Humpel - Justiz
Die Hüter der Vergangenheit
Kelsen hat die
Rechtswissenschaft einmal bezeichnet als eine "dem Zentrum des Geistes
entlegene Provinz, die dem Fortschritt nur langsam nachzuhumpeln pflegt"
(Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. IV). Das gilt nicht nur für den
Gesetzgeber, sondern auch für die Rechtsprechung. Es beginnt schon im Studium.
Gelernt und geprüft wird Vergangenes ohne Zukunftsvision. Keine Methodenlehre,
keine Rechtsphilosophie und keine Psychologie, sondern Präjudizienkult. Diese
Geisteshaltung setzt sich in der Praxis fort. Als Urteilsbegründung reicht oft
der Hinweis aus "Wie der BGH bereits entschieden hat . . ."
Rechtsstreitigkeiten werden so nach einem Problembewußtsein von gestern gelöst.
Das ist intellektuell einfacher als sich dem gesellschaftlichen oder
rechtsethischen oder geänderten Erfahrungswissen zu stellen.
Es begann nach dem Krieg mit
der Renazifizierung statt der Entnazifizierung. Judiziert wurde weiterhin aus
dem Problembewußtsein der Zeit bis 1945. "Was damals Recht war, kann doch
heute nicht Unrecht sein." Die Frage, ob etwas damals wirklich Recht war,
wurde erst gar nicht gestellt. Das wäre allerdings für manchen Richter auch das
"Aus" gewesen! Erst spät hat der Bundesgerichtshof Farbe bekannt. In
einem Urteil vom 16. 11. 1995 (NJW 1996, 863 f.) hat er eingeräumt:
Richter der NS‑Justiz sind aufgrund der "überaus
einschränkenden Auslegung und Anwendung des § 336 StGB von der bundesdeutschen
Justiz nicht zur Verantwortung gezogen worden; sie waren teilweise sogar weiter
in der Justiz tätig, zuweilen konnten sie auch in Staatsämtern Karriere machen.
Hätte sich die Rechtsprechung schon damals bei der Prüfung richterlicher
Verantwortung für Todesurteile an Kriterien orientiert, wie sie der Senat in
seiner heutigen Entscheidung für Recht erkennt, hätte eine Vielzahl ehemaliger
NS‑Richter strafrechtlich wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit
Kapitalverbrechen zur Verantwortung gezogen werden müssen. . . . Darin, daß
dies nicht geschehen ist, liegt ein folgenschweres Versagen bundesdeutscher
Strafjustiz."
"Folgenschwer"?
Davon kann wohl keine Rede sein. Diese NS‑Richter haben sich aus
Altersgründen mit hohen Pensionen in den Ruhestand begeben, in dem sie niemand
gestört hat.
Noch lange in der
Nachkriegszeit wurde der gesellschaftliche Sinneswandel im Ehe‑ und Sexualrecht
ignoriert und sogar nachhaltig bekämpft. Trotz des geltenden Scheidungsrechts
verlautbarte der Bundesgerichtshof entgegen dem Gesetz, aber getreu dem
kanonischen Recht, die Ehe sei ihrem Wesen nach unauflösbar (BGHZ 18, 17).
Im Prozeßrecht wurde die
verfassungsrechtliche Feierabend‑Rechtsprechung lange verteidigt, wonach
die Einreichung eines Schriftsatzes verspätet war, wenn die Wachtmeister schon
nach Hause gegangen waren. Erst das Bundesverfassungsgericht hat ihr den
verdienten Garaus gemacht (BVerfGE 52, 208). Der Bundesgerichtshof mußte sich
in BVerfGE 54, 277 auch darüber belehren lassen, daß es von Verfassungs wegen
nicht zulässig ist, die Annahme hinreichend erfolgversprechender Revisionen
abzulehnen, wenn der zuständige Senat meinte, er könne sich sonst überarbeiten
(BGHZ 67, 308: nach § 554b ZPO liege es im Ermessen des Gerichts, seine
Arbeitsbelastung selbst zu steuern; siehe dazu Stein/Jonas/Schumann, ZPO, 20.
Aufl., 1980, Einleitung Rn. 516).
