Die Heyde/Sawade-Affäre
Wie Juristen und Mediziner in Schleswig-Holstein
den NS-Euthanasiearzt Werner Heyde deckten und
straflos blieben
Dr. Klaus-Detlev Godau Schüttke, Richter am Landgericht, Itzehoe in
Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1994, S. 193 - 199 und 217 - 223
Hier ein Auszug: S. 198 f
Ca. 80.000 Psychiatriekranke waren der "Aktion T 4" zum Opfer
gefallen, für deren Tod Heyde als Hauptschuldiger zu
gelten hatte.
Die "Enttarnung" von Heyde/Sawade
In den Kleinstadtmilieus von
Flensburg (Wohnort von Heyde/Sawade)
und Schleswig (Sitz des Landessozialgerichts), wo die "Juristen‑ und Medizinerfamilie" nicht nur
dienstlich, sondern auch privat untereinander gesellschaftlich verkehrte, wo
demzufolge nichts Privates verborgen blieb und wo angesichts dieser
spezifischen Atmosphäre der gesellschaftliche Klatsch und die Weitergabe von
Gerüchten gepflegt wurden, konnte auch der Massenmörder Heyde/Sawade nicht lange anonym bleiben: Von Jahr zu Jahr "sickerte" in Flensburg "mehr und mehr" durch, "daß mit Dr. Sawade
etwas nicht in Ordnung sein könne" Es war "praktisch allgemein bekannt, insbesondere in ärztlichen Kreisen,
daß der Name Dr. Sawade ein Pseudonym" war. "Wenn der Name Sawade
genannt wurde, zwinkerte man mit den Augen und schwieg". (Aussage des
Prof. Dr. med. Hans Glatzel aus Flensburg vom
10.12.1959 vor dem Ersten Staatsanwalt Dr. Frohberg) Im Justizministerium
ging man davon aus, daß "die
Mehrzahl der Richter (der Sozialgerichtsbarkeit), aber insbesondere auch die Senatspräsidenten" zumindest "um die falsche Namensführung" wußten. Die Gerüchte um Dr. Sawade erstreckten sich auch darauf, daß er mit der "Euthanasie" im Dritten Reich
etwas zu tun gehabt habe.
Heyde/Sawade, der als unbekannter Arzt nach Flensburg gekommen
war und sodann ohne amtliche Überprüfung als gerichtlicher Sachverständiger
tätig wurde, sah sich erstmals 1955 der Gefahr seiner Aufdeckung ausgesetzt: Im
November 1955 forderte die schleswig‑holsteinische Ärztekammer Heyde/Sawade schriftlich auf, je
eine beglaubigte Abschrift seiner Bestallungs‑, Promotions‑ und
Facharztanerkennungsurkunde einzureichen. Dieses Schreiben schickte Heyde/Sawade im Original der
Ärztekammer mit dem Vermerk zurück, daß er keine Praxis ausübe. Hiermit gab
sich die Ärztekammer zufrieden und stellte keine weiteren Nachforschungen an.
Am 4. November 1959 ‑
als sich die Gerüchte um die Identität Heyde/Sawades immer mehr verdichteten ‑ forderte jedoch das
Flensburger Gesundheitsamt Heyde/Sawade
auf, seine Approbationsurkunde vorzulegen. Heyde/Sawade wurde durch diese Initiative des Gesundheitsamtes
stutzig und führte hinter den Kulissen diskrete Gespräche. Diese bestärkten ihn
in seiner Vermutung, daß seine Identität nunmehr amtlich bekannt geworden sei.
Er floh daraufhin am 5. November 1959 aus Flensburg und stellte sich
schließlich am 13. November 1959 bei
der Staatsanwaltschaft Frankfurt/ Main.
Die Flucht Heyde/Sawades aus Flensburg brachte auch den Leiter der dortigen
Staatsanwaltschaft, Oberstaatsanwalt B., in große Schwierigkeiten:
Oberstaatsanwalt B., dem nicht nachgewiesen werden konnte, daß er von der
Existenz Heyde/Sawades
schon vor dessen Flucht Kenntnis hatte, sah sich seitens der
Generalstaatsanwaltschaft und des schleswig‑holsteinischen
Justizministeriums folgenden Vorwürfen ausgesetzt:
Am 5. November 1959 um 16.30
Uhr ‑ Heyde/Sawade
hatte Flensburg allerdings bereits um 16.00 Uhr verlassen ‑ informierte
ein Kriminalbeamter vom Landeskriminalamt Kiel auftragsgemäß den
Oberstaatsanwalt B. in Gegenwart seines Ersten Staatsanwalts G., der vor 1945
als Gaurichter in Schleswig‑Holstein gewirkt hatte , über Dr. Sawade: Man vermute, daß dieser in Wirklichkeit "Heid" oder "Heyde" heiße
und daß er an der sog. Euthanasie führend beteiligt gewesen sei. Obwohl der
Kriminalbeamte den Oberstaatsanwalt wiederholt drängte, die Festnahme Heyde/Sawades zu veranlassen,
unterblieb diese. Oberstaatsanwalt B. war nach Beratung mit seinem Ersten
Staatsanwalt G. zu dem Entschluß gekommen, die Identität des Dr. Sawade mit Dr. Heyde sei noch
nicht hinreichend ermittelt worden. Der
Kriminalbeamte mußte daher unverrichteter Dinge wieder nach Kiel zurückkehren.
