Justizschande

 

Schatten der Vergangenheit und die neue Schande

der bundesdeutschen Justiz

 

Unlängst (NJW 1994, 1050) ist ein Nachruf auf den Juristen Prof. Dr. WILLI GEIGER veröffentlicht worden. Eingangs werden einige Lebensdaten mitgeteilt: Nach dem Abitur habe "der engagierte Katholik" Rechtswissenschaft studiert und die beiden Staatsexamen abgelegt. Seine 1941 abgeschlossene Dissertation sei von einem Rezensenten als mißlungen bezeichnet worden, weil sie "auf Schritt und Tritt von den Begriffen des liberalen Verwaltungsrechts" und nicht von denen der nationalsozialistischen Literatur geprägt sei. Weiter:

 

"Bevor GEIGER in den Krieg ziehen mußte, war er kurze Zeit im Justizdienst, u. a. als Landgerichtsrat."

 

Aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, sei er 1947 wieder in den Justizdienst zurückgekehrt, und zwar an das Oberlandesgericht Bamberg. Sodann wird der Weg des "konservativ‑liberalen, engagierten Christen" nach oben ausführlich geschildert: Ministerium, Bundesrichter, Bundesverfassungsrichter und Senatspräsident am Bundesgerichtshof.

 

Die Zeit ab erster juristischer Staatsprüfung (1932) bis zum Justizdienst "u. a. als Landgerichtsrat" ist dem Weißen Riesen zum Opfer gefallen: alles reingewaschen! Dort, wo GEIGER nach dem Krieg wieder angefangen hat, am Oberlandesgericht Bamberg, war er auch tätig als Staatsanwalt beim Sondergericht. Dort hat er auch als Vertreter der Anklagebehörde mit Erfolg Todesurteile beantragt, beispielsweise gegen den weißrussischen Fremdarbeiter JAKOB SIMINSKY wegen Verbrechens nach § 2 der Volksschädlingsverordnung. SIMINSKY war in eine Wirtshausschlägerei verwickelt worden und hatte mit dem Messer zugestoßen. Dem Sondergericht reichte Körperverletzung aus, um dem Antrag des Staatsanwalts Dr. GEIGER zu folgen und SIMINSKY zum Tode zu verurteilen (Urteil des Sondergerichts Bamberg v. 25. 2. 1942 ‑ SG. 40/42).

 

Ein weiteres Todesurteil hat er gegen den polnischen Landarbeiter KAZIMIRZ  STASZAK beantragt und durchgesetzt, dieses Mal nach § 4 der Volksschädlingsverordnung (Urteil des Sondergerichts Bamberg v. 7. 10. 1941 ‑ SG. 161/41). Der Angeklagte sollte sich einem kleinen Mädchen unsittlich genähert haben. Der Berichterstatter Dr. GEIGER votierte gegen ein Gnadengesuch des Verteidigers. Das Urteil wurde vollstreckt. Im Hinrichtungsprotokoll heißt es wörtlich:

 

"Der Scharfrichter und seine Gehilfen arbeiteten ruhig und sicher. Die Glocke wurde bei der Hinrichtung nicht geläutet, da noch eine weitere Vollstreckung nachfolgte."

 

Das war Bamberg, und es hätte mehr zu dieser Station GEIGERS gesagt werden müssen, als daß er dort Landgerichtsrat gewesen sei.

 

Wie GEIGER sich als Christ "engagierte", hatte er bereits früher zu erkennen gegeben. Nach Bestehen des zweiten Staatsexamens im Jahre 1936 trat er flugs aus der katholischen Verbindung der Münchener Aenanen aus. Das Motiv liegt auf der Hand. Wer in den Staatsdienst eintreten wollte, mußte solche Zugehörigkeiten angeben; und die waren damals gewiß nicht karrierefördernd.

 

Doch nun noch zur Dissertation über "Die Rechtsstellung des Schriftleiters" (HANS BUSKE Nachf. Verlag, Darmstadt und Leipzig 1941). Sie soll ja aus nationalsozialistischer Sicht darunter gelitten haben, daß sie "auf Schritt und Tritt von den Begriffen des liberalen Verwaltungsrechts" geprägt gewesen sei. War das wirklich so?

 

Im Schrifttumsverzeichnis ist auf S. IX bereits die Literatur gesondert:

 

"* bedeutet: Verfasser ist Jude:"

 

Wäre das alles, dann könnte man das als den damals üblichen Kotau vor den Mächtigen hinnehmen. Es ist aber nicht alles. Einige Zitate aus der Dissertation (mit Seitenangaben) vermitteln einen anderen Eindruck:



"Das Jahrhundert des Liberalismus ist bei uns abgelöst durch ein Zeitalter völkischen Gemeinschaftsgeistes; und wenn nicht alles trügt, steht die ganze abendländische Welt an einer Zeitenwende, die zur Neubestimmung des Verhältnisses von Einzelpersönlichkeiten zu Volk und Staat führt" (S. 8).

