-Juristen
6.11.2002
Welche Karrieren machten
NS-Justizjuristen nach 1945? Dieser Frage widmet sich ein seit 1998 von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft mit rund 120.000 Euro gefördertes Projekt mit
dem Titel "Karrieren und Kontinuitäten deutscher Justizjuristen im 20.
Jahrhundert" (KuK-Projekt). Auf der Grundlage von Angaben wichtiger
beruflicher Merkmale von rund 34.000 Juristen des höheren Justizdienstes
zwischen 1930 und 1964 lassen sich erstmals Justizkarrieren im 20. Jahrhundert
systematisch verfolgen. Danach haben sich die meist in der Weimarer Republik
ausgebildeten Justizjuristen mit dem NS-Regime arrangiert und im höheren Justizdienst
als Richter oder Staatsanwälte die üblichen Karriereschritte gemacht. Nach 1945
wurden in der Bundesrepublik auf Grund der restaurativen Politik der
Adenauer-Zeit die alten Beförderungsmuster in der Justiz fortgeführt, was
bedeutete, dass die während der NS-Zeit tätigen Justizjuristen schneller
Karriere machten als junge Juristen, die erst nach 1945 in die Justiz
eintraten.
"Die meisten Justizjuristen haben sich nach 1933 mit dem neuen Regime
arrangiert, es unterstützt und sogar begrüßt", resümiert Prof. Dr. Hubert
Rottleuthner den Stand der Forschung. Richterlichen Widerstand habe es kaum
gegeben, auch hätten die Juristen nicht unter Druck, sondern freiwillig für das
neue Regime gearbeitet. Zwischen 1933 und 1938 wurden rund 700 höhere Beamte
aus dem Justizdienst ausgeschlossen, die jüdisch waren und/oder den
Sozialdemokraten nahe standen. Mit dem großen Rest konnte das NS-Regime gut
arbeiten. Neben einer positiven weltanschaulichen Einstellung macht
Rottleuthner auch die verbesserte wirtschaftliche Lage der Justizjuristen nach
1933 sowie den allgemeinen Rückgang der Geschäftsbelastung, also der Zahl der
zu erledigenden Verfahren verantwortlich. "Wer im Dritten Reich allerdings
Karriere machen wollte, musste NSDAP-Mitglied sein und eine gute Examensnote
haben", so Rottleuthner.
Nach 1945 machten die meisten der schon in der NS-Zeit tätigen Juristen im
höheren Justizdienst weiter Karriere. So setzten sich beispielsweise im Jahr
1954 74 Prozent der Justizjuristen bei den Amtsgerichten, 68,3 Prozent bei den
Landgerichten, doch 88,3 Prozent bei den Oberlandesgerichten und 74,7 Prozent
beim Bundesgerichtshof (BGH) aus "alten" Justizjuristen zusammen.
Vor allem diese alten Justizjuristen gelangten nach 1945 in die hochdotierten,
angesehenen und einflussreichen Posten bei den höheren Gerichten wie den
Oberlandesgerichten, aber auch beim Bundesgerichtshof. Während 1964 nurmehr
48,6 Prozent der Justizjuristen an den Amtsgerichten und 37,3 Prozent an den
Landgerichten aus "alten Justizjuristen" bestanden, waren 61,3
Prozent an den Oberlandesgerichten und 71,4 Prozent am BGH "alte"
Justizjuristen. Diese Zahlen zeigen, dass das herkömmliche Karrieremuster
einfach fortgesetzt wurde. Im Gegensatz zur SBZ/DDR gab es in der
Bundesrepublik keine Regelung, die es verbot, NS-Juristen, die in der NSDAP
waren (und das waren über 80 Prozent), wieder in den Dienst zu nehmen. Nach
1954 nahmen die politischen Bedenken deutlich ab: In der Adenauer-Ära konnten
vielmehr alte erfahrene Juristen (welche "Erfahrungen" auch immer sie
gemacht hatten) auf Grund des traditionellen Karrieremusters in der Justiz eher
aufsteigen als die neuen, noch nicht so "erfahrenen" Juristen.
Eine besondere Situation herrschte beim Bundesgerichtshof. Von den dort in der
Zeit von 1954 bis 1964 tätigen Richtern und Staatsanwälten hatten über siebzig
Prozent bereits während der NS-Zeit als Juristen gearbeitet. Rottleuthner
vermutet, dass sich damit auch die sehr verständnisvoll-milde Rechtsprechung
des BGH in Rechtsbeugungssachen erklären lässt. Immerhin saßen ja hier meist
Richter zu Gericht über ihre früheren Berufskollegen. – Außerdem gibt es
deutliche regionale Unterschiede: vor allem die Gerichte in den nördlichen
Oberlandesgerichtsbezirken in der (ehemaligen) britischen Zone waren nach 1954
zu hohen Prozentsätzen mit NS-Juristen besetzt.
In seiner Studie stützt sich Rottleuthner auf Angaben zu rund 34.000
Justizjuristen. Dabei wurden alle wichtigen Quellen wie das Personalverzeichnis
des höheren Justizdienstes 1938, das Handbuch der Justizverwaltung 1942,
Handbücher der Justiz, Beamten-Kalender, Personalmeldungen aus der
"Deutschen Justiz" und der "Deutschen Richterzeitung", aus
regionalen Amtsblättern, Dokumentationen von belasteten Richtern etc. erfasst.
Mit diesem bislang einmaligen Datensatz können umfangreiche quantitative
Auswertungen vorgenommen, aber auch Einzelfälle mühelos recherchiert werden.
Die Datenbank soll nach Abschluss des Projekts öffentlich zugänglich gemacht
werden.
Nähere Informationen erteilt Ihnen
gerne:
Prof. Dr. Hubert Rottleuthner, Institut für Rechtssoziologie und
Rechtstatsachenforschung, Boltzmannstr.3, 14195 Berlin, Tel.: 030 / 838-54701,
E-Mail: rsoz@zedat.fu-berlin.de