Nachdem Oberstaatsanwalt B. in
der Nacht vom 5. auf den 6. November 1959 die Angelegenheit nochmals überdacht
hatte, schickte er am 6. November 1959 morgens seinen Stellvertreter zum Landeskriminalamt
nach Kiel, wo dieser sich die unbearbeitete Sache Dr. Sawade
zurückgeben ließ zwecks weiterer Bearbeitung durch die Flensburger
Staatsanwaltschaft. Am 7. November 1959 stellte Oberstaatsanwalt B. dann
letztlich die Identität Dr. Sawades mit Dr. Heyde fest.
Das gegen den Chef der
Flensburger Staatsanwaltschaft eingeleitete strafrechtliche
Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Begünstigung im Amte wurde
eingestellt. Auch im Rahmen des gegen ihn eingeleiteten Dienststrafverfahrens
wurde er von allen Vorwürfen freigesprochen. In dem Urteil der
Dienststrafkammer vom 25. Januar 1961 heißt es: "Es ist auch nicht zu
verkennen, daß dem Beschuldigten am Abend des 5. November 1959 eine große Reihe
anderer Möglichkeiten zur Verfügung gestanden hätte, die in jeder Hinsicht
schwierige Sache Sawade/Heyde
einer schnellen Aufklärung zuzuführen und vielleicht schon sogleich Maßnahmen
in Richtung der Festnahme ... in die Wege zu leiten. Sicherlich bestanden
Möglichkeiten, gleich am Orte und zur Stunde durch örtliche Mittel Maßnahmen
zur Klärung der Person und möglicherweise Festnahme des Dr. Sawade
zu treffen. Allein wenn der Beschuldigte in Würdigung der Tatsache, wie sie
sich ihn nach den Angaben (des Kriminalbeamten) ... darstellten, erwogen hat,
daß einesteils der Gegenstand des Verdachts dringliche Maßnahmen nahelegte,
andererseits aber die Gefahr bestand, daß die Freiheit eines Menschen entgegen
den Prinzipien eines Rechtsstaates unberechtigt verletzt wurde, und danach zu
der von ihm getroffenen Maßnahme gelangt ist, so hält sich diese Entscheidung
im Rahmen des Ermessens, das ihm als Strafverfolgungsbeamten hinsichtlich der
Bearbeitung dieser außerordentlichen Sache zustand." Justizminister Leverenz ließ auf Anraten von Generalstaatsanwalt Nehm hiergegen keine Berufung einlegen. Dieser Schritt ist
nicht nachvollziehbar. Denn die Gründe der Dienststrafkammer waren durchaus
angreifbar. Oberstaatsanwalt B. war nämlich über die Person des Dr. Sawade allumfassend informiert worden, insbesondere über
seine Beteiligung an der sog. Euthanasie im Dritten Reich. Es galt daher, die
Festnahme eines Massenmörders zu veranlassen, der zudem aufgrund eines
Haftbefehls des Landgerichts Frankfurt am Main seit den 50 er Jahren sowohl im
Fahndungsbuch als auch im Bundeskriminalblatt zur Verhaftung ausgeschrieben
war.
Heyde/Sawade, der sich seit seiner freiwilligen Gestellung bei
der Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main in Untersuchungshaft befand, nahm sich am
13. Februar 1964 in seiner Zelle das Leben.
Vor seinem Selbstmord verfaßte er einen Abschiedsbrief. Zu seiner
Vergangenheit führte er aus: "Ich
habe mich zur Euthanasie nicht gedrängt. Den in den Anfangsbesprechungen
versammelten Professoren, Anstaltsdirektoren . . . wurde klar, daß die Euth(anasie) so oder so durchgeführt
werden würde. Niemals, das
versichere ich feierlich angesichts des Todes, handelte es sich für uns beteiligten
Ärzte um die Beseitigung unnützer Esser, wie man es jetzt darzustellen beliebt,
niemals auch nur um lebensunwertes Leben . . ., sondern um sinnloses Dasein von
Wesen, die wie bei der von mir nicht zu vertretenden Kindereuthanasie entweder
nie Menschen werden konnten oder denen wie bei den Erwachsenen das spezifisch
Menschliche unwiederbringlich verloren gegangen war und die ... oft genug unter unwürdigen Bedingungen ihr Dasein
fristeten." Schuldgefühle plagten Heyde/Sawade wegen seiner Taten damit nicht.
Anmerkung: Der oben genannte Erste Staatsanwalt Dr. Froberg wurde später
Leitender Oberstaatsanwalt in Lübeck. Der weiterhin oben genannte Generalstaatsanwalt
Nehm ist der Vater des späteren Generalbundesanwalts
K. Nehm.