 

"Der Staat leiht den Männern der Presse seinen wirksamen Schutz und seine Hilfe, der Schriftleiter seinerseits ist dem Staat verpflichtet" (S. 9).

 

"Die Haltung der deutschen Presse im dritten Reich wird durch das nationalsozialistische Ideengut bestimmt" (S. 25).

 

"Nicht jeder hat das Recht zu schreiben! Das Recht zu schreiben muß durch sittliche und nationale Reife erworben werden" (Berufung auf Goebbels, S. 33).

 

"Das Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit .hat der Tätigkeit einer Reihe sog. 'prominenten Journalisten', die 'in Presse machten' . . . Ende gesetzt" (S.34).

 

Der Schriftleiter muß nach § 1 a des Reichsbeamtengesetzes arischer Abstammung sein. "Die Vorschrift hat mit einem Schlag den übermächtigen volksschädigenden und kulturzersetzenden Einfluß der jüdischen Rasse auf dem Gebiet der Presse beseitigt" (S. 40).

 

Ein Schriftleiter verstößt gegen die Pflicht zur Beobachtung eines standesgemäßen, achtungswürdigen Verhaltens durch "die Aufnahme von Artikeln jüdischer Verfasser" (S. 58).

 

"Den höheren Interessen des Staates und Volkes gegenüber ... muß im Konfliktsfall auch die Wahrheit sich Bindungen gefallen lassen, sie muß dann zwar nicht verfälscht, aber totgeschwiegen werden" (S. 62).

 

"Der Schriftleiter ist heute nicht mehr Angehöriger eines freien Berufs" (S. 76).

 

Dem Reichsminister der Volksaufklärung und Propaganda steht das Recht zu, "die Löschung eines Schriftleiters aus der Berufsliste ohne vorheriges Verfahren vor den Berufsgerichten zu verfolgen, ein Recht, das dem Führergedanken entspricht, der für Ausnahmefälle dem Führer auch außerordentliche Mittel zur Verfügung stellt". Und weiter: "Die Wahl und Anwendung solcher außerordentlichen Mittel ohne gesetzliche Grundlage steht nur dem Führer und Reichskanzler zu, der alle Gewalt in sich vereinigt" (S.89).

 

Ich denke, das genügt. Niemand hat GEIGER damals gezwungen, zu promovieren, erst recht nicht über ein solches Thema, und solche nichtswürdigen Sätze von sich zu geben. Viele andere sind ebenfalls den Versuchungen und Verstrickungen jener unseligen Zeit erlegen; die meisten von ihnen haben die Wende zur Demokratie ungewöhnlich gut geschafft. So auch GEIGER. Die Nachkriegs‑Seilschaften haben die öffentliche Kritik überstanden. Immerhin waren nach Schaffung des Bundesgerichtshofs etwa 80 % der Bundesrichter vor 1945 im Staatsdienst tätig gewesen. Aber woher nehmen, wenn nicht übernehmen? Schließlich hatte der Richterstand mehr oder weniger geschlossen auf seine Unabhängigkeit verzichtet, die ihm bei eigenem Fehlverhalten sonst so wichtig ist. Er war, "die Reihen dicht geschlossen", dem Führer gefolgt, dabei scheinwissenschaftlich geleitet von Hochschullehrern, die später ebenfalls ihre Karriere unter dem Hakenkreuz nahtlos unter dem Grundgesetz fortgesetzt haben: LARENZ, FORSTHOFF, SCHWINGE ‑ und wie sie alle heißen, frei nach Schiller (Kraniche des Ibykus): "Wer kennt die Richter, nennt die Namen, die gastlich hier zusammenkamen?"

 

Dieser kollektive Abwehr‑ und Verdrängungsprozeß funktioniert auch noch heute, nachdem die Verfehlungen selbst mittlerweile Geschichte geworden sind. Man kann dazu schweigen oder wahrheitsgemäß berichten. Aber man darf auf keinen Fall durch Unterschlagen ganz wesentlicher Fakten falsch berichten. Genau das ist aber in dem in NJW 1994, 1050 veröffentlichten Nachruf geschehen. Er bestätigt damit die "Schande der bundesdeutschen Justiz" (PRANTL, Süddeutsche Zeitung vom 28. 7. 1994), die ihr Versagen bei der Verfolgung der NS‑Verbrechen neuerdings durch die Verfolgung ehemaliger DDR­-Politiker kompensiert, nachdem sie selbst vierzig Jahre lang abgewiegelt hat. Das Abwiegeln klappt noch immer, wie letztes Jahr die Behandlung der Judenverfolgung durch den Reichsfinanzhof gezeigt hat; die Akten darüber hält der Bundesfinanzhof vorsichtshalber unter Verschluß (KUMPF StuW 1994, 15 ff., 25).

 

Quelle: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider Neunkirchen in ZAP 1994, S. 921 f ("Schatten der Vergangenheit")