So ließen sich unschwer
weitere Beispiele bringen, in denen erst das Bundesverfassungsgericht den
Gerichten aller Instanzen beibringen mußte, nach welchem Problembewußtsein zu
entscheiden sei.
Bezeichnend ist auch die
bereits erwähnte Belegtechnik. Zitiert wird immer mit Blick auf die
Vergangenheit: "Wie schon das Reichsgericht ausgeführt hat . . ." ‑
"Wie der Senat bereits entschieden hat. . ." ‑ "Nach der
ständigen Rechtsprechung des Gerichts. . ." Neue Einsichten oder kritische
Stellungnahmen werden in die alten Belege gepreßt. Das ist das Prokrustesbett
der Judikatur!
Der Anwalt wird
haftungsrechtlich sogar gezwungen, sich konsequent an überholte Problemlösungen
zu halten, um sich nicht schadensersatzpflichtig zu machen. Dafür sorgt eine in
den Bereich der Gefährdungshaftung reichende Regreßrechtsprechung. Kreatives
Vorausdenken wird ihm als Mandatsverletzung angekreidet. Der "sicherste
Weg" ist immer nur die kritiklose Befolgung von Präjudizien, selbst wenn
sie unbefriedigend oder sogar eindeutig fehlerhaft sind: Der Anwalt ist
verpflichtet "für seinen Mandanten den größtmöglichen Vorteil im Prozeß zu
erreichen ... Davon kann auch dann keine Ausnahme gemacht werden, wenn er die
vom Gericht vertretene Meinung ... für unhaltbar hält und ihm darin an sich
recht zu geben ist" (BGH NJW 1974, 1866). ‑ Daß davon keine Ausnahme
gemacht werden "kann", ist eine reine petitio principii. Die Prämisse
ist offensichtlich falsch. Wenn der Fehler dem Gericht angelastet wird ‑
was gerecht wäre ‑, dann "kann" der Anwalt durchaus entlastet
werden!
Die erste Frage des Juristen
sollte nicht lauten müssen: "Wie hat der BGH oder sonst ein Gericht
entschieden?" oder "Was sagt der Palandt dazu?" Sie müßte lauten
"Wie ist nach Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) zu entscheiden?"
Das ist die tragende Basis der Argumentation und der Subsumtion. Eine
Rechtsprechung, die anders vorgeht, verbaut sich selbst den Weg zur
sachgerechten Lösung. Immer wieder ist das dem BGH widerfahren:
‑ Ablehnung einer rechtzeitig beantragten
Fristverlängerung nach Fristablauf, die bis 1982 in ungezählten Fällen zur
Verwerfung begründeter Rechtsmittel geführt hat (BGHZ 83, 217).
‑ Jahrzehntelange
Ablehnung der Ausnahmebeschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit (bis 1992:
BGH NJW 1993, 135 u. 1865).
‑ Ablehnung der
Ausnahmeberufung analog § 513 Abs. 2 ZPO (BGH NJW 1990, 838).
‑ Substantiierung des
Mahnantrages mit späterer Korrektur, die aber für viele Fälle zu spät kam
(ausführliche kritische Darstellung dazu bei Kathrin Maniak, Die
Verjährungsunterbrechung durch Zustellung eines Mahnbescheids im Mahnverfahren,
2000).
‑ Die Rechtsprechung zur
Erlaßfalle, die eine erfolgreiche Gaunerserie eingeleitet hatte und den BGH
wiederum zu einem Rückzieher genötigt hat (zuletzt NJW 2001, 2324 u. 2325).
Weitere Beispiele aufzuzählen,
erübrigt sich. Das Ergebnis ist immer fehlende Berechenbarkeit des Rechts im
Einzelfall; Zufallstreffer, je nachdem, welches Gericht zu entscheiden hat. Das
herauszufinden, mühen sich Anwälte begreiflicherweise sehr: Subsumtion per CD‑ROM.
Ist ein passendes Präjudiz zu finden? Mit Rechts"wissenschaft" hat
das nichts mehr zu tun.
Quelle: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider, Much -
in ZAP (Zeitschrift für die Anwaltspraxis) vom 20.2.2002, S. 195f