Juristische Selbstgefälligkeit
Jurisprudenz und Wissenschaft
Die Juristen reden von der
Jurisprudenz wie selbstverständlich als von einer Wissenschaft. Gerichte nehmen
für sich in Anspruch, wissenschaftlich zu arbeiten. Ist das berechtigt? Wie
verhält es sich damit?
Wissenschaft zeichnet sich
dadurch aus, daß sie nicht unmittelbar auf praktische Ziele hin orientiert ist,
sondern auf wahre Erkenntnis. Ihre Methoden und Voraussetzungen sind durch
reinen Erkenntniswillen gefordert und gelten kraft der Logik, weil sie der
geistigen Beherrschung des Gegebenen dienen (EISLER, Handwörterbuch der
Philosophie, 1913, S. 777).
Alle Wissenschaft bewegt sich
in Begriffen (NICOLAI HARTMANN, Das Problem des geistigen Seins, 1949, S. 26).
Damit diese übereinstimmend verwendbar sind, müssen sie definiert werden. Die
Väter des BGB waren dazu noch im Stande, ebenso anfangs das Reichsgericht. Der
Bundesgerichtshof ist es nicht mehr. Ein Beispiel statt beliebig vieler anderer
mag das verdeutlichen. Der Gesetzgeber der ZPO 2002 hatte eine Vorliebe für den
Begriff der "grundsätzlichen Bedeutung", von dessen Gegebensein unter
anderem die Zulassung der Revision abhängt (§§ 543, 544 ZPO). Um die vom
Bundesverfassungsgericht als Rechtsstaatsprinzip geforderte Rechtsklarheit zu gewährleisten,
müßte dieser Begriff definiert werden. Das schafft der Bundesgerichtshof nicht.
Zur Erbitterung der BGH‑Anwälte hat er diesen Begriff so vernebelt, daß
eine Vorhersage zur Zulässigkeit einer Revision rundweg ausgeschlossen ist.
Seine Ausführungen dazu sind unwissenschaftlich, weil sie nicht als wahr
bestätigt oder als unwahr widerlegt werden können. Das ist deshalb unmöglich,
weil es sich nur um eine Anhäufung beliebig zusammengestellter begründungsloser
Behauptungen handelt, nicht um eine Definition. nicht einmal um einen
Definitionsversuch. In jeder anderen Disziplin würde ein Wissenschaftler seinen
Ruf aufs Spiel setzen, wenn er so vorginge.
Gerichte sehen das allerdings
oft anders. Je höher die Instanz, umso überheblicher ist die
Selbstgefälligkeit, die sich darin äußert, daß man sich selbst anführt. ...
Oft ziehen sich solche
Selbstbelege über viele Zeilen hinweg. Die unteren Instanzen ahmen das nach.
Selbst erstinstanzliche Gerichte berufen sich manchmal auf ihre "ständige
Rechtsprechung", offenbar davon ausgehend, dies sei ein Wahrheitsbeweis.
Man stelle sich vor, ein Biologe oder ein Physiker oder ein Philosoph oder ein
anderer Wissenschaftler würde seine (echte) Theorie mit der treuherzigen
Versicherung beweisen wollen, das habe er schon immer gesagt, wie man in seinem
Buch nachlesen könne!
Wissenschaftliche Aussagen
(Hypothesen oder Theorien) müssen verifizierbar oder widerlegbar sein. Das kann
sich vollständig im Gedanklichen abspielen, etwa wenn eine mathematische
Aufgabe zu lösen ist. Im Realen kann der Erfolg oder Nichterfolg diese Prüfung
übernehmen. Wenn ein handwerklich einwandfrei gebautes Haus zusammenkracht,
stimmt seine statische Berechnung nicht. Im Rechtsbereich ist eine gedankliche
Widerlegung nur formal an Hand der Logik möglich. Eine Begründung, die gegen
den Satz vom Widerspruch verstößt, taugt nichts und ist auf keinen Fall
wissenschaftlich. Daneben ist nur eine Überprüfung an Hand des Rechtsgefühls
möglich. Die aber ist schon deshalb nicht wissenschaftlich, weil sie auf einer
subjektiven Wertung beruht.
Geht man davon aus, dann kann
der Jurisprudenz allenfalls in einem eng begrenzten Rahmen Wissenschaftlichkeit
zuerkannt werden. Sie ist dann in dem Bereich angesiedelt, der als Dogmatik
(juristische Glaubenslehre!) bezeichnet wird. Gerichtsentscheidungen sind
jedenfalls Einzelfallregelungen und keine wissenschaftlichen Leistungen, mögen
sie noch so gedankenreich und überzeugend sein. Daher ist es auch verfehlt, Seminarvorträge
von Bundesrichtern als wissenschaftliche Leistung anzusehen. Wer die
Rechtsprechung seines Senats referiert und Fragen dazu beantwortet, der unterrichtet,
aber er forscht nicht und erarbeitet keine neuen Erkenntnisse.
Machen wir uns also nichts
vor. Die Juristerei ist keine Wissenschaft. Die meisten Rechtsfälle lassen sich
ohne Gesetz nur nach dem Rechtsgefühl lösen. Wenn A dem B das Fahrrad klaut,
muß er es ihm wiedergeben. Das weiß jeder, ohne Jura studiert zu haben. Wir
Juristen benötigen dazu Anweisungen: § 985 BGB oder § 861 BGB, womöglich noch
unter Berücksichtigung zahlreicher Hilfsvorschriften wie § 1006 BGB oder § 858
BGB und so fort. Was hat das mit Wissenschaftlichkeit zu tun? Nichts, aber auch
gar nichts! Das gilt auch für kompliziertere Fälle. Wenn etwa der
Bundesgerichtshof nach hundert Jahren der BGB‑Gesellschaft die
Rechtsfähigkeit zuspricht (BGHZ 146, 34 1), dann geschieht das nicht aufgrund
irgendwelcher Forschungsergebnisse oder neuer soziologischer Erkenntnisse über
die Gesellschaftsstruktur, sondern weil es den Rechtsverkehr erleichtert. Und
wenn er behauptet, durch die Einführung der Rechtsbeschwerde (§ 574 ZPO) sei
die gewohnheitsrechtlich bestehende Ausnahmebeschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit
abgeschafft worden, dann zielt das darauf ab, ein Rechtsmittel auszuschalten.
Mit Wissenschaftlichkeit hat das nichts zu tun.
Wissenschaftliche Erkenntnis
muß eine allgemeingültig gesicherte Grundlage besitzen, sie muß auf nicht mehr
beweisbedürftigen Prämissen (Axiomen) beruhen. Die gibt es für die Jurisprudenz
nicht. Ihr Axiom ist die "Gerechtigkeit"; und die ist weder
definierbar noch besteht Übereinstimmung, darüber, was darunter zu verstehen
ist. Gegenstand der Jurisprudenz sind die Gesetze. Nur sind das im
wissenschaftlichen Sinne keine, sondern Zweckmäßigkeitsregeln, die der
Gesetzgeber formuliert hat und die er jederzeit ändern kann und auch ändert.
Von Allgemeingültigkeit kann beim besten Willen nicht gesprochen werden.
"Drei
Breitengrade werfen die ganze Jurisprudenz über den Haufen; ein Meridian
entscheidet über die Wahrheit.... Eine schöne Gerechtigkeit, deren Grenze ein Fluß
ist! Was auf dieser Seite der Pyrenäen Wahrheit ist, ist auf der anderen Seite
Irrtum" (PASCAL, Gedanken, Nr. 319).
"Die
Macht der Gesetze bleibt ja nicht deswegen unangetastet, weil sie gerecht,
sondern weil sie Gesetze sind. Dies ist das mythische Fundament ihrer
fortdauernden Geltung, ein anderes haben sie nicht" (MONTAIGNE, in: Justitias
Macht und Ohnmacht, Eichborn 2000, S. 60).
"Indem die Wissenschaft
das Zufällige zu ihrem Gegenstand macht, wird sie selbst zur Zufälligkeit; drei
berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur"
(J. v. KIRCHMANN, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848, S.
24).
Die
ZPO‑Reform 2002 hat das ungewollt deutlich gemacht. Was im Jahr 2002 als
"geltendes
Recht in Gesetzesform gefaßt
worden ist, wird im Jahr 2003 durch das Justizmodernisierungsgesetz (JuMoG)
schon wieder als untauglich verworfen. Ähnlich ist es dem Gesetz zur
Modernisierung des Schuldrechts ergangen.
Die Juristen neigen dazu, sich
der Einsicht fehlender Wissenschaftlichkeit zu verschließen und sie mit
geliehenen Begriffen vorzutäuschen. Sie nennen ihre Gedankengebilde
"Theorien", obwohl es sich dabei um nichts anderes handelt als um
"abweichende Meinungen". So ist etwa kontrovers, ob das Kriterium der
Enteignung die Schwere und Tragweite des Eingriffs, die ungleiche Belastung des
Einzelnen, die Zumutbarkeit, Schutzwürdigkeit, Zweckentfremdung oder der
Substanzverlust sei. Dementsprechend gibt es die "Schweretheorie",
die "Einzelakttheorie", die "Zumutbarkeitstheorie", die
"Schutzwürdigkeitstheorie", die "Privatnützigkeitstheorie"
und die "Substanzminderungstheorie" (Deutsches Rechts‑Lexikon,
3. Aufl., 2001, Bd. 1, Stichwort: Enteignung). Oder: Je nachdem, was in § 253
Abs. 2 Nr. 2 ZPO unter der "Angabe des Grundes verstanden wird, vertritt
einer die "Individualisierungstheorie" oder die
"Substantiierungstheorie" (ROSENBERG/SCHWAB/GOTTWALD, Zivilprozeßrecht,
15. Aufl., 1993, § 97 II 2 b).
Wirkliche Theorien erklären
Tatsachen durch eine methodische Ableitung aus einem einheitlichen Prinzip, aus
allgemeinen Gesetzen. Der Wert einer solchen Theorie besteht in ihrer Eignung
zur geistigen Beherrschung des Gegebenen (EISLER, a. a. 0., S. 676). Die
Juristen beherrschen das Gegebene, nicht aber das Sein, sie versuchen nur zu
regeln, wie man damit umgehen soll: Bei Rotlicht anhalten; Rechts hat Vorfahrt;
wer hilfsbedürftig ist, bekommt Prozeßkostenhilfe und so fort.
Seien wir also bescheiden!
Begnügen wir uns damit, typische Sachverhalte festzustellen, zu beschreiben und
mit gesundem Menschenverstand Regeln darüber aufzustellen und vorhandene Regeln
(Gesetze) sachgerecht anzuwenden. Nicht der "Wille des Gesetzes" (den
es nicht gibt), sondern der Wille zu einem als gerecht empfundenen Ergebnis ist
anzustreben. Dem sollte die Gesetzesauslegung dienen und nicht dem Erfinden
irgendwelcher neuer Gedankenspiele.
Quelle:
Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider, Much in ZAP vom 8.10.2003, S. 985 